Eine Reise nach gestern

Über eine Mundarttagung in Schlesien zum Hundertsten eines Dichters

Angereist waren aus ganz Westdeutschland insgesamt über 60 Senior/inne/en von 60 bis 92 und aus Görlitz ein uns befreundeter, frühpensionierter Lehrer, der Wege zu einer deutsch-polnischen Verständigung sucht. Dann ein jüngerer Tierarzt aus Bayern. Er besitzt im polnischen Schlesien ein Haus, erworben über einen polnischen Strohmann („Wir müssen uns Schlesien zurückkaufen…“). Seine Frau spannte bei jedem Wetter ihren Regenschirm auf. Der trug das Schlesieremblem und eine entsprechende Aufschrift. Ferner: ein Gärtnermeister, Bauernsöhne und -töchter, Handwerker, Beamte, Lehrer, Lehrerinnen, ein Professor, ein Sänger und Komponist, Ehefrauen… Es waren zwei Mundartgruppen und dazu noch etwa 15 in Polen lebende, zumeist mit Pol/inn/en verheiratete Deutsche eines deutschen Freundeskreises.
Sie alle haben sich der Pflege schlesischen Brauchtums, besonders der alten Sprache, verschrieben und verehren

opa AusschnittErnst Schenke im Alter von ca. 85.
Foto © Dietrich Stahlbaum (um 1980)

Ernst Schenke als ihren Dichter. In seinen Gedichten, Stücken und Geschichten erkennen sie sich wieder. Es ist die Welt der „kleinen Leute“, ihrer Kindheit, die Schönheit ihrer Landschaft. Es ist ihre Sprache.  Ernst Schenke hat ihnen die schlesische Mundart, die bislang fast ausschließlich mündlich überliefert wurde, auch lesbar gemacht, gemeinsam mit seiner Frau. Texte von ihm befanden sich in nahezu allen Schulbüchern Schlesiens. Er hatte als Kind unter dem Schneidertisch seines Vaters gehockt und den Gesprächen und Geschichten, die man sich da, selten einmal in Hochdeutsch, erzählte, gelauscht und früh zu schreiben begonnen, mit großem Erfolg, auch für den Breslauer Rundfunk, wo er jede Woche las.

Meine Frau und ich waren ein paar Tage früher gestartet. Wir haben Weimar und Bautzen gesehen und haben bis zum Beginn der Tagung im ehemaligen Elternhaus meiner Frau am Zobten (718rn) polnische Gastfreundschaft erleben können; in dem Haus, in dem Ernst Schenke gelebt und gearbeitet hat. Es gehört seit den fünfziger Jahren einem – ebenfalls vertriebenen – Polen aus der Ukraine. Er hat das Haus restauriert und ausgebaut. Dann zogen wir um auf die andere Seite des Zobten in ein Schloß, das einstmals zu einer Abtei ausgebaut worden war, zuletzt als Bergmannsheim gedient hatte und nun Hotelgäste bewirtet. Hier fand die Tagung statt: Lesungen, auch von Teilnehmertexten, Gespräche und Gesang vertonter Gedichte etc. Eine Rundfahrt in einem polnischen Bus u. a. nach Nimptsch, zu Ernst Schenkes Geburtsort. Dort wurde am Rathaus eine Gedenktafel (in polnisch und deutsch) eingeweiht, in Anwesenheit des Bürgermeisters und der Kulturbeauftragten von Nimptsch, die beim anschließenden Empfang meiner Frau ein T-shirt überreichte, mit einem Aufdruck der grünen Mehrheitsfraktion!
Man hatte das Geburtsregister von 1896 herausgesucht und die Seite mit dem Eintrag des Geehrten aufgeschlagen. Danach Gottesdienst in der Friedenskirche von Schweidnitz mit der Predigt eines polnischen Pfarrers, auf deutsch. Den Gestrigen mißfiel sie. Sie handelte vom Verlust und vom Verlieren-können-müssen. Am Sonntag Morgenandacht und Besteigung des Zobten.
Meine Frau hatte Befürchtungen, diese Tagung könnte für eine Politik, die ihr Vater stets abgelehnt hat, mißbraucht werden, und hatte dazu in einem Brief vorbeugend Stellung bezogen. Auch ich hatte für den Fall der Fälle ein Papier vorbereitet und dann doch darauf verzichtet, es zu verteilen, weil ich einsehen mußte, daß die Gestrigen es geblieben wären. Viele von ihnen hatten Schlimmes bei der Vertreibung erlebt. Jetzt sahen sie die Ruinen ihrer Elternhäuser oder gar nichts mehr davon. Überall Verfall. Aber auch Wiederaufbau, Restaurierung, Neues.

Da kam so manches hoch und kochte über. Es wurde, als wir an den Resten eines Landgutes vorüberfuhren, stolz daran erinnert, daß dies der Geburtsort des „höchstdekorierten Offiziers der deutschen Wehrmacht“ gewesen ist (Generaloberst Rudel!). In Kreisau, wo von 1933-44 der Widerstandskreis der Grafen Moltke sich getroffen hatte, blieb ein Teil der Leute im Bus sitzen: aus Protest! Hier entsteht eine polnisch-deutsche Jugendbegegnungsstätte. Der Gärtnermeister versuchte, einem deutschen Zivi einzureden, daß hier zuerst einmal die Geschichte Schlesiens als Bestandteil Deutschlands und die Vertreibung (der Deutschen natürlich) aufgearbeitet werden müßte. (Die meisten der in Schlesien angesiedelten Pol/inn/en, bzw. deren Eltern, sind ebenfalls vertrieben worden: aus der Ukraine – von den Sowjets!) Die Gruppenveranstaltungen blieben der Mundart vorbehalten und von solchen Äußerungen verschont.
Unser Görlitzer Freund – er hatte einen besonders aggressiven Polenfeind als Zimmergenossen – mußte die Erfahrung machen, daß er sich auf einem Weg befand, auf dem wir Deutschen uns nicht einmal über unsere eigene Geschichte verständigen können. Die Wege zum Gipfel des Zobten sind steinig, aber begehbar. Dieser Weg führte zu keinem Gipfel.

Dietrich Stahlbaum

[WAZ und Recklinghäuser Zeitung, 24. 05. 1996]

Wie nicht anders zu erwarten: Der Bericht hat in Vertriebenenkreisen wie eine Bombe eingeschlagen und zu lebhaften Diskussionen geführt. Die Reaktionen vorausahnend, habe ich das Missfallen darüber, dass die

Schenke-Gedenktafel

Gedenktafel

auch einen polnischen Text hat, gar nicht erst erwähnt. Heute arbeiten deutsche und polnische Historiker gemeinsam deutsch-polnische Geschichte auf. dst.

Geschichtsauffassungen

Wenn die neuen Historiker-Generationen sich von der einseitigen Geschichtsbetrachtung abwenden, sie durch (Sich) Hineinversetzen und Respektieren ersetzen, wenn sie die Geschehnisse vergangener Zeiten nicht verurteilen“, sondern sie beurteilen, wenn sie die Vergangenheit in ihrer multikausalen Komplexität erforschen, sie erlebbar, nachvollziehbar und dadurch auch verstehbar machen, dann kann ich solch eine ganzheitliche Gesichtsauffassung nur begrüßen.
Wer auf diese Weise Geschichte und ihre Akteure verstehen lernt, die Zusammenhänge, Beweggründe, Umstände und Voraussetzungen, die vielfachen Relationen, der wird auch gegenwärtiges Geschehen aus seinen historischen Bedingungen begreifen und daher besser einschätzen können, während durch Schwarzweißmalerei und Verteufelung oder Heroisierung die Sicht verengt wird. Verstehen muss nicht rechtfertigen und entschuldigen heißen.

Geschichtsbewusstsein: ja! Die Wunden am Schwären halten: nein! schrieb ich vor ein paar Jahren, als mir klar wurde, dass durch Kultivierung und Instrumentalisierung von kollektiven Traumata und durch permanente Schuldzuweisungen keine Friedensfähigkeit entwickelt werden kann, denn sie enthalten bereits im Keim neue Konflikte, Gewalt, Krieg, neues Elend, neues Leid.

Das Nationalmuseum (Metapher für Geschichte) als Ort des Erinnerns und des Nachdenkens. Wir erfahren im Nationalmuseum aber nicht, wie wir die gegenwärtigen und künftigen Probleme (neoliberale, neokolonialistische Globalisierung, Hightech, Massenarbeitslosigkeit, Ressourcenverknappung, Klimaerwärmung, Verwüstung, Artensterben: drohender Ökokollaps, Nord-Südkonflikt und Verelendung ganzer Weltregionen…) konkret lösen können. Einstein([aus dem Gedächtnis zitiert): Mit den Methoden von gestern können wir die heutigen Probleme nicht lösen.

Auch wenn man quer durch die Geschichte nach den Ursachen eines Konfliktes, eines Krieges, eines Menschheitsverbrechens sucht, müssen alle Aspekte berücksichtigt werden, alle Faktoren, die dazu geführt haben. Es war ein langer Weg des Judenhasses zum Holocaust. Ein mehr als zweitausend Jahre langer Weg. Fallersleben hat an diesem Weg gestanden, – nicht als Zuschauer. Das muss man, wenn es zutrifft, wohl erwähnen. Die Frage nach den Gründen stellt und beantwortet dann der Historiker. Wir danken`s ihm.
Trotzdem bleibt für mich sein Lied der Deutschen inakzeptabel. Ich könnte es nicht singen, ohne dabei an die erste Strophe zu denken. Die habe ich noch im Ohr. Oder an den Trinkspruch „Stoßet an und ruft einstimmig: Hoch das deutsche Vaterland!“

Meine Generation ist den damaligen Ereignissen näher als du. Umso subjektiver ist die Wahrnehmung meiner Generation, der Karlheinz Deschner angehört, einer Kriegs-, einer betrogenen Generation. Er ist, geboren 1924, knapp zweieinhalb Jahre älter als ich. Er hat das Verdrängen und Verschweigen der Nazizeit in der Adenauer-Ära miterlebt und dagegen angeschrieben. Er hat nach den Ursachen des Faschismus gefragt und geforscht und ist dabei auf Ungeheures gestoßen. Zum Beispiel auf die Rolle der kroatischen und katholisch-faschistischen Ustascha-Partei und ihres Anführers Ante Pavelic, eine Geschichte der Gräuel, die auf dem Balkan bis in die Gegenwart hineinwirkt. Sie wird im übrigen Europa, besonders in Deutschland und Italien, aus machtpolitischen Gründen ignoriert.
Deschner und andere Nachkriegsautoren haben in ihrer unmittelbaren Betroffenheit politisch und ethisch motiviert gegen den damaligen Zeitgeist angeschrieben und publiziert, während eine ganze Nation sich einer kritischen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit verweigert hat. Das hat ihren Stil geprägt, bei Deschner bis heute. Sollte ein jüngerer Historiker sich nicht auch in die ältere Historikergeneration hineinversetzen und sie respektieren können?

Darauf wendest du ein: „(…) Denn gerade die von dir zitierte Einsteinsche Äußerung:  ´Mit den Methoden von gestern können wir die heutigen Probleme nicht lösen…`  finde ich (…) total falsch – zumindest was die Geschichte anbelangt. Es gibt unendlich viele Beispiele, in denen eben die ´Methoden von gestern` den Weg in die Zukunft gewiesen haben, nachdem man für viele Jahre einen falschen Weg beschritten hat. (…) Die Methoden von gestern werden als Möglichkeit gesehen, die Probleme von morgen zu lösen.“  Und du bringst eine Reihe von Beispielen, die mich überzeugen. Denn es folgt ein Satz, der verdeutlicht, wie das verstanden werden soll: „…wir (dürfen) zwischen »Heute« und »Gestern« keine festen Grenzen ziehen.“

Dies entspricht der aperspektivischen Sichtweise, an die ich mich jetzt wieder erinnere:
„Der Ursprung ist immer gegenwärtig. Er ist kein Anfang, denn aller Anfang ist zeitgebunden. Und die Gegenwart ist nicht das bloße Jetzt, das Heute oder der Augenblick. Sie ist nicht ein Zeitteil, sondern eine ganzheitliche Leistung, und damit auch immer ursprünglich. Wer es vermag, Ursprung und Gegenwart als Ganzheit zu Wirkung und Wirklichkeit zu bringen, sie zu konkretisieren, der überwindet Anfang und Ende und die bloß heutige Zeit.“
Jean Gebser (1905-73), aus dem Vorwort zu Ursprung und Gegenwart, DVA, 1949

Eine integrale Weltsicht, die Gebser der Kernphysik und dem Zen-Buddhismus verdankt.

Nun noch zu den „schwärenden Wunden“:
Du fragst und meinst: „Ist es eben nicht das ´Am-Schwären-Halten`, wenn man bei unserer heutigen Nationalhymne (die nun einmal NICHT die erste, sondern die dritte Strophe umfaßt) an das »Damals« denkt und der Generation, die sich (…) vielleicht auf ihre ganz eigene Art und Weise mit dem Inhalt identifizieren kann, mit dem erhobenen Finger kommt und sagt: ´Aber!…`“
Nein, es sind keine Wunden, die „am Schwären gehalten“ werden, keine schwärenden Wunden, sondern Narben; sie erinnern mich wie die Narben von der Verwundung durch Splitter einer britischen Eierhandgranate, die mir im Dezember 44 um die Ohren geflogen sind, an eine Zeit, in der viele meiner Generation ihre Irrtümer bitter bezahlt haben. Der Ausspruch gegen das „Am-Schwären-Halten“ war aber an einen von Deschners Mitautoren gerichtet.

[Aus einer Foren-Diskussion um 2003]

Die Welt wird nicht mehr als ein Ganzes wahrgenommen,

sondern als ein zerbrochener Spiegel, dessen Scherben uns in unendlicher Zahl fortwährend und immer schneller vor die Füße geworfen werden.
Deshalb sollten wir öfters die Zeit anhalten, um zu meditieren, nachzudenken oder einfach die schönen Seiten des Lebens zu sehen, zum Beispiel jetzt die Frühlingsblumen, oder um Gedichte zu lesen, Musik zu hören, Bilder zu betrachten und nachzuempfinden, was andere Menschen bewegt.

Historiografie, Geschichtsschreibung,

ist nicht objektiv, kann es nicht sein. Denn schon die Auswahl der Fakten, der Ereignisse, der „nackten Tatsachen“, deren Einordnung und Beschreibung, der Duktus, die Art und Weise der Beschreibung, werden, falls überhaupt, nicht allein von wissenschaftlichen Interessen bestimmt, sondern viel mehr noch von politischen und das sind zumeist Machtinteressen, Herrschaftsinteressen, aber auch vom Interesse an humanistischer Aufklärung, mithin von ethischen Interessen. Es sind also (systemkonformes oder systemkritisches) Bewusstsein und unbewusste (tiefenpsychische) Faktoren, die Zielsetzung und (historische) Wahrnehmung und das, was dabei herauskommt und dann in unseren Schulbüchern steht oder an den Hochschulen gelehrt wird, bestimmen. Kurz: Der Blickwinkel des Historikers entscheidet über das, was er sieht, beschreibt, beurteilt.
Deshalb erscheinen uns die „Geschichten der Geschichte“ voller Widersprüche. Das ist bei Alltagsereignissen, die Menschen unmittelbar erleben und in Aufregung versetzen, bei Straftaten oder Unfällen zum Beispiel, selten anders. Solcher Zeitzeugen bedienen sich auch die Historiker, die dann aus den verschiedensten Quellen „die Wahrheit“ herauszufischen versuchen oder sie bewusst und im Interesse ihrer Dienstherren verfälschen.

Mein Eindruck ist: Unter der jungen Historiker-Generation macht sich der Hang zu Konformität, Anpassung und Dienstwilligkeit bemerkbar. Eine Mentalität, die der geistigen Verfassung und dem Sozialverhalten in unserer Gesellschaft entspricht. Symptom der Angst um den Verlust des (gegenwärtigen oder künftigen) Arbeitsplatzes, der Anerkennung, und bei jungen Wissenschaftlern besonders die Angst, sich die eigene Karriere durch „zu viel Kritik“ zu verbauen.
Kritische Geschichtsforschung und –schreibung werden daher zu ideologischem Machwerk erklärt und unter dem Vorwand vermeintlicher Objektivität samt der 68er Bewegung in den Orkus geschickt oder in den Lokus gekippt. Die Kirche setzte die Schriften ihrer Kritiker auf den Index und verbrannte deren Bücher.

Zum Hundertsten von Franz Josef Strauß ein bisher unveröffentlichtes Gedicht

Dietrich Stahlbaum

Das Gastgeschenk des F. J. S.

Er schenkte dem Präsidenten einen Penis aus Stahl,
einem Diktator, der sein Volk unterdrückt.
Das Gastgeschenk des Besuchers, zumal
made in west germany, hat diesen beglückt.
Und so ließ sich der Pilger aus Bayern
(„privat“, versteht sich) wieder einmal
von einem Tyrannen feiern.

„Ein simpler Vorgang“ verlautbarte seine Kanzlei,
weil es Brauch und „Gebot der Höflichkeit“ sei,
seinen Gastgeber zu beschenken.
Die Pistole, eine Waffe der Polizei,
soll dem Präsidenten der Philippinen
zur Bereicherung seiner Sammlung dienen.
Man habe da keine Bedenken.
Dies gehöre zum guten Ton.
Welcher Gernegroß möchte schon
einen Despoten kränken?!

(1983)

Zweimal Bundesminister, dann Ministerpräsident von Bayern, war F. J. S. Mitbegründer und von 1961 an auch Vorsitzender einer Christlich Sozialen Union, bekannter unter dem Kürzel CSU.
Der philippinische Präsident hieß F. E. Marcos, abgeleitet von Markus, dem Evangelisten!

Verstehen, um zu verändern. Die Kriegsgeneration des Günter Grass im Zeitzeugenstand

Günter Grass muss geahnt haben, welche Lawine er lostritt, wenn er sein letztes Geheimnis preisgibt. Deshalb kam sein Eingeständnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, so spät. 60 Jahre lang Scham und Angst. Mit diesem Wissen, das sein Gewissen so lange belastet hat, saß er 1983 neben Heinrich Böll, Oskar Lafontaine, Walter Jens, Petra Kelly und mehreren tausend anderen in Mutlangen auf der Straße und blockierte den Zugang zum US-Camp, um gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen zu demonstrieren, bis die Polizei ihn wegtrug. Mit diesem Wissen hat er sich mit Wort und Tat für eine friedliche Lösung des Ost-West-Konflikts und für eine deutsch-polnische Partnerschaft eingesetzt.

Nun fällt man über ihn her – mit derselben Selbstgerechtigkeit, die man ihm vorwirft, und verschweigt, dass die Division, zu der Grass kurz vor Kriegsende einberufen worden war, nur noch ein eilig zusammengetrommelter Haufen zumeist versprengter Wehrmachtsoldaten und frisch eingezogener Sechzehn-/Siebzehnjähriger war, die, in Waffen-SS-Uniformen gesteckt, an der zerbröckelnden Ostfront „verheizt“ werden sollten und wurden.

Zwei wesentliche, aktuelle Fragen aber, die sich Grass und seiner Kriegsgeneration stellen, werden geflissentlich übergangen:

1. Warum sind besonders junge Menschen in totalitären Systemen leicht verführbar?
2. Woher kommt die Begeisterung für alles Militärische?

Zwar können diese Fragen hier nicht erschöpfend beantwortet werden: sie sind vielschichtig und komplex; aber ich kann vielleicht aus eigenem Erleben und Erfahren dazu beitragen, dass sie beachtet werden. Denn Verhaltensweisen, die wir missbilligen, lassen sich nicht durch öffentliche Empörung und moralische Appelle aus der Welt schaffen, sondern dazu müssen wir zuerst einmal die jeweils äußeren Umstände und die inneren Beweggründe kennen und verstehen.

Autoritärer Geist

Verhaltensprägend sind, wenn nicht später kritisch reflektiert, Kindheitserlebnisse und -erfahrungen. So herrschte in der „Kaiserzeit“ ein patriarchalisch-autoritärer Geist mit militaristischer Ideologie und Erziehung. Dies hat junge Männer derart geprägt, dass sie in der Weimarer Republik Pazifismus und Demokratie nicht verinnerlichen konnten. Deshalb wurden viele von ihnen Nazis aus Überzeugung wie mein Vater, der 1920 am Kapp-Putsch beteiligt war und 1933 die Hitlerfahne schwenkte. Dementsprechend erzog er seinen Sohn: in preußischem Geist deutsch-nationalistisch.

Patriarchalische Vorbilder

Vorbilder meiner Generation waren in Filmen, Geschichtsbüchern, im Schulunterricht und bei der „Hitlerjugend“ Feldmarschälle, Generäle und andere Soldaten, die als Kriegshelden zu verehren waren.

Pubertäres

Wie schon unsere Großväter sangen wir Pimpfe: „Frischauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd, ins Feld, in die Freiheit gezogen! Im Felde, da ist der Mann noch was wert, da wird ihm sein Herz erst gewogen…“ „Krieg ist der Vater aller Dinge“, hieß es damals.

Kriegsspiele

Wie Generationen vor uns spielten wir mit Holzschwertern, Pfeil und Bogen, Bleisoldaten, Zinnsoldaten Krieg. Später ließen wir die Deutsche Wehrmacht in originalgetreuer Nachbildung in unserm Kinderzimmer aufmarschieren, veranstalteten Luftkämpfe und Seeschlachten. Bei den Pimpfen begann eine vormilitärische Ausbildung: Geländekunde und –sport. Bei der „Hitlerjugend“ lernten wir Segeln, Segelfliegen, Motorradfahren im Gelände und Schießen (Kleinkalibergewehr, -pistole). Unsere militärische Grundausbildung war nahezu abgeschlossen, als wir einberufen wurden.

Faszination der Kriegstechnik

Bei Militärparaden, Flug-, Flotten- und Truppenschauen wurde die neuste Militärtechnik gezeigt und bei Manövern vorgeführt. Das hat uns fasziniert.

Pseudoreligiöser Heldenkult

Im Zweiten Weltkrieg wurden junge, hochdekorierte Offiziere zu uns in die Schule und zum HJ-Dienst geschickt. Wer wie ich schon zuhause vorprogrammiert war, ließ sich begeistern und eiferte ihnen nach. Der Soldatentod wurde zum „Heldentod“ umgemünzt. (Islamistische Selbstmordattentäter glauben an ein Jungfrauenparadies.)

Ich erinnere mich an eine junge Baroness, die HJ-Führer auf das Rittergut ihrer Schwiegereltern eingeladen hatte, um den „Heldentod“ ihres Mannes zu feiern. Ein Leutnant war es gewesen, kaum viel älter als wir, ein ehemaliger Mitschüler, ein paar Klassen über uns. Die junge Soldatenwitwe führte uns zu einem eigens für diese Feier errichteten Hausaltar, und stolz zeigte sie uns alles, was sich darauf befand: Briefe, Fotos, Uniformstücke und Orden. „Er ist für den Führer gefallen“, sagte sie. Der Stolz hatte ihre Trauer verdrängt. Mich hat dieses Erlebnis in meinem Glauben an „Führer, Volk und Vaterland“ bestärkt.
„Jeder Soldat hat den Marschallstab im Tornister“
„Jeder Soldat hat den Marschallstab im Tornister“, sagte man uns. Ich konnte nicht früh genug Soldat werden, um eine Offizierskarriere anzustreben. Zum 1. Juli 44 wurde ich, 17 Jahre alt, einberufen.

Erst nach 45 wurde ich über den Faschismus gründlich aufgeklärt und wendete mich davon ab, nicht aber vom Militarismus. Das Soldatentum hatte ich noch in den Knochen. Der Traum von der Offizierskarriere war ja nicht realisiert worden. Deshalb konnte ein ziviler Beruf, den ich erlernte, mich nicht befriedigen, und so hielt mich nichts davon ab, nochmals Soldat zu werden: Fremdenlegionär (1949-54).

Das Herrschaftsprinzip

Das Herrschaftsprinzip (Befehl-und-Gehorsam – gehorchen und kommandieren) ist der unbewusste Motor, der, neben äußeren Gründen, auch heute junge Männer in die Armeen treibt. Wie groß die Gehorsams- und Gewaltbereitschaft und wie niedrig die moralischen Schranken sind, hat das Milgram-Experiment gezeigt. (Im Internet bei Wikipedia)
Solche subjektiven Faktoren sollten in die Friedensarbeit einbezogen werden.

Dietrich Stahlbaum

Literatur: Dietrich Stahlbaum: Der Ritt auf dem Ochsen oder Auch Moskitos töten wir nicht, Aachen 2000. Ein zeitdokumentarischer, pazifistischer Roman. Und: Der kleine Mann. Geschichten, Satiren, Reportagen, Recklinghausen 2005.

[In: ZivilCourage Nr. 4 – September/Oktober 2006]

Agnes Miegel, Ernst Schenke und der Nationalsozialismus

Kommentar zu einem Bericht in den Ruhrnachrichten vom 15. 07. 11 *) über die beantragte Namensänderung des Agnes-Miegel-Weges in Olfen:

Ich war von 1938 bis 1944 Schüler einer Agnes-Miegel-Schule in Ostpreußen und habe nationalsozialistische Indoktrination auch im Unterricht erfahren. Dabei spielte das Werk der deutsch-völkischen Dichterin keine geringe Rolle. Sie selber ließ sich bei einem Besuch als Patin unserer Schule feiern – von uns Pimpfen in Uniform, von den Lehrern und Lehrerinnen, samt „Direx“, ebenfalls in Uniform, war er doch zugleich der Ortsgruppenleiter, oberster NSDAP-Chef unserer kleinen Stadt.
Ostpreußen war eine Nazihochburg, trotz des großen Königsbergers, der uns allen nahegelegt hat, „sich des eigenen Verstandes zu bedienen“: Immanuel Kant. Von ihm war in unserer Schule keine Rede.

Ob Naivität oder Kalkül, da Agnes Miegel auch nach 1945 die nötige Einsicht gefehlt hat („Dies habe ich mit meinem Gott alleine abzumachen und mit niemand sonst.“) sind die Ehrungen, die ihr nach dem Zusammenbruch des Naziregimes zuteil wurden, unangemessen. Das heißt noch lange nicht, ihre Werke sollten als „entartet“ bezeichnet und verbrannt werden. Dies haben die Nazis getan, z. B. mit den Büchern eines deutschen Dichters, der 1821 schrieb: «Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.» – : Heinrich Heine.

Zitat aus seiner Tragödie Almansor, die von einer Verbrennung des Korans während der Eroberung des spanischen Granada durch christliche Ritter handelt (!).

Übrigens wurde 2010 eine Agnes-Miegel-Schule in Wilhelmshaven in Marion-Dönhoff-Schule umbenannt. –

Ostpreußen ist zwar eine Nazihochburg gewesen, wie andere, vor allem ostdeutsche Grenzregionen auch; dennoch gab es hier Menschen, die den Durchblick und den Mut hatten, das Naziregime, wenn auch vergeblich, zu bekämpfen, wie – Marion Dönhoff. Sie gehörte zum Kreis des Widerstandes vom 20. Juli 1944. Andere, Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller, die das Regime abgelehnt haben und nicht auswandern wollten oder konnten, sind in die „Innere Emigration“ gegangen, wie mein Schwiegervater Ernst Schenke, der bekannteste schlesische Heimatdichter und Redakteur einer Breslauer Zeitung. Er entzog sich der NS-Bevormundung und –bespitzelung durch Umzug mit seiner Familie in ein Dorf am Zobten, wo Paul Löbe, Sozialdemokrat und vor 33 Reichstagspräsident, versteckt wurde.

Ernst Schenke im Alter von ca. 85. In Münster ist nach ihm eine Straße benannt. Foto © Dietrich Stahlbaum (um 1980)
Ernst Schenke im Alter von ca. 85. In Münster ist nach ihm eine Straße benannt.
Foto © Dietrich Stahlbaum (um 1980)

Auch die Schenkes lebten in ständiger Angst vor den Rassisten, denn meine Schwiegermutter, eine Waise, konnte den „arischen Nachweis“ nicht erbringen. Sie hatte, was ihre Herkunft aus Galizien und ihr Mädchenname vermuten ließen, jüdische Eltern oder einen jüdischen Vater.
Sollte Agnes Miegel nichts von solchen Tatsachen gewusst oder nach 45 erfahren haben?

*) → http://www.recklinghaeuser-zeitung.de/nachrichten/region/Noch-keine-Entscheidung-zum-Agnes-Miegel-Weg;art999,512216

Von blog.de (18. 07. 2011) übernommen.

„Späte Einsicht“. Leserbrief zu einem Zeitungskommentar zum Afghanistankrieg

…an das Medienhaus Bauer, Marl, zu: „Ein schrecklicher Irrtum“ (Klaus Bölling) vom 12. September 2013

Klaus Bölling meint den nach seiner Einschätzung „heute schon verlorenen Krieg am Hindukusch“ und erinnert an Vietnam. Eine späte Einsicht. Ich hatte 1982 Gelegenheit, einen jungen afghanischen Lehrer kurz nach seiner dramatischen Flucht mit Frau und Kind aus Kabul zu interviewen. *)

Familie Nima in Bochum. Foto © Dietrich Stahlbaum 1982
Familie Nima in Bochum. Foto © Dietrich Stahlbaum 1982

Durch seinen Bericht über die Hintergründe des sowjetischen Einmarsches, über die Geschichte seines Landes, über die Bevölkerung und den Widerstand wird klar, weshalb alle Versuche fremder Mächte, in Afghanistan Fuß zu fassen, gescheitert sind und scheitern werden:
Der größere Teil der Bevölkerung Afghanistans sind Bergvölker, in Lebensverhältnissen, die den abendländischen im frühen Mittelalter entsprechen, mit patriarchalischen Stammeskulturen und dementsprechenden Auffassungen. Es sind Gewaltverhältnisse, die in Europa über den 30-jährigen Krieg hinaus bestanden und erst durch die bürgerlichen Revolutionen [Ende 18./19. Jh.] beendet wurden und durch andere Gewaltverhältnisse abgelöst worden sind. Zu glauben, den Afghanen gelänge das, was uns Europäern misslungen ist: ein Evolutionssprung über mehrere Jahrhunderte, ist pure Illusion. Circa 70% sind Analphabeten, bei den Frauen sollen es mehr als 95% sein!
Kabul repräsentiert nicht Afghanistan, sondern ist/war Hochburg einer kleinen bürgerlichen Schicht, im Westen, zum Teil in Deutschland ausgebildeter Wissenschaftler, kritischer Intellektueller und mehr oder minder korrupter Militärs.
„Afghanistan hat feudale S t r u k t u r e n. Damit meine ich die Stammesstrukturen des Landes. Es ist ein Vielstämmestaat. Es gibt eine Vielzahl autonomer Stämme in Afghanistan. Unter diesen Stämmen gab es gute Beziehungen, manchmal auch Streitigkeiten. Die politische Ebene des Feudalismus wird in Afghanistan durch die Ebene dieser Stämme durchbrochen, und oft ist das Phänomen der Stämme stärker als das feudalistische. Die Feudalstrukturen sind also von den Stammesstrukturen bestimmt.“

Damals schon ein Land mit eigenen Gesetzen.

„Der Widerstand ist für uns eine rein nationale Freiheitsfrage. Das hat weder mit der Religion noch mit einer Ideologie etwas zu tun. Es geht uns um unsere nationale Souveränität. Wir hätten genauso, wie wir die sowjetische Armee verdammen und bekämpfen, eine amerikanische Armee oder eine pakistanische oder eine chinesische Armee verdammt und bekämpft, wenn sie in unser Land hereingekommen wäre. Und da hätten wir vielleicht noch mehr Erfolge gehabt, weil, geopolitisch gesehen, die Nachschubmöglichkeiten für die Amerikaner in Afghanistan noch schlechter wären als für die Russen. (…)
Das Land okkupieren und einnehmen mit einer vielleicht idealen Zielvorstellung, wenn die betroffene Bevölkerung dies nicht will, weil sie, nach europäischen Vorstellungen, um dreihundert Jahre zurück ist und an Allah glaubt und die Freiheit liebt und sich total sperrt: Das ist fatal. (…) Wir Afghanen wollen nicht fremdbestimmt sein“, sagte mir 1982 Azim Choram Nima, der in Deutschland ausgebildet worden ist.

Afghanistan kann nicht von fremden Mächten befriedet werden! Es kann nur sich selber von den Taliban befreien und aus sich selber heraus Frieden schaffen – ohne Waffen. Und das kann sehr lange dauern. Mit unseren militärischen Eingriffen behindern wir Fremden diesen Prozess. Entwicklungshilfe und Diplomatie könnten das Leiden in diesem Land lindern, gäbe es da nicht Drogen-, Waffenhandel, Korruption und Wahlbetrug, Machenschaften, an denen Präsident Karzai beteiligt sein soll. Ein Strohmann der US-Regierung.

Dies sind auch die Gründe, die uns LINKE veranlasst haben, den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan abzulehnen. Wir haben von Anfang an vor einem humanitären und militärischen Desaster gewarnt. Nun ist dies nicht mehr zu übersehen. Krieg ist die Fortsetzung einer falschen Politik mit anderen Mitteln.

Erschienen am 16. September 2013 in den Zeitungen des Medienhauses Bauer, u. a. in der „Recklinghäuser“, unter dem Titel »Der Widerstand als rein nationale Frage: Afghanistan kann nicht von fremden Mächten befriedet werden!«

*) Das ganze Interview in: Dietrich Stahlbaum: Der kleine Mann. Geschichten, Satiren, Reportagen aus sechs Jahrzehnten, Recklinghausen 2005, S. 70 ff. Die Printausgabe ist vergriffen. Jetzt als eBook → http://www.bookrix.de/_title-de-dietrich-stahlbaum-der-kleine-mann