Die Angst der regierenden Parteien, von den Grünen überflügelt zu werden. Leserbriefe

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl*), und an die Frankfurter Rundschau:

Zu „Die Klima-Hysterie schadet“ von Annegret Zessin vom 19. Juni 2019

Warum bieten Sie Frau Zessin hier so viel Platz für einen Leserbrief, mit dem sie die bekannten halbwahren, vor fake News und Gehässigkeit strotzenden Ansichten von Pegida und der AfD verbreitet?

   Auch ich übe Kritik an den Grünen, aber ich werde meine ehemaligen Parteifreunde nicht in die Pfanne hauen, sondern mich an die Fakten halten, die ich besser kenne als Frau Zessin, Pegida und die AfD.

   Bei den regierenden Altparteien herrscht große Angst, von den Grünen überflügelt zu werden. Denn jetzt werden von den cleveren „Ökos“, die unter dem Druck einer neuen, internationalen Jugendbewegung die sozialistische Komponente der LINKEN in ihr Vokabular übernommen haben und medienwirksam alle Altparteien in den Schatten stellen, die wichtigsten politischen Probleme auf die Tagesordnung gesetzt.

  Geschickt setzen sie neue, unverbrauchte Gesichter kluger, wissenschaftlich und rhetorisch kompetenter, moralisch integrer und philosophisch gebildeter junger Männer und vor allem Frauen ein, um Zustimmung zu gewinnen.       

   Übersehen wird dabei, dass auch die Grünen ihre Widersprüche nicht gelöst haben, Parteispenden von der Wirtschaft erhalten (in den Jahren 2013 bis 2015 u. a. 495.460,78 EURO von BMW und der Fam. Quandt/Klatten, 444.999,94 von Daimler, 751.136 von der Allianz. Quelle: Lobbypedia) Das macht sie von der Wirtschaft abhängig und lässt vom Pazifismus einer Petra Kelly (1947-1992) nichts mehr übrig.

  Man könnte es realpolitisches Wellenreiten nennen.

  Aber der internationale Aufstand junger Menschen, die sich um ihre Zukunft betrogen sehen, wenn nicht nur geredet, sondern sofort gehandelt wird, wird auch den Grünen das Taktieren austreiben. 

—–

*) Medienhaus Bauer. Am 24. Juni 2019 leicht gekürzt veröffentlicht.

– Frankfurter Rundschau: Kursiver Text. Am 25. Juni 2019 ungekürzt veröffentlicht.

Probleme aussitzen und verdrängen, existenzielle Fragen nicht beantworten: Bundesregierung in der Bredouille

Die Recklinghäuser Zeitung berichtete am 11. 06. 2019 unter der Schlagzeile „Die Fehler der Konzerne“: „Zehntausende Stellen sollen in NRW wegfallen. Unter Druck durch Globalisierung und Digitalisierung haben die Firmen Fehler gemacht.“

Auf dieses Problem, eigentlich auf einen ganzen Komplex von Problemen habe ich vor einem Jahr im Februar in einem Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, und an die Frankfurter Zeitung aufmerksam gemacht und die Verantwortung dafür vor allem der GroKo zugeschrieben. Beide Leserbriefe wurden, in wesentlichen Punkten gekürzt, abgedruckt. Und es erschien auch keine Reaktion darauf. Hier der Text:

                                 Eine Runderneuerung mit gravierenden Mängeln.
Die GroKo und ihr Vertrag

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, und an die Frankfurter Rundschau zum GroKo-Vertrag vom 7. Februar 2018:

Eine weitere Groko? Das wäre eine Runderneuerung mit gravierenden Mängeln: Zum Beispiel fehlen im Koalitionsvertrag Hinweise auf die negativen Folgen der Digitalisierung. Existentielle Fragen, die sich daraus ergeben, werden nicht beantwortet. (Kapitel IV.5. „Digitalisierung“ und V.1. „Gute Arbeit“ (S. 37, 50 im Entwurf).

Nach einer Umfrage des IT-Verbands Bitkom unter 500 deutschen Unternehmen werden in Deutschland rund 3,4 Millionen Stellen allein in den kommenden fünf Jahren weg fallen, weil Roboter oder Algorithmen die Arbeit übernehmen. (FAZ, 02.02.2018) Viele Aufgaben können heute leicht zerlegt und über Internetplattformen verteilt werden – ohne feste Arbeitsverträge.

Ein Manager der Plattform Crowdflower: „Bevor es das Internet gab, wäre es sehr schwierig gewesen, jemanden zu finden, der zehn Minuten für einen arbeitet und den man, nachdem er diese zehn Minuten gearbeitet hat, wieder entlassen kann.“ (ZEIT ONLINE, 21.1.2016)

Heimarbeit auf Abruf – wo sie am billigsten ist, in Asien zum Beispiel.

Unter der Digitalisierung am meisten leiden werden jedoch Menschen, die dort heute noch unsere Schuhe und Kleidung, Smartphones, Spielzeug etc. anfertigen. Die Automatisierung wird sie massenhaft arbeitslos machen.
Gravierend sind auch die sozialpsychologischen Folgen: Immer mehr Berufstätige werden an Burn-out, Erschöpfungssyndromen, stressbedingten Erkrankungen, an sozialer Entfremdung und Isolation leiden.

Die Digitalisierung wird unsere gesamte Arbeits- und Lebenswelt völlig verändern, auch den Menschen; sie wird vor allem die heranwachsenden Generationen vor Probleme stellen, die nicht mehr zu lösen sind.

Währenddessen driftet unsere Gesellschaft immer weiter auseinander. Eine weitere GroKo wird das nicht ändern. Denn mit den kleinen, systemimmanenten Korrekturen ihres Programms kann sie ihrer Klientel Sand in die Augen streuen, aber nicht die politischen Voraussetzungen für eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen in Deutschland schaffen.

Am 15. Februar in der Frankfurter Rundschau und am 21. gekürzt in den Zeitungen des Medienhauses Bauer. Herausgenommen wurden die meines Erachtens ebenso wichtigen Sätze „Viele Aufgaben können heute leicht zerlegt und über Internetplattformen verteilt werden – ohne feste Arbeitsverträge.“

Ein Manager der Plattform Crowdflower: „Bevor es das Internet gab, wäre es sehr schwierig gewesen, jemanden zu finden, der zehn Minuten für einen arbeitet und den man, nachdem er diese zehn Minuten gearbeitet hat, wieder entlassen kann.“ (ZEIT ONLINE, 21.1.2016)

Heimarbeit auf Abruf – wo sie am billigsten ist, in Asien zum Beispiel.

Unter der Digitalisierung am meisten leiden werden jedoch Menschen, die dort heute noch unsere Schuhe und Kleidung, Smartphones, Spielzeug etc. anfertigen. Die Automatisierung wird sie massenhaft arbeitslos machen.

Heidi Beutin/Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Rezension von Hartmut Henicke

   Dieses Werk des Ehepaares Beutin ist die wichtigste Publikation zum Themenjahr 2018 „Weltkriegsende/Novemberrevolution“. Die Autoren haben es ihren nahestehenden, insbesondere verstorbenen wissenschaftliche Weggefährten gewidmet. Diese Geste bewegt, wenn man das Buch gelesen hat.

    Die Autoren bekennen ausdrücklich, sich dem Thema als Literatur- und Kunsthistoriker anzunähern. Sie tun das auf höchstem theoretisch-methodischem Niveau und gleichzeitig mit faszinierend souveräner literarischer Leichtigkeit. Dieses Buch liest sich so weg. Und es ist anregend, weil so gut nichts offen bleibt. Auch dort, wo wichtige Fragen „nur“ ansatzweise beantwortet oder tangiert werden, hallen als sie dem konzentrierten Leser wie die Reststrahlung des Urknalls als Denkimpulse nach. Auch darin reflektiert sich Kompetenz und Meisterschaft, wie in den souverän das Quellenmaterial tief durchdenkenden Antworten und Urteilen. Ihrer Absicht, die deutschen Intellektuellen im Kontext der Novemberrevolution zu zeichnen werden die Autoren virtuos gerecht. Dieses „Who‘s Who?“ der deuschen Novemberrevolution lässt keine soziale, politische und ideologische Richtung der Kategorie Intelligenz aus. Mit ihren umfangreichen Personendossiers haben Heidi und Wolfgang Beutin einen entscheidenden Teil des historischen Subjekts dieser Revolution und Gegenrevolution definiert, klassifiziert, teilweise meisterhaft psychologisiert, in soziale, politische und kulturelle Zusammenhänge gestellt. Ihre Arbeit hat hohen Quellenwert. Die Auswahl des Zitierten ist treffend wie die Wertung. Das Spannende dieser Studie ist die breite, logisch klassifizierte Differenzierung zwischen Revolution und Konterrevolution aber auch innerhalb der politischen Lager bzw. ideologischen Richtungen. Mit ihren Persönlichkeitscharakteristiken präsentieren die Autoren nicht nur ein breites Spektrum von Ansichten, die den Erkenntnisprozess eines historischen Umbruchs reflektieren, sondern auch Erfahrungen, spontane Gefühle reflektieren. Die Begegnung Rosa Luxemburgs und Tilla Darieux – eine marginale Sekunde im Epochenwechsel während des Innehaltens und doch so bezeichnend für das, was geschah. An dieser Stelle versteht der Leser den Titel des Buches.

   Er hört die „Fanfaren einer neuen Freiheit“ im Hintergrund. Die Beutins vermessen ihren Forschungsgegenstand, die Intelligenz, nicht im Entferntesten mit den ideologischen Rastern, die sich aus der ideologischen Versteinerung nach den Weltkriegsrevolutionen insbesondere seit dem Ende der 1920er Jahre ergaben.

Dieses Buch ist das Elektrokardiogramm der Geisteshaltung im Deutschland des verlorenen Weltkrieges in aller psychologischen und ideologischen Sensibilität und Genauigkeit. Es spiegelt die subjektive Verfasstheit der Menschen dieses Landes, die den Aufbruch in die neueste Moderne antraten, die realen subjektiven Rahmenbedingungen der Erneuerungsalternative. Als Leser getraut man sich nicht einmal den überheblichen Gedanken, die Intellektuellen von den proletarisierten verelendeten Klassen abzuheben, zumal die Autoren eben auch die politisch ahnungslosen Intellektuellen, Künstler, Literaten meisterhaft zeichnen. Andererseits: Diejenigen namhaften bekannten, ach heute wieder vergessenen Persönlichkeiten, die in Beutins Buch den größten Epochenkonflikt des neuen Jahrhunderts reflektieren, waren allesamt keine Durchschnittsmenschen, sondern Denker, Künstler, Moralisten, Literaten, Journalisten, Politiker, Parteifunktionäre, einschließlich der politisch hochgebildeten Arbeiterbewegung, Reagierer auf die spontane Revolte qualifizierter kriegsmüder Matrosen, Soldaten und Proletarier. Diese Literaten, Philosophen, Wissenschaftler und Politiker aller Klassen mussten nicht nur das Geschehen interpretieren, sondern persönliche Entscheidungen treffen. Sie standen vor der epochalen praktischen Gestaltungsaufgabe, aus dem Regimezusammenbruch und der spontanen sich zur Revolution ausbreitenden Revolte eine historische tragfähige Zukunftsalternative zu denken und zu entwickeln, deren Parameter zum einen durch die Siegermächte vorgegeben waren und zum anderen von den Räten der Matrosen, Soldaten und Arbeiter, die gleichermaßen der intellektuellen Führung Deutschlands Angebote machten. Ihnen standen die gegenüber, die mit der alten zusammengebrochenen Welt unterzugehen drohten. Das waren jene unter den gebildet und erfahren Denkenden, die nicht über den Schatten ihrer Werte und Ansichten der Vergangenheit springen konnten. Zwischen Hoffnungen und Ängsten, Humanismus und Hass, Einsicht und Tradition schwankten die großen Geister der Nation, auch der elitären Klassen und Schichten. Harry Graf Kessler, Walter Rathenau, die Gebrüder Thomas und Heinrich Mann, Epochengestalten. Die Autoren benötigen nur Absätze, um dies deutlich zu machen.

   Beutins Arbeitsergebnis zeigt, an einem ungewöhnlich breiten Personenkreis, wie dieser dachte und agierte. Was die Autoren diesbezüglich präsentieren und kommentieren, hat erstrangige Bedeutung für das Verständnis des Missverhältnisses zwischen historisch materialistischer Analytik der kausalen gesellschaftlichen Zusammenhänge und der subjektiv differenzierten in der logischen Konsequenz dahinter zurückbleibenden Wahrnehmung und sich daraus ergebender Handlungsweise. Die Autoren reflektieren bis in die marxistische Linke hinein de facto die Folgen der im wilhelminischen Kaiserreich in den Köpfen seiner intellektuellen Elite gebrochenen Geistesgeschichte. Und auch im marxistisch linken Lager erkennen und benennen die Autoren deren Grenzen. Diese Abschnitte sind so stark, dass darauf näher eingegangen werden muss, auch wenn alle in diesem Buch behandelten theoretisch-methodischen Aspekte eine rezeptive Diskussion verdienen, was in diesem Rahmen nicht möglich ist und deshalb aber anempfohlen wird. Die Jahrhundertjubiläen sind noch nicht vorbei und die Rezeptionsthemen findet man in Beutins „Fanfaren“.

   Die Autoren spiegeln in erster Linie und mit Sympathie die Rationalisten, Idealisten, Illusionisten, Pazifisten und Linken. Und sie sehen diese mit anderen Augen als Volker Weidemann in seinem Buch „Träumer“ nicht als Spinner und konzeptionslose vom Volk zeitweilig geliebte Narren, sondern eben als moralischen Werten und einer humanistischen Ethik verpflichteten Literaten, von denen ohne politisches Herrschaftswissen und ökonomische Analytik nichts anderes verlangt werden kann als Charisma, selbstloses leidenschaftliches Engagement bis zur Hingabe, auch Fehler und Konzeptionslosigkeit. Politik, insbesondere in revolutionären Krisensituationen ist bis zur geordneten arbeitsteiligen Kooperation von neuen Führungskräften und Strukturen eine spontane sich allmählich organisierende vor allem emotionale Aktion. Aus dieser Aktion entwickelt sich aus der Leidenschaft auf der einen und der lähmenden Paralyse auf der anderen Seite erst allmählich die kühl, auch machiavellistisch kalkulierte strategisch-taktische Konzeption auf den sich polarisierenden ideologischen und Interessen gesteuerten Flügeln der Revolution. Den Autoren ist dies klar und wegen dieses Standpunktes bewerten sie die Revolutionsliteraten höher als der Autor der „Träumer“. Worin aber der darüber hinausgehende Wert dieses Buches besteht, ist die sehr akzentuierte Differenzierung der marxistischen Linken. Die Autoren stützend sich dabei auf die Biografie-, und Sachthemen-Experten, wie die Bezugnahmen im Anmerkungsapparat erkennbar machen. Aber in der Kernaussage darf von der Eigenleistung der Autoren ausgegangen werden. Die Charakterisierung der Erkenntnisgrenzen Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs gehört, wie schon zuvor im Falle Kessler, Rathenau, Manns u.a. zu den stärksten erkenntnistheoretischen Leistungen, auch wenn Rosa Luxemburg betreffend, der Rezensent Einwände geltend macht, die sich vor allem auf die bei Eberhard Kolb zitierten „Grundannahmen in der sozialistischen Lehre“ beziehen. Auch wenn Rosa Luxemburg gleichfalls diesen Grundannahmen aufsaß, war ihre Geschichtsauffassung keinesfalls diesem eher Kautskyanischen und russischen Gesellschaftsphilosophieverständnis als dem Labriolas Philosophie der Praxis im Sinne der Feuerbachthesen näher. Wie schwer der Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie, politischer Ökonomie und Politik in der Aktion im Krisenmoment wirkt, erfährt die Menschheit in jedem neuen Konflikt. Dass selbst die theoretisch weitsichtigsten Köpfe in den Momenten versagten, in denen sie sich den Sternen so nahe wähnten, ist vielleicht ein Grund, neu über theoretisch begründeten Pragmatismus oder Machiavellismus nachzudenken. Dass die Gegenrevolution, die in diesem Buch in dieser Hinsicht unterbelichtet ist, was dem keinen wirklichen Abbruch tut, aber immerhin daran gemahnt, dass Lassalle als erster das Problem erkannt hatte, sei hier angemerkt. In diesem Zusammenhang sollen von den vielen theoretisch-methodisch anregenden Fragen nur noch vier aufgegriffen werden sollen.

   Erstens: Problematisch mit Blick auf die faschistische Diktatur, wenn auch nicht ganz abwegig im Hinblick auf die frühzeitige parallele Konterrevolution ist die revolutionstheoretische Interpretation des Staatsrechtlers Hugo Preuß durch die Autoren im Hinblick auf den engeren nationalen Revolutionszyklus in Anlehnung an die Französische Revolution und dessen missverständlicher Hinweis auf die Militärdiktatur als notwendige Zurückführung der radikalen Revolution auf ihr objektives Maß. (S. 35) Im Kontext mit dem nachfolgenden Abschnitt, der „Die Konterrevolution“ thematisiert, ist das einst von Friedrich Engels als allgemeingültig gezeichnetes Revolutionsschema falsch. Denn es gab in der deutschen Novemberrevolution kein radikal verfolgtes utopistisches Ziel, dass durch zeitweilig überhöhte Radikalität durch einen Thermidor auf das objektive Revolutionsziel zurückgeführt werden musste. Im Gegenteil: Selbst Spartakus verfolgte sozioökonomisch wie staatspolitisch mit der Rätedemokratie allein ein konsequent radikaldemokratisches Ziel. Und auch die Rätemacht war keinesfalls a priori eine kommunistische Machtstruktur. Sie wurde von Anfang an, weil situationsbedingt, partiell selbst im bürgerlichen Lager adaptiert. Die Soldatenräte prägten wegen ihrer sozial heterogenen Zusammensetzung ohnehin den klein- und bürgerlichen Charakter der Revolution und mehr noch die rechtskonservative nationale Bürgerrätebewegung eben den nichtproletarischen. Doch allein die verschwindende Minderheit der rätekommunistischen Linken als marginalen Ausdruck revolutionärer Radikalität zu bagatellisieren und damit deren Überbewertung durch die konservative Rechte zur Begründung gegenrevolutionärer Brutalität als hinterhältige Meinungsmanipulation zu bewerten, ist wissenschaftlich nicht korrekt. Von der Spartakusgruppe bis in die USPD hinein und auch über diesen Parteirahmen hinaus, wie die Beutins u.a. mit dem Beispiel Rathenaus zeigen, wurden die „bolschewistischen“ Sowjets tatsächlich als Vorbild bzw. Modernisierungsvariante verstanden. Bremen und Bayern bewiesen, den radikalrevolutionären Charakter des Rätegedankens, wie die Autoren kenntlich machen. Vom Gegenrevolutionären Standpunkt war die Bekämpfung des „Bolschewismus“ deshalb logisch konsequent. Daran ändert die Selbstentmachtung des Zentralrates der Arbeiter und Soldatenräte gar nichts. Auch wenn die deutschen Rätevorwiegend als basisdemokratischer Ansatz bewertet werden, enthalten sie wie die Autoren unter Berufung auf die seinerzeitigen Akteure zeigen, systemveränderndes Potenzial, wie auch die Räterepubliken aber auch der Rätekommunismus im Gegensatz zum Parteikommunismus beweisen. Leider fokussieren sich die Autoren ideologieanalytisch allein auf den Antisemitismus und Rassismus der Rechten. Das Wesentliche war aber die Adaption des Sozialismus in seiner nationalen Mutation.

   Nationalsozialismus ist war der offensive Ausdruck der historischen Defensive. Obgleich der Name Eduard Stadtler auf der Seite der Konterrevolution viermal erwähnt wird, bleibt diese Person als einer der wichtigsten ideologischen Repräsentanten und Aktivisten der Rechten unterbelichtet. Stadtler der Initiator, Agitator und Organisator des Präfaschismus schaffte es nicht zuletzt mit seinen Erfahrungen im revolutionären Russland, den Spitzen der deutschen Wirtschaft 500 Mio Reichsmark für die Kriegskasse der Gegenrevolution abzunehmen. Seine Vorträge und Schriften verdienen als historische Quelle Aufmerksamkeit. Als Inspirator des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hat er wohl die treffendste Charakteristik der von rechts wahrgenommenen Gefährlichkeit der intellektuellen linken Führungskräfte und damit auch des Kräfteverhältnisses von Revolution und Konterrevolution gegeben.

   Zweitens: Die Auseinandersetzung der Autoren mit dem Verratsvorwurf gegen die regierende Führung der Mehrheitssozialdemokratie, denen schon von linken Zeitgenossen ein bürgerlicher Standpunkt zugeschrieben wird, von dem aus sie gar keinen Verrat begehen konnten, scheint in diesem Sinne zwar argumentativ plausibel, ist aber logisch nur eine andere Lesart des Verratsvorwurfs. Denn es war nun einmal die Sozialdemokratische Führung, die ihre eigene programmatisch erklärte „soziale Revolution“ verriet. Theoretisch scheinen auch 100 Jahre danach wichtige Probleme immer noch unklar zu sein, was keinesfalls den Autoren Beutin angelastet werden kann. Berücksichtigt man allerdings das marxistisch induzierte Erfurter Parteiprogramm steht staatsrechtlich dahinter nichts anderes als eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie mit sozialem Charakter, auch sehr weitgehenden Sofortforderungen, die noch nie erfüllt wurden. Dieses Ziel hat die MSPD-Führung ebenso wenig verraten, wie der Parteivorsitzende Ebert, der seinen Parteifreund Scheidemann dafür wütend rüffelte, weil dieser mit der Ausrufung der Republik der Nationalversammlung zuvorkam. Eberts tradiert stures weltfremdes Demokratieverständnis verkannte, dass die elementaren tatsächlichen systemischen Veränderungen von der revolutionären Aktion und nicht von den parlamentarischen Gremien hervorgebracht werden. Die deutsche Revolution war von Anfang an mit dem Defizit einer unglaublichen Leichtgläubigkeit und Illusion gegenüber der Gegenrevolution belastet. Das zeigte sich sowohl in der Delegierung der revolutionären Beseitigung der materiellen Grundlagen des preußischen Ancien régimes (Großgrundbesitz, Beamten- und Militärapparat) vom Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte an die Nationalversammlung wie an der Rückgabe des beschlagnahmten Büros der Antibolschewistischen Liga durch die revolutionären Matrosen. Und das Sozialisierungsprojekt war de facto mit dem Stinnes-Legien-Pakt erledigt.

   Drittens: Eduard Bernstein prognostizierte 1899 in seiner theoretischen Grundlegung des Reformismus den Marx’schen Begriff „Diktatur des Proletariats“ als Charakterisierung des künftigen Staatstyps mit folgendem bedenkenswerten knappen Absatz: „Die Diktatur des Proletariats heißt, wo die Arbeiterklasse nicht schon starke eigene Organisationen wirtschaftlichen Charakters besitzt und durch Schulung und Selbstverwaltungsköper einen hohen Grad von geistiger Selbständigkeit erreicht hat, die Diktatur von Klubrednern und Literaten. Ich möchte denjenigen, die die Unterdrückung und Schikanierung der Arbeiterorganisationen und Ausschluss der Arbeiter aus der Gesetzgebung und Verwaltung den Gipfel der Regierungskunst erblicken, nicht wünschen, einmal den Unterschied in der Praxis zu erfahren. Ebenso wenig würde ich es für die Arbeiterbewegung selbst wünschen.“ (Bernstein, Voraussetzungen des Sozialismus… Dietz Berlin 1991 [1899], S.206 f.) dieses Resümé, ob als Vorwegnahme einer vorgeblich im proletarischen Interesse mit revolutionärem Terror durchgesetzten parteirichtungsideologischen Minderheitenrevolution und ihrer verheerenden Folgen oder als blanquistische Fehlinterpretation der Marx/Engels‘schen Schlussfolgerungen aus Pariser Kommune, entspricht de facto der Luxemburgschen Kritik an der Russischen Revolution zwei Jahrzehnte später.

    Viertens: Die Autoren haben mit ihren „Fanfaren der Freiheit einen bemerkenswerten Ansatz für die Bewältigung der Vereinigung von revolutionärer Spontaneität und intellektuellem Potential im Zusammenbruchsaugenblick gewählt und gefunden. Und sie machen sich die Darstellung des Problems nicht mit den Stereotypen des Klassenstandpunktes leicht, die den Intellektuellen nach leninistischer Lesart in den Pro- und Konterrevolutionär teilen. Sie stellen aber am Ende trotz ihres wichtigen Rückgriffs auf frühere Geschichtsepochen bis zurück in die Antike dennoch nicht die Gretchenfrage, mit der das Problem der Spaltungen sowohl in der modernen Kapital- und Lohnarbeitsgesellschaft, der Intelligenz aber auch innerhalb des sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Lagers sowie speziell der intellektuellen Linken im engeren Sinne erklärt werden kann: nämlich die erkenntnistheoretische und damit philosophische Frage nach der historische materiellen Determiniertheit und wechselseitigen Beeinflussung aller Gesellschaftserscheinungen und dem daraus resultierenden permanenten konkret-praxisorientierten Erkenntnis- und fortwährendem Theorieentwicklungsprozess im Gegensatz zum ideellen, von humanistischen und bürgerlichen Freiheitswerten bestimmten. Umso höher ist die marginale Bezugnahme der Autoren auf diesen Aspekt in der Einleitung (S. 15 unten) zu bewerten, die beweist, dass die Autoren sich dessen bewusst sind!

   In den weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Gegenwart, in der mehr denn je pluralistisch fragmentarische Unverbindlichkeit gegen mystische und populistische Manipulation wirkungslos verteidigt wird, geht es in Wirklichkeit um einen wissenschaftlichen Blick auf die Geschichte. Die enorme Schwierigkeit dessen ist historisch erklärbar. Erkenntnistheoretisch musste von der Liquidierung des heidnisch materialistischen Denkens seit der Zerstörung der Bibliothek von Alexandria bis zur Neuentdeckung des Materialismus durch die intelligentesten Köpfe des aufklärerischen und klassischen Bürgertums, vor allem durch die Hegelsche dialektische Veredelung des Materialismus Feuerbachs nicht nur eine eineinhalb Jahrtausende platonische Denktradition überwunden werden, um die wissenschaftliche Kontinuität zum antiken Denken wieder herzustellen. Zugleich musste die im Gefolge der Rezeption dieser dialektisch-historisch-materialistischen Denkrevolution durch permanente Weiterentwicklung gegen deren Vulgarisierung und bürgerliche Revision angegangen werden. Für diesen Kraftakt fehlten schlicht die fähigen intellektuellen Köpfe nicht zuletzt wegen der fehlenden strukturellen Bildungsvoraussetzungen. Für den Kapitalismus, ob in seiner aktiengesellschaftlichen oder kommunistisch drapierten staatskapitalistischen Variante ist wissenschaftliche Gesellschaftserkenntnis eine existenzielle Bedrohung.

Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die NovemberrevolutionVerlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) (1. August 2018)
• Gebundene Ausgabe: 308 Seiten, EUR 49,95
• ISBN-10: 3534270452
• ISBN-13: 978-3534270453

Neuerscheinung: Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution

Coverbild Beutin, Fanfaren -1-

Fanfaren -2-
Klappentext

Fanfaren -3-

Fanfaren -4-

Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution  

Verlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) (1. August 2018)

Gebundene Ausgabe: 308 Seiten, EUR 49,95
ISBN-10: 3534270452, ISBN-13: 978-3534270453

 

 

 

 

Wilhelm Neurohr: „Der klägliche Fehlstart der neuen GroKo“

Ein politisches Trauerspiel in 13 Akten

 Was wurde den Wählern und Wählerinnen nicht alles versprochen  von den beiden abgestraften „großen“ Parteien: „Wir haben verstanden“ oder „ein Weiter so darf es nicht geben“, so hieß es bei der Begründung für eine nochmalige GroKo, um die kritische SPD-Basis „auf Linie zu bringen“. Doch bereits in den ersten zwei Wochen nach der Vereidigung der neuen Bundesregierung wird dagegen täglich erlebbar: Es kommt in der neuen GroKo sogar noch schlimmer als jemals zuvor – ein kläglicher Fehlstart, der nichts Gutes für die restlichen 3,5 Regierungsjahre verheißt:

Erster Akt: Gleich zu Beginn gab der Super-Heimat- und Innenminister Horst Seehofer mit seiner umstrittenen Äußerungen zur Nichtzugehörigkeit des Islam den neuen rechtspopulistischen Takt vor und provozierte den umgehenden Widerspruch aus der eigenen Regierung. Sodann blähte er sein Ministerium im „Hauruck-Verfahren“ um 100 neue Stellen auf und berief 8 ausschließlich männliche Staatssekretäre. Als erste Amtshandlung beauftragte er sie mit der Erstellung eines Masterplanes für schnelle Abschiebungen von Asylbewerbern. Ein „Musterpolizeigesetz“, Grenzkontrollen und Videoüberwachung sowie zentrale Abschiebelager sind sein erklärtes Anliegen.

Zweiter Akt: Auch der neue Gesundheitsminister Jens Span wollte sich als erstes mit provokanten Äußerungen statt mit einem Gesundheitskonzept profilieren, indem er sich herablassend zu den angeblich „auskömmlichen“ Hartz-IV-Sätzen äußerte. Sodann verkündete er, billige Pflegekräfte aus dem Ausland abzuwerben, die dort selber benötigt werden,  anstatt die versprochene bessere Bezahlung der heimischen Pflegekräfte zunächst anzupacken. Zugleich traten die drastisch erhöhten Zuzahlungen zu Medikamenten  für Krankenversicherte ungebremst in Kraft als „Altlast“ der letzten GroKo.

Dritter Akt: Der neue Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz beruft (nach dem Vorbild von Trump) ausgerechnet einen Investmentbanker von Goldman-Sachs zu seinem neuen Staatssekretär – ein von den öffentlich-rechtlichen Medien ausgeblendeter Skandal. Zugleich verteidigt er die Aufblähung der neuen Bundesregierung um 209 neue Stellen noch vor den neuen Haushaltsberatungen, davon 41 im eigenen Finanzministerium, worauf ihm der Steuerzahlerbund „mangelnde Ehrfurcht vor dem Wähler“ vorwarf. Zudem will Olaf Scholz nun seinen Parteifreunden in der SPD untersagen, eine Debatte über Alternativen zu Hartz IV zu beginnen und in der Regierung auf den Prüfstand zu stellen. Generell will er auch die umstrittene Spar- und Austeritätspolitik seines Vorgängers Schäuble unverändert fortführen.

Vierter  Akt: Der neue  Arbeitsminister Hubertus Heil, den die Medien als letzten „Schröderianer“ titulieren, bezeichnete zunächst eine neue Debatte über Hartz IV als notwendig, machte aber nach wenigen Tagen auf Geheiß von Olaf Scholz und nach einem Aufschrei der Wirtschaft einen Rückzieher und hielt die Debatte über Abschaffung von Hartz IV als „nicht hilfreich“. Aus der losgetretenen Hartz-IV-Debatte von Jens Spahn hat er sich als eigentlich zuständiger Minister herausgehalten. Er hält es für ausreichend, lediglich 150.000 Langzeitarbeitslosen (von insgesamt 860.000 Betroffenen) mit einem öffentlich geförderten Job zu versorgen mittels Lohnkostenzuschüssen für Betriebe.

Fünfter Akt: Kanzlerin Angela Merkel beklagt in ihrer Regierungserklärung „die Schande der Kinderartmut in einem reichen Land wie Deutschland“, ohne zu merken, dass sie sich als dafür Hauptverantwortliche nach 12 Jahren Regierungszeit damit selber anklagt. Denn in ihrer langjährigen Regierungsära der „sozialen Kälte“ sind die Kinderarmut, die Altersarmut und die Bedürftigkeit der auf Tafeln und Suppenküchen Angewiesenen dramatisch angestiegen (was sie in den jährlichen Armutsberichten ihrer Bundesregierung hätte nachlesen können). Für ihr leeres Versprechen der „Integration der Schwachen, um die Gesellschaft menschlicher zu machen“, reichen die verbleibenden 3,5 Regierungsjahre kaum aus.  Und ob es die neuen Wissenschaftsministerin Anja Karliczek schafft, allein mit Geld – nämlich 3,5 Mrd. € für die Digitalisierung der Schulen und 2 Mrd. € für die Ganztagsbetreuung – die Bildungsbenachteiligung der Kinder aus den unteren Schichten zu beseitigen, darf bezweifelt werden.

Sechster Akt: Die Justizministerin Katarina Barley bestellt nach dem Facebook-Skandal die europäischen Firmenvertreter ins Ministerium, um ihnen Zugeständnisse abzutrotzen. Doch diese zeigen ihr die kalte Schulter und erklären nur süffisant und arrogant, die Forderung nach mehr Transparenz „wohlwollend zu prüfen“. Die großspurige Justizministerin steht als machtlos da. Gleich zu Beginn der neuen Regierung ist sie zusammen mit der neuen Familienministerin Franziska Giffey und der SPD-Bundestagsfraktion bei der geplanten Reform des § 219 (Schwangerenkonfliktberatung) umgefallen und vor dem frauenfeindlichen Kurs der CDU eingeknickt.

Siebenter Akt: Während die umstrittene PKW-Maut vom vorherigen Verkehrsminister Dobrindt für spätestens 2019 angekündigt wurde, legt sich der neue Verkehrsminister Andreas Scheuer terminlich nicht fest und verweist nun ohne konkrete Zeitvorgabe auf das Ende der Legislaturperiode bis 2021 – weil „noch nicht alle technischen und organisatorischen Details geklärt“ seien. Über die Zukunft des alten Berliner Flughafens Tegel möchte er in eine neue Diskussion einsteigen, gegen die bisherige Meinung der Kanzlerin. Zuvor mischte er sich – obwohl nicht zuständig – in den öffentlichen Streit um die Rolle der Muslime und den Islam-Streit in Deutschland im Sinne von Seehofer ein.

Achter Akt:  Die neue Umweltministerin Svenja Schulze aus dem Industrie- und Kohleland NRW möchte erklärtermaßen weder Fahrverbote für Diesel noch eine blaue Plakette, sondern glaubt, dass sie in der Regierung unter der „Autokanzlerin“  mittels Druck auf die Autohersteller die technische Nachrüstung erzwingen kann. Der Kohleausstieg ist bis auf Weiteres auf eine zu bildende „Kommission“ vertagt und damit auch keine klare Aussage zum hinterher hinkenden Klimaschutz von ihr bekannt. Ein Klimaschutzgesetz, um die nicht eingehaltenen Ziele bis 2020 und 2030 zu erreichen, hat bei ihr keine Priorität. Mit dem Verkehrs-Wirtschafts- und Landwirtschaftsministerium will sie lieber  „vorsichtig umgehen“. Der Deutsche Industrie-und Handelskammertag warnte die neue Umweltministerin bereits vor zu viel Einmischung in die Belange der Wirtschaft, denn Vorrang habe „die industrielle Wettbewerbsfähigkeit und Wertschöpfungskette.“. Vogel- und Insektensterben sowie Umweltgifte aus der Landwirtschaft sowie Landschaftszersiedelung – in diese und weitere Themen habe  sie sich „noch nicht eingearbeitet“. Ihre Kollegin im Landwirtschaftsressort, Julia Klöckner, bezeichnet Pestizide oder Ackergifte verharmlosend als „Pflanzenschutzmittel“ und hat kein Ausstiegsprogramm für Glyphosat und auch kein Umverteilungsprogramm für Agrarsubventionen etwa zugunsten des ökologischen Landbaus.

Neunter Akt: Anstelle einer offensiven Entspannungs- und Abrüstungspolitik beteiligt sich Außenminister Heiko Maas (mit Rückendeckung der Kanzlerin) an dem Schüren des neuen kalten Krieges gegen Russland:  Er unterstützt – im Gegensatz zu einem Dutzend zurückhaltender EU-Länder – die voreiligen diplomatischen Strafsanktionen  gegen Russland aus falsch verstandener  „Solidarität“ mit der EU-Aussteigerin Theresa May anlässlich der unbewiesenen Behauptungen und Schuldzuweisungen zu dem Urheber des Giftgas-Anschlags auf einen Ex-Agenten. Zur wichtigen Frage der Zukunft Europas (Kapitel 1 im Koalitionsvertrag) kamen von Maas wie von Merkel weiterhin nur Allgemeinplätze; bei ihrem Antrittsbesuch beim französischen Staatspräsidenten Macron ging die frisch vereidigte Kanzlerin Merkel weiterhin nicht konkret auf seine Reform-Vorschläge ein, die er bereits vor 6 Monaten vorgelegt hatte.

Zehnter Akt: In einem Interview mit Spiegel-online spricht sich der neue Wirtschaftsminister Peter Altmaier für mehr staatliche Subventionen für die Industrie aus und will sich ausgerechnet „an FranzJosef Strauß orientieren“. Als Staatssekretär holte er Ulrich Nussbaum ins Wirtschaftsministerium, ein ehemaliger Fischhändler aus Bremerhaven, den die Medien als erfolgreichen „Fischmillionär“ bezeichneten. Bei seinem Antrittsbesuch in den USA bekräftigte Wirtschaftsminister Altmaier das Ziel der neuen Bundesregierung, die Militärausgaben bis 2024 auf 2% anzuheben und damit von bisher 37 Mrd. € auf künftig 70 Mrd. € fast zu verdoppeln.

Elfter Akt: Die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen trommelt in der neuen Regierung unaufhörlich für die drastische Erhöhung des Verteidigungs-und Rüstungsetats sowie für w eitere und verlängerte Auslandseinsätze der personell aufzustockenden Bundeswehr, gegen die Mehrheitsmeinung der Deutschen. Erst gar nicht zu reden von den Alleingängen der Verteidigungsministerin (noch vor der Vereidigung der neuen Regierung in der bloß geschäftsführenden Zuständigkeitsphase) – indem sie den Standort des Nato-Logistik-Quartiers bei Bonn mit Folgen für den Rüstungsetat einfädelte und eine aggressivere Verteidigungsstrategie gegenüber Russland unwidersprochen auf der privaten Sicherheitskonferenz vor zahlreichen Rüstungslobbyisten verkündete  – sowie den panzergerechten Ausbau der Autobahnen und Schienenstränge gen Osten bis an die polnische Grenze für den Fall einer etwaigen Mobilmachung durch die NATO…

Zwölfter Akt: Die Bundesregierung stärkt ihrem dafür zuständigen deutschen EU-Kommissar in Brüssel, Günther Öttinger, den Rücken bei einem skandalösen Personal-Deal: Der ehemalige Bertelsmann-Lobbyist Martin Selmayr (bisheriger Büroleiter von Kommissionspräsident Juncker) wird ohne ordnungsgemäßes Auswahlverfahren per Blitzbeförderung in die machtvolle Stelle des EUGeneralsekretärs (als Chef der Brüsseler Behörde mit 32.000 EU-Beamten) gehievt – trotz Empörung des EU-Parlaments von der Bundesregierung für gutgeheißen.

Dreizehnter Akt: Ebenfalls noch vor offiziellem Amtsantritt der noch nicht vereidigten neuen Bundesregierung sind deren drei  zuständige Minister mit einem unabgestimmten ad-hoc-Vorschlag außerhalb des Koalitionsvertrags zugunsten eines kostenlosen öffentlichen Personennahverkehrs in mehreren Musterstädten gescheitert, indem sie ihn nach medienwirksamer Propagierung kleinlaut wieder zurückgezogen haben. Eine Neuauflage ist nicht in Sicht und steht auch nicht im Koalitionsvertrag.

Frage nach dieser desaströsen Bilanz der ersten Zwei Wochen der neuen GroKo: Ist es das, was die Wählerinnen und Wähler von der neuen Regierung erwarten und was ihnen versprochen wurde – oder hat sich diese innerhalb von 2 Wochen noch weiter von den Menschen entfernt als ihre zwei GroKo-Vorgänger-Regierungen in 8 Jahren? Diese Frage möge jeder für sich selber beantworten. 

Eine Antwort sei hier zitiert: Kurz nach dem misslungenen GroKo-Start warnt jedenfalls Juso-Chef Kevin Kühnert in einem Interview seine Regierungspartei SPD vor „Siechtum, wenn sie als beliebige Partei der Mitte agiere“ ohne Umverteilung bei Hartz IV. Seine größte Sorge ist, dass wesentliche Projekte nicht angegangen werden. Zahlreiche Menschen könnten mit der Regierungsarbeit und den mutlosen Programmen nicht überzeugt werden. Er vermisst ein anderes Auftreten der SPD in der Regierung sowie eine stärkere Besetzung der Themen Umwelt und Nachhaltigkeit als Lebensgrundlagen der Zukunft statt des „Herumwaberns zwischen den Interessen“.

Wilhelm Neurohr

 

DIE LINKE, Demokratischer Sozialismus, Utopien. Eine Replik

Der »Demokratische Sozialismus« im Programm der Linken wird von einem Sozialdemokraten als Utopie abgetan. „Der politische Kampf für einen demokratischen Sozialismus kann“, behauptet er, „nur zum Verfall der Demokratie und zum Bürgerkrieg in Deutschland führen.“

Selbst wenn humanistische Ideen nicht voll und ganz realisiert werden können oder verfälscht und pervertiert werden wie Buddhas widerspruchsfreie, als authentisch geltende Lehre, der Pali- Kanon, wir würden, gäben wir sie auf, uns selber aufgeben:

Der Stein des Sisyphus rollt immer wieder bergab.
Aber besteht unser Menschsein nicht darin,
dass wir ihn auch immer wieder den Berg hinauftragen,
damit er nicht unten liegen bleibt?

[In Anlehnung an Camus, Le mythe de sisyphe. Essai sur l`absurde]

„Utopie ist `Denken nach Vorn` (Ernst Bloch) als `die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll`“ (Max Horkheimer)

Utopien sind Platons »Staat«, die «Politeia« (4. Jh. v.u.Zr.), Thomas Morus` »Utopia« (1516), Kants »Zum ewigen Frieden« (1795/96). Das waren keine wirkungslose Spinnereien.

„Regieren heißt voraussehen.“ (Robert Jungk) Danach können wir mit Robert Habeck sagen: „Wir haben in Wahrheit keine Regierung“ ,   „sondern ein zusammen getackertes Bündnis von Parteien…“, das, statt die systemischen Übel bei den Wurzeln zu packen, den status quo verwaltet.

Politik verstanden als soziales Handeln, welches das Zusammenleben von Menschen so regelt, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948) formuiert ist.

Heute sind, auch in Deutschland, tiefgreifende Veränderungen des Wirtschafts- und Sozialsystems nötig, um den Menschenrechten Geltung zu verschaffen. Die Koalitionäre der SPD sind dazu nicht fähig und nicht willens, denn die Partei ist vom Wohlwollen und von den Wohltaten der zum Teil transnationalen und globalen Banken und Konzernen ebenso abhängig wie die CDU/CSU und die FDP. Sie ist Teil des neoliberalen Systems. Der Grundsatz „Eigentum verpflichtet“ (GG. Art….) ist nur noch eine Leerformel.

Es ist kein Zufall, dass der entfesselte Kapitalismus gleich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der übrigen europäischen realsozialistischen Staaten seinen Anfang nahm und in das von ihr hinterlassene Machtvakuum stieß.

Dadurch sind fast alle Demokratien ausgehöhlt worden und nur noch formal vorhanden. Die Bundesrepublik ist da keine Ausnahme. In den westlichen Gesellschaften dominiert, wie überall, wo der Kapitalismus herrscht, Konsumismus und Egozentrismus. Im Kapitalismus sind die Sinne des Menschen auf den Sinn des Habens verkümmert (K. Marx, E. Fromm).

Trotzdem sollten wir die Möglichkeit, eine sozialistische Gesellschaft durch einen sozialökologischen Umbau der Produktions- und damit auch der Lebensverhältnisse in vielen kleinen konkreten Schritten zu verwirklichen, nicht ausschließen. Denn wir können heute nicht mehr voraussagen, was morgen geschieht. Trumps infantile Extravaganzen und die Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Roboter und andere neue zivile und militärische Technologien machen eine Prognose unmöglich. Die Digitalisierung kann aber auch eine globale Demokratisierung in Gang setzen.

Die Schüler*innen-Poteste gegen Trump und die Waffenlobby haben gezeigt, wie das geht.

Wilhelm Neurohr: „Die anhaltende Liaison der SPD-Führung mit der Finanz- und Bankenwelt“

Leserbrief an die RZ:

 „Die anhaltende Liaison der SPD-Führung mit der Finanz- und Bankenwelt“

Nachdem Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) von 2006 bis 2016 ein Jahrzehnt lang Bankberater im Europäischen Beirat der Investmentbank Rothschild war, und der vorige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück seit 2016 als Berater des Vorstandes der ING DiBa-Bank tätig ist,  zeigt die neue SPD-Führung in der GroKo erneut ihre Nähe zur Finanz- und Bankenwelt durch personelle Verflechtungen:

Der neue Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz  holte den Deutschland-Chef der US-Investmentbank Goldman-Sachs, Jörg Kukies, Experte für Wertpapierhandel, als Staatssekretär ins Bundesfinanzministerium. Künftig also ein Investment-Banker und früherer politischer Wegbegleiter von Andre Nahles , SPD-Chefin in spe, als Europastaatssekretär im einflussreichsten SPD-Bundesministerium… Der öffentliche Aufschrei ist so gering, dass es ARD und ZDF in ihren Nachrichtensendungen nicht einmal eine Meldung am 19. März Wert war, derweil man es in den Medien zum Skandal erhob, als US-Präsident Donald Trump den Vize-Chef der US-Investment-Bank Goldman Sachs, Gary Cohn, in 2016  zu seinem wichtigsten Wirtschaftsberater ernannte.

Auch als der ausgeschiedene EU-Kommissionschef Barroso ohne Karenzzeit als Lobbyist zu Goldman-Sachs wechselte und sich nun jüngst in dieser Rolle heimlich mit dem EU-Vize-Kommissionschef Jurky Katainen traf, empörte sich nicht nur das EU-Parlament, sondern auch die Medienöffentlichkeit. Das Eindringen von Goldman-Sachs in ein hohes Regierungsamt der deutschen GroKo unter einem SPD-Finanzminister fand nur in wenigen Medien Beachtung und blieb meist unkommentiert.

Als zweiten Staatssekretär holte SPD-Finanzminister Olaf Scholz Werner Gatzer (der zur Bahn AG gewechselt hatte) wieder zurück ins Finanzministerium, wo er zuvor für Wolfgang Schäuble (CDU-Finanzminister) die „schwarze Null“ gesichert hatte. SPD und CDU sind sich untereinander und der Finanzwelt in der GroKo also ganz nahe (und könnten eigentlich in punkto Finanzsektor als Parteien fusionieren).

Schon in der Vergangenheit zeigten sich hohe SPD-Politiker der Finanz-und Bankenwelt eng verbunden: So ging 2012 der ehemalige BND-Chef  Ernst Uhlau (SPD) als Berater zur Deutschen Bank, die sich in der Folge immer mehr als „kriminelle Skandalbank“ entpuppte mit rechtskräftigen Milliarden-Strafzahlungen wegen Geldwäsche, manipulierter Zinssätze, Betrug und Falschinformationen in US-Hypothekengeschäften usw.

Der SPD-Politiker Hans Martin Bury, ehemaliger Staatsminister im Bundeskanzleramt und im Auswärtigen Amt, war von 2005 bis 2008 Direktor und Vorstandsmitglied bei der Investmentbank Lehman Brothers. Nach deren Zusammenbruch im Zuge der Finanz- und Bankenkrise stieg er als Direktor bei der Nachfolgerin Nomura-Bank ein und wurde zugleich von Peer Steinbrück ausgerechnet in die SPD-Arbeitsgruppe „Mehr Transparenz und Stabilität auf den Finanzmärkten“ berufen. Und der frühere SPD-Arbeitsminister Walter Riester war von 2009 bis 2012 im Aufsichtsrat der Union Investment, die Investment-Fonds für Privatkunden anbietet.

Die anhaltende Liaison der SPD-Führung mit der Finanz- und Bankenwelt verheißt uns wohl für die GroKo-Politik nichts Gutes, insbesondere nicht im Fall einer erneuten und gar nicht unwahrscheinlichen Bankenkrise, angesichts der wieder gelockerten Regulierungen und zunehmenden Deregulierungen – womöglich ganz im Sinne des  Goldman Sachs-Staatssekretärs unter Olaf Scholz, der dann für die europäische Bankenaufsicht mit zuständig ist…

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: „SPD ist heute eine Partei der Akademiker, Berufspolitiker und Besserverdienenden“

Leserbrief an das Medienhaus Bauer:

 „SPD ist heute eine Partei der Akademiker, Berufspolitiker und Besserverdienenden“

Die nachfolgende Fakten belegen ziemlich eindeutig:  Die als „Arbeiterpartei“ gestartete und als „Volkspartei“ gescheiterte SPD ist heute in ihrem gehobenen Funktionärskörper eine abgehobene Partei der Akademiker und Besserverdienenden und spiegelt nicht mehr den eigentlichen Bevölkerungsquerschnitt wider –  und das vor allem im SPD-Stammland NRW der viel zitierten „Malocher und sozial Abgehängten“. Deshalb nimmt die sozialdemokratische Partei mit ihren fast  ausschließlich akademisch gebildeten Berufspolitikern als bestens bezahltes Führungspersonal, das selber auch nicht innerhalb der eigentlichen sozialen Brennpunkte und Milieus wohnt,  zwangsläufig den Blickwinkel des gehobenen Mittelstandes ein und bewegt sich in seiner abgehobenen Subkultur fern ihrer Klientel, mehr noch als die andere „große Volkspartei“.

Hier der Fakten-Check: für NRW:  Während in der Gesamtbevölkerung nur 31% das Abitur oder Fachabitur haben und nur 17% Akademiker sind, stellt sich der Akademiker-Anteil im 36-köpfigen SPD-Landesvorstand NRW wie folgt dar: Im Gesamtvorstand sind 78% Akademiker, im engeren 7-köpfigen Vorstand beträgt die Akademiker-Quote sogar 86 % , denn der Vorsitzende und sämtliche 5 Stellvertreter sind Akademiker. (Lediglich der Schatzmeister war vorher Gewerkschaftssekretär und Chefredakteur). Es dominieren Juristen, Lehrer, Ökonomen, Sozialwissenschaftler und Beamte. Die ganz wenigen Nicht-Akademiker im Landesvorstand haben aber andere gehobene Berufe, vom Bankkaufmann und Handwerksmeister über selbständigen Textilkaufmann bis zum aufgestiegenen Konzernchef einer Immobiliensparte.

Die 18 Mandatsträger im SPD-Landesvorstand  (11 Landtags- und 4 Bundestagsabgeordnete sowie 3 Europa-Abgeordnete) sind ebenfalls zu 78% Akademiker. Rühmliche Ausnahmen „zum Vorzeigen“ sind eine Krankenschwester und ein Akademiker, der vor dem zweiten Bildungsweg Bergmechaniker war. Wo sind heute in den Parteigremien die Handwerker und Fabrikarbeiter, die prekär Beschäftigten und Arbeitslosen, die alleinerziehenden Frauen und die Rentner, denen der Zugang zu den nicht repräsentativen Parlamenten akademisch verbaut ist?

.Das war zur „Blütezeit“ der NRW-SPD völlig anders, als die Arbeitnehmer und Betriebsräte sich auch in der damals repräsentativen und volksnahen Funktionärsschicht der Partei und als Mandatsträger wiederfanden und für absolute Mehrheiten sorgten. Inzwischen sind sie von ehrgeizigen und eloquenten „studierten Genossen“ komplett verdrängt wurden, die sich auf eine Dauerkarriere als „Berufspolitiker“ eingerichtet haben und von denen viele gleich nach dem (vereinzelt abgebrochenen) Studium in parteinahen Einrichtungen, von der AWO oder der Ebert-Stiftung bis zu den Stadtwerken,  beruflich gestartet und parteipolitisch gefördert worden sind, um nicht ins „akademische Proletariat“ abzurutschen.

Damit ging auch das Bewusstsein von einem bloßen „Mandat bloß auf Zeit“ völlig verloren, denn die meisten akademischen Genossen streben nach einem Mandat auf Lebenszeit als „ewige Berufspolitiker“ mit sicherem Spitzeneinkommen. Im Bundestag schafften sie es, dass sie sich als Mandatsträger nach nur 2 Wahlperioden von 8 Jahren Dauer soviel Rentenansprüche gesichert haben wie ein normaler Durchschnittsverdiener nach 45 Jahren.

Wen verwundert deshalb die oft fehlende Empathie der akademischen Agenda-Partei für das Millionenheer der wirklichen sozialen Verlierer und auf 48% gedeckelten Armutsrentner in diesem Land, in das sie sich als deren „politische Interessenvertreter“ nur theoretisch hineinversetzen können. Deshalb in der vergangenen  Wahlperiode auch die viel kritisierte Verschärfung statt Lockerung der Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger durch SPD-Arbeitsministerin Nahles?

Wann also will die SPD nach ihren historischen Wahlniederlagen in NRW mit fast 8% Stimmenverlusten und im Bund mit über 5% Verlusten nun endlich an eine ernsthafte Ursachen- und Fehleranalyse herangehen und sich „neu aufstellen“?   Dann kommt sie nicht umhin, der sehr unbequemen Tatsache ins Auge zu sehen, warum sie sich mit ihrer obersten Funktionärsschicht von ihren Stammwählern und ihrer sozialen Klientel komplett fortentwickelt hat und deshalb auch eine personelle Erneuerung dringend benötigt.

 

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: „Personaltableau der SPD-Minister kein Signal für wirklichen Aufbruch“

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, zur Vorstellung der neuen Minister-Riege der SPD für die GroKo:

 „Personaltableau der SPD-Minister kein Signal für wirklichen Aufbruch“

Auf den ersten Blick scheint dem SPD-Parteivorstand am  9. März unter der Regie der designierten Vorsitzenden Andrea Nahles – die von den Parteimitgliedern oder Delegierten noch gar nicht als Parteivorsitzende gewählt oder legitimiert worden ist – mit der Vorstellung ihrer 6 GroKo-Minister ein ausgewogenes Personaltableau gelungen zu sein.  Doch bei näherem Hinschauen relativiert sich der Eindruck für Insider recht schnell ,  denn es wird  mit dieser Minister-Riege doch wieder die Dominanz des rechten „Seeheimer Flügels“  sichtbar bei dieser personaltaktischen Entscheidung „von oben“. Und damit werden Zweifel genährt an dem tatsächlichen „Neuanfang“ einer sozialeren GroKo-Politik der SPD-Minister, wie der Parteibasis und der Bevölkerung versprochen wurde, denn die wichtigen Schlüsselressorts haben sich Verfechter der umstrittenen Agenda 2010 gesichert, ein Beleg des „Weiter so“.

Zwar sollen wohl mit den drei ausgewählten Frauen für die eher nachrangigen Ressorts Familie, Justiz und Umwelt einerseits die 30% weiblichen SPD-Mitglieder und andererseits zugleich die Mitte der Partei und der linke Flügel personell zufriedengestellt werden.  Das Familienressort bezeichnete der Altkanzler Schröder einmal geringschätzig als „Ministerium für soziales Gedöns“, obwohl Franziska Giffey als neue Familienministerin der einzige Lichtblick ist. Aus dem Umweltministerium sind seit langem die umweltrelevanten  Ressorts Bauen, Verkehr und Energie ausgegliedert, so dass ein Großteil der  Umweltpolitik von CDU-Ministerien gestaltet wird. Und die Justizmisterin hat faktisch die eingeschränkte Funktion einer Justitiarin der Bundesregierung.

Das einflussreiche Schlüsselressort Finanzen mitsamt der Rolle des Vizekanzlers hat sich ausgerechnet Olaf Scholz gesichert, der als Dienstältester der 5 stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden für ein paar Wochen nur deshalb „kommissarischer Parteivorsitzender“ sein durfte, weil die Parteibasis den peinlichen Satzungsverstoß bei der voreiligen „Inthronisierung“ von Andrea Nahles als „Hinterzimmer-Entscheidung“ nicht akzeptierte. Von den Parteitagsdelegierten erhält der an der Basis unbeliebte Olaf Scholz vom rechten „Seeheimer“ Parteiflügel  regelmäßig die wenigsten Stimmen, zuletzt gerade einmal knappe 59%. Als ehemaliger SPD-Generalsekretär unter SPD-Chef Gerhard Schröder zählt er noch heute zu den strammsten Verfechtern der an der Basis umstrittenen Agenda 2010. Längst ist es Historie, dass er als junger Juso mal Anhänger der dogmatisch-marxistischen „Stamokap-Theorie“ (Staatsmonopolkapitalismus) in ideologischer Nähe fast zur DKP war, ebenso wie die zur politischen Mitte gerückte künftige Umweltministerin Svenja  Schulz aus NRW.

Das zweitwichtigste Ressort für Arbeit und Soziales, in dem 42% des gesamten Bundeshaushaltes verwaltet und die gesamte Sozialpolitik gestaltet wird, hat sich ebenfalls ein bekennender Anhänger der Agenda 2010 gesichert: Hubertus Heil, der als früherer SPD-Generalsekretär mit nur 61% Unterstützung durch die Parteitagsdelegierten fungierte und als Wahlkampfmanager bei der Bundestagswahl 2009 für ein mageres 23%-Ergebnis mitverantwortlich war.  Dass ausgerechnet er in der Lage und willens sein soll, die soziale Ungerechtigkeit und Armut in diesem Lande zu beseitigen, glaubt wohl kein Parteimitglied. Und das ebenfalls wichtige Außenministerium in Männerhand sicherte sich Heiko Maas, Sohn eines Berufssoldaten aus dem gutbürgerlichen Saarlouis, der sich ebenfalls nicht als Agenda-Kritiker hervorgetan hat.  Sieht so sozialdemokratischer Neuanfang aus?

Bleibt nur die Hoffnung auf die  mitgliederstarke NRW-SPD als Landtagswahl-Verlierer,  die in ihrem Stammland 8% der Stimmen verlor und seither besonders laut nach „Erneuerung“  ruft. Allen voran  ausgerechnet deren früherer Generalsekretär und für die Wahlschlappe mitverantwortliche Landesminister Michael Groschek, früher in der Immobilienwirtschaft tätig. Der 62-jährige wird flankiert vom  71-jährigen Fraktionsvorsitzenden Norbert Römer,  früher in der privaten Versicherungswirtschaft, als Zeitsoldat  und als Redakteur der IGBCE- Mitgliederzeitschrift tätig, der nach der Wahlniederlage krampfhaft an seinem Fraktionsvorsitz festhielt –  (übrigens ein politischer Ziehsohn des damaligen „SPD-Rechtsaußen“  und legendären „Kanalarbeiters“ Horst Niggemeier, dem im Jahr 2000 verstorbenen SPD-Unterbezirksvorsitzenden von Recklinghausen). Diese beiden Garanten für ein „Weiter so“ sollen plötzlich die Hoffnungsträger  für die personelle und inhaltliche Neuaufstellung der SPD von der Landes- bis zur Bundesebene sein? Ein armseliges Aufbruch-Signal…

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: „SPD-Minister der GroKo blockieren erneut wichtige UN-Initiative“

Leserbrief an das Medienhaus Bauer zu der aktuellen Blockade des UN-Paktes für Menschenrechte durch die Bundesregierung:

 „SPD-Minister der GroKo blockieren erneut wichtige UN-Initiative“

Einen Vorgeschmack darauf, was uns von der nochmaligen GroKo in wichtigen politischen Fragen an skandalösen Fehlentscheidungen erwartet, lieferten uns nun zum zweiten Mal die dort zuständigen SPD-Minister mit der erneuten Blockade eines wichtigen UN-Abkommens für die Menschenrechte.

Zur Erinnerung: Erst im vorigen Jahr hatte die GroKo unter dem federführenden SPD-Wirtschaftsminister und späteren Außenminister Sigmar Gabriel  – zusammen mit den Atommächten und den NATO-Staaten – die Unterzeichnung des UN-Atomwaffenverbotsvertrages verweigert und boykottiert, der am 7. Juli 2017 von 122 UN-Mitgliedsstaaten feierlich unterzeichnet wurde. Mit der Ablehnung eines Oppositionsantrages der Grünen und Linken im Bundestag für die Unterzeichnung hatten die Regierungsparteien CDU und SPD sich sogar den bloßen Verhandlungen bei den UN verweigert und obendrein eine Protestnote erwogen, um sich die „Option der nuklearen Teilhabe“ offenzuhalten.  Damit stellten sie sich auch gegen den Willen der Bevölkerung, denn laut Umfragen sprachen sich 70% der Deutschen für das Verbotsabkommen für Atomwaffen aus. Die Initiatoren bei der UN, das involvierte zivilgesellschaftliche Bündnis ICAN, erhielt sogar im Dezember 2017 dafür den Friedensnobelpreis. Alles das interessierte die SPD-Minister der GroKO nicht, deren eigener  Friedennobelpreisträger Willy Brandt als überlebensgroße Statue in der Parteizentrale thront (und sich wahrscheinlich im Grab umdrehen würde…)

Denn nun hat die nur geschäftsführende Bundesregierung, namentlich die zuständigen SPD-Ressortminister in ihren letzten Amtstagen vor der Regierungsneubildung ein weiteres wichtiges Abkommen der Vereinten Nationen abgelehnt.  Mit dem unterschriftsreifen UN-Pakt sollten verbindliche Menschenrechtsnormen für transnationale Konzerne und Unternehmen festgelegt werden, um die Menschen in ärmeren Ländern vor Ausbeutung, Landvertreibung, Korruption oder Bedrohung ihrer Gewerkschaftsvertreter  zu schützen.  Doch SPD-Außenminister Gabriel, unterstützt von dem Ressort Justiz unter SPD-Minister Heiko Maas, dem Ressort Arbeit und Soziales unter SPD-Ministerin Andrea Nahles (designierte SPD-Vorsitzende) sowie dem CSU-geführten Entwicklungsministerium lehnten das einhellig ab. Sie  beharren im Interesse der eigenen Wirtschaft  auf bloße „freiwillige Selbstverpflichtungen“ der Konzerne, die bisher so gut wie nie wirklich funktioniert  haben, wie die vielen skandalösen Menschenrechtsverletzungen der jüngsten Zeit zeigen. Offensichtlich haben  die Konzernlobbyisten wieder einmal Gehör bei unserer Regierung gefunden, zu Lasten der oft rechtlosen Arbeitnehmer und Betroffenen in den ärmeren und teils korrupten Ländern.

Offenbar sind für die SPD-Spitzenpolitiker in einer „marktkonformen Demokratie“ sogar die Menschenrechte „verhandelbar“. Jedenfalls wollen Sie auch die anderen EU-Länder auf diese Verhandlungslinie bringen. Wir ahnen nun, was sie unter „inhaltlicher Neuausrichtung sozialdemokratischer Politik“ verstehen oder missverstehen. Wenn die Parteibasis bei ihrer Forderung nach „inhaltlicher und personeller Neuausrichtung“ ihre Parteioberen dafür nicht abstraft, dann wird wohl die älteste Partei Deutschlands durch die Wähler insgesamt weiter abgestraft werden.

Wilhelm Neurohr, Haltern am See. NRW