Zwei Lebensläufe. 2.Teil

Die Titelgeschichte „Auf der Erde ist der Teufel los“ *)  ist eine Satire mit den zumeist üblichen Überzeichnungen. Sie soll zum Nachdenken anregen, zum Infragestellen, zum Hinterfragen, sie soll Widersprüche aufdecken und zum Widerspruch aufrufen, zur Skepsis, um die eigene Position zu bestimmen, die des Lesers und die des Autors, in diesem Fall meiner eigenen. […]

Ich bin durch die vielen Begegnungen und Anregungen, sowie durch eigene Lektüre, vor allem Deschners Bücher, Agnostiker geworden, und durch ihn und, angeregt durch die Philosophie der Aufklärung, durch die neue Physik und die Urschriften des Gautama Buddha, Atheist. Dazu habe ich eigentlich alles gesagt bez. geschrieben und in meinen Schriften veröffentlicht.

Während Deschner nie mehr von den Jesuiten zum Disput eingeladen worden ist, mein Freund Wolfgang Beutin wurde es. Wir kennen uns seit 1962 durch –  Deschner. Wolfgang hat Beiträge in vielen Büchern Deschners und publiziert, in den letzten Jahren zusammen mit seiner Frau Heidi, ein literaturwissenschaftliches, historisches, biografisches oder zeitdokumentarisches Buch nach dem andern. Fast alles mit Bezug auf unsere Gegenwart.

Der Disput mit Jesuiten: Vor etlichen Jahren durfte ich mit Wolfgang an einem Kolloquium in einer jesuitischen Akademie bei Dortmund teilnehmen. Thema: Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Musil war Agnostiker und Atheist. In dem Roman beginnt Ulrich, ein junger Intellektueller, ein inzestuöses Verhältnis mit seiner verheirateten Schwester Agathe. Einer der geistlichen Herren lenkte die Diskussion auf die Frage, ob Ulrich und Agathe wohl den Geschlechtsakt vollzogen haben, und verhalf damit den anderen anwesenden geistlichen Herren zu einer hitzigen Diskussion, welche die übrigen Fragen zeitweilig überlagerte.

Die Einladung zu diesem Kolloquium an Wolfgang Beutin war erfolgt, weil der Literaturwissenschaftler über Musil publiziert hat.

Jesuiten sind stets auf dem neusten Stand der Wissenschaften. Sie kannten und anerkannten das kopernikanische Weltbild. Für sie war die Erde keine Scheibe und Galilei im Recht. Sie forschen im Auftrag des Papstes, dem sie absoluten Gehorsam und Schweigen über ihr Wissen geschworen haben.

Von Wolfgang Beutin gibt es u. a. eine Luther-Biografie: „Der radikale Doktor Martin Luther“. Frankfurt a. M. 2016, 3. Aufl. Hierzu meine Rezension: „Wer war Martin Luther? Was hat er gelehrt? Was hat er gewollt?“  →  https://stahlbaumszeitfragenblog.wordpress.com/2017/01/06/wer-war-martin-luther-was-hat-er-gelehrt-was-hat-er-gewollt-rezension/

War er „Der radikale Doktor Matin Luther“, den Wolfgang Beutin uns in seinem gleichnamigen Buch präsentiert? Oder war er ein innerlich zerrissener, daher auch in seinem Denken widersprüchlicher Psychopath? **)

*) → https://stahlbaumszeitfragenblog.wordpress.com/2015/08/14/auf-der-erde-ist-der-teufel-los-oder-jesus-anarchist/

**) Siehe auch:“Tiefe Wurzeln – Eine Kurzgeschichte aus dem Jahre 1954 zum Reformationstag 2015″  → https://stahlbaumszeitfragenblog.wordpress.com/2015/10/30/tiefe-wurzeln-eine-kurzgeschichte-aus-dem-jahre-1954-zum-reformationstag-2015/ […]

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Heidi Beutin/Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Rezension von Hartmut Henicke

   Dieses Werk des Ehepaares Beutin ist die wichtigste Publikation zum Themenjahr 2018 „Weltkriegsende/Novemberrevolution“. Die Autoren haben es ihren nahestehenden, insbesondere verstorbenen wissenschaftliche Weggefährten gewidmet. Diese Geste bewegt, wenn man das Buch gelesen hat.

    Die Autoren bekennen ausdrücklich, sich dem Thema als Literatur- und Kunsthistoriker anzunähern. Sie tun das auf höchstem theoretisch-methodischem Niveau und gleichzeitig mit faszinierend souveräner literarischer Leichtigkeit. Dieses Buch liest sich so weg. Und es ist anregend, weil so gut nichts offen bleibt. Auch dort, wo wichtige Fragen „nur“ ansatzweise beantwortet oder tangiert werden, hallen als sie dem konzentrierten Leser wie die Reststrahlung des Urknalls als Denkimpulse nach. Auch darin reflektiert sich Kompetenz und Meisterschaft, wie in den souverän das Quellenmaterial tief durchdenkenden Antworten und Urteilen. Ihrer Absicht, die deutschen Intellektuellen im Kontext der Novemberrevolution zu zeichnen werden die Autoren virtuos gerecht. Dieses „Who‘s Who?“ der deuschen Novemberrevolution lässt keine soziale, politische und ideologische Richtung der Kategorie Intelligenz aus. Mit ihren umfangreichen Personendossiers haben Heidi und Wolfgang Beutin einen entscheidenden Teil des historischen Subjekts dieser Revolution und Gegenrevolution definiert, klassifiziert, teilweise meisterhaft psychologisiert, in soziale, politische und kulturelle Zusammenhänge gestellt. Ihre Arbeit hat hohen Quellenwert. Die Auswahl des Zitierten ist treffend wie die Wertung. Das Spannende dieser Studie ist die breite, logisch klassifizierte Differenzierung zwischen Revolution und Konterrevolution aber auch innerhalb der politischen Lager bzw. ideologischen Richtungen. Mit ihren Persönlichkeitscharakteristiken präsentieren die Autoren nicht nur ein breites Spektrum von Ansichten, die den Erkenntnisprozess eines historischen Umbruchs reflektieren, sondern auch Erfahrungen, spontane Gefühle reflektieren. Die Begegnung Rosa Luxemburgs und Tilla Darieux – eine marginale Sekunde im Epochenwechsel während des Innehaltens und doch so bezeichnend für das, was geschah. An dieser Stelle versteht der Leser den Titel des Buches.

   Er hört die „Fanfaren einer neuen Freiheit“ im Hintergrund. Die Beutins vermessen ihren Forschungsgegenstand, die Intelligenz, nicht im Entferntesten mit den ideologischen Rastern, die sich aus der ideologischen Versteinerung nach den Weltkriegsrevolutionen insbesondere seit dem Ende der 1920er Jahre ergaben.

Dieses Buch ist das Elektrokardiogramm der Geisteshaltung im Deutschland des verlorenen Weltkrieges in aller psychologischen und ideologischen Sensibilität und Genauigkeit. Es spiegelt die subjektive Verfasstheit der Menschen dieses Landes, die den Aufbruch in die neueste Moderne antraten, die realen subjektiven Rahmenbedingungen der Erneuerungsalternative. Als Leser getraut man sich nicht einmal den überheblichen Gedanken, die Intellektuellen von den proletarisierten verelendeten Klassen abzuheben, zumal die Autoren eben auch die politisch ahnungslosen Intellektuellen, Künstler, Literaten meisterhaft zeichnen. Andererseits: Diejenigen namhaften bekannten, ach heute wieder vergessenen Persönlichkeiten, die in Beutins Buch den größten Epochenkonflikt des neuen Jahrhunderts reflektieren, waren allesamt keine Durchschnittsmenschen, sondern Denker, Künstler, Moralisten, Literaten, Journalisten, Politiker, Parteifunktionäre, einschließlich der politisch hochgebildeten Arbeiterbewegung, Reagierer auf die spontane Revolte qualifizierter kriegsmüder Matrosen, Soldaten und Proletarier. Diese Literaten, Philosophen, Wissenschaftler und Politiker aller Klassen mussten nicht nur das Geschehen interpretieren, sondern persönliche Entscheidungen treffen. Sie standen vor der epochalen praktischen Gestaltungsaufgabe, aus dem Regimezusammenbruch und der spontanen sich zur Revolution ausbreitenden Revolte eine historische tragfähige Zukunftsalternative zu denken und zu entwickeln, deren Parameter zum einen durch die Siegermächte vorgegeben waren und zum anderen von den Räten der Matrosen, Soldaten und Arbeiter, die gleichermaßen der intellektuellen Führung Deutschlands Angebote machten. Ihnen standen die gegenüber, die mit der alten zusammengebrochenen Welt unterzugehen drohten. Das waren jene unter den gebildet und erfahren Denkenden, die nicht über den Schatten ihrer Werte und Ansichten der Vergangenheit springen konnten. Zwischen Hoffnungen und Ängsten, Humanismus und Hass, Einsicht und Tradition schwankten die großen Geister der Nation, auch der elitären Klassen und Schichten. Harry Graf Kessler, Walter Rathenau, die Gebrüder Thomas und Heinrich Mann, Epochengestalten. Die Autoren benötigen nur Absätze, um dies deutlich zu machen.

   Beutins Arbeitsergebnis zeigt, an einem ungewöhnlich breiten Personenkreis, wie dieser dachte und agierte. Was die Autoren diesbezüglich präsentieren und kommentieren, hat erstrangige Bedeutung für das Verständnis des Missverhältnisses zwischen historisch materialistischer Analytik der kausalen gesellschaftlichen Zusammenhänge und der subjektiv differenzierten in der logischen Konsequenz dahinter zurückbleibenden Wahrnehmung und sich daraus ergebender Handlungsweise. Die Autoren reflektieren bis in die marxistische Linke hinein de facto die Folgen der im wilhelminischen Kaiserreich in den Köpfen seiner intellektuellen Elite gebrochenen Geistesgeschichte. Und auch im marxistisch linken Lager erkennen und benennen die Autoren deren Grenzen. Diese Abschnitte sind so stark, dass darauf näher eingegangen werden muss, auch wenn alle in diesem Buch behandelten theoretisch-methodischen Aspekte eine rezeptive Diskussion verdienen, was in diesem Rahmen nicht möglich ist und deshalb aber anempfohlen wird. Die Jahrhundertjubiläen sind noch nicht vorbei und die Rezeptionsthemen findet man in Beutins „Fanfaren“.

   Die Autoren spiegeln in erster Linie und mit Sympathie die Rationalisten, Idealisten, Illusionisten, Pazifisten und Linken. Und sie sehen diese mit anderen Augen als Volker Weidemann in seinem Buch „Träumer“ nicht als Spinner und konzeptionslose vom Volk zeitweilig geliebte Narren, sondern eben als moralischen Werten und einer humanistischen Ethik verpflichteten Literaten, von denen ohne politisches Herrschaftswissen und ökonomische Analytik nichts anderes verlangt werden kann als Charisma, selbstloses leidenschaftliches Engagement bis zur Hingabe, auch Fehler und Konzeptionslosigkeit. Politik, insbesondere in revolutionären Krisensituationen ist bis zur geordneten arbeitsteiligen Kooperation von neuen Führungskräften und Strukturen eine spontane sich allmählich organisierende vor allem emotionale Aktion. Aus dieser Aktion entwickelt sich aus der Leidenschaft auf der einen und der lähmenden Paralyse auf der anderen Seite erst allmählich die kühl, auch machiavellistisch kalkulierte strategisch-taktische Konzeption auf den sich polarisierenden ideologischen und Interessen gesteuerten Flügeln der Revolution. Den Autoren ist dies klar und wegen dieses Standpunktes bewerten sie die Revolutionsliteraten höher als der Autor der „Träumer“. Worin aber der darüber hinausgehende Wert dieses Buches besteht, ist die sehr akzentuierte Differenzierung der marxistischen Linken. Die Autoren stützend sich dabei auf die Biografie-, und Sachthemen-Experten, wie die Bezugnahmen im Anmerkungsapparat erkennbar machen. Aber in der Kernaussage darf von der Eigenleistung der Autoren ausgegangen werden. Die Charakterisierung der Erkenntnisgrenzen Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs gehört, wie schon zuvor im Falle Kessler, Rathenau, Manns u.a. zu den stärksten erkenntnistheoretischen Leistungen, auch wenn Rosa Luxemburg betreffend, der Rezensent Einwände geltend macht, die sich vor allem auf die bei Eberhard Kolb zitierten „Grundannahmen in der sozialistischen Lehre“ beziehen. Auch wenn Rosa Luxemburg gleichfalls diesen Grundannahmen aufsaß, war ihre Geschichtsauffassung keinesfalls diesem eher Kautskyanischen und russischen Gesellschaftsphilosophieverständnis als dem Labriolas Philosophie der Praxis im Sinne der Feuerbachthesen näher. Wie schwer der Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie, politischer Ökonomie und Politik in der Aktion im Krisenmoment wirkt, erfährt die Menschheit in jedem neuen Konflikt. Dass selbst die theoretisch weitsichtigsten Köpfe in den Momenten versagten, in denen sie sich den Sternen so nahe wähnten, ist vielleicht ein Grund, neu über theoretisch begründeten Pragmatismus oder Machiavellismus nachzudenken. Dass die Gegenrevolution, die in diesem Buch in dieser Hinsicht unterbelichtet ist, was dem keinen wirklichen Abbruch tut, aber immerhin daran gemahnt, dass Lassalle als erster das Problem erkannt hatte, sei hier angemerkt. In diesem Zusammenhang sollen von den vielen theoretisch-methodisch anregenden Fragen nur noch vier aufgegriffen werden sollen.

   Erstens: Problematisch mit Blick auf die faschistische Diktatur, wenn auch nicht ganz abwegig im Hinblick auf die frühzeitige parallele Konterrevolution ist die revolutionstheoretische Interpretation des Staatsrechtlers Hugo Preuß durch die Autoren im Hinblick auf den engeren nationalen Revolutionszyklus in Anlehnung an die Französische Revolution und dessen missverständlicher Hinweis auf die Militärdiktatur als notwendige Zurückführung der radikalen Revolution auf ihr objektives Maß. (S. 35) Im Kontext mit dem nachfolgenden Abschnitt, der „Die Konterrevolution“ thematisiert, ist das einst von Friedrich Engels als allgemeingültig gezeichnetes Revolutionsschema falsch. Denn es gab in der deutschen Novemberrevolution kein radikal verfolgtes utopistisches Ziel, dass durch zeitweilig überhöhte Radikalität durch einen Thermidor auf das objektive Revolutionsziel zurückgeführt werden musste. Im Gegenteil: Selbst Spartakus verfolgte sozioökonomisch wie staatspolitisch mit der Rätedemokratie allein ein konsequent radikaldemokratisches Ziel. Und auch die Rätemacht war keinesfalls a priori eine kommunistische Machtstruktur. Sie wurde von Anfang an, weil situationsbedingt, partiell selbst im bürgerlichen Lager adaptiert. Die Soldatenräte prägten wegen ihrer sozial heterogenen Zusammensetzung ohnehin den klein- und bürgerlichen Charakter der Revolution und mehr noch die rechtskonservative nationale Bürgerrätebewegung eben den nichtproletarischen. Doch allein die verschwindende Minderheit der rätekommunistischen Linken als marginalen Ausdruck revolutionärer Radikalität zu bagatellisieren und damit deren Überbewertung durch die konservative Rechte zur Begründung gegenrevolutionärer Brutalität als hinterhältige Meinungsmanipulation zu bewerten, ist wissenschaftlich nicht korrekt. Von der Spartakusgruppe bis in die USPD hinein und auch über diesen Parteirahmen hinaus, wie die Beutins u.a. mit dem Beispiel Rathenaus zeigen, wurden die „bolschewistischen“ Sowjets tatsächlich als Vorbild bzw. Modernisierungsvariante verstanden. Bremen und Bayern bewiesen, den radikalrevolutionären Charakter des Rätegedankens, wie die Autoren kenntlich machen. Vom Gegenrevolutionären Standpunkt war die Bekämpfung des „Bolschewismus“ deshalb logisch konsequent. Daran ändert die Selbstentmachtung des Zentralrates der Arbeiter und Soldatenräte gar nichts. Auch wenn die deutschen Rätevorwiegend als basisdemokratischer Ansatz bewertet werden, enthalten sie wie die Autoren unter Berufung auf die seinerzeitigen Akteure zeigen, systemveränderndes Potenzial, wie auch die Räterepubliken aber auch der Rätekommunismus im Gegensatz zum Parteikommunismus beweisen. Leider fokussieren sich die Autoren ideologieanalytisch allein auf den Antisemitismus und Rassismus der Rechten. Das Wesentliche war aber die Adaption des Sozialismus in seiner nationalen Mutation.

   Nationalsozialismus ist war der offensive Ausdruck der historischen Defensive. Obgleich der Name Eduard Stadtler auf der Seite der Konterrevolution viermal erwähnt wird, bleibt diese Person als einer der wichtigsten ideologischen Repräsentanten und Aktivisten der Rechten unterbelichtet. Stadtler der Initiator, Agitator und Organisator des Präfaschismus schaffte es nicht zuletzt mit seinen Erfahrungen im revolutionären Russland, den Spitzen der deutschen Wirtschaft 500 Mio Reichsmark für die Kriegskasse der Gegenrevolution abzunehmen. Seine Vorträge und Schriften verdienen als historische Quelle Aufmerksamkeit. Als Inspirator des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hat er wohl die treffendste Charakteristik der von rechts wahrgenommenen Gefährlichkeit der intellektuellen linken Führungskräfte und damit auch des Kräfteverhältnisses von Revolution und Konterrevolution gegeben.

   Zweitens: Die Auseinandersetzung der Autoren mit dem Verratsvorwurf gegen die regierende Führung der Mehrheitssozialdemokratie, denen schon von linken Zeitgenossen ein bürgerlicher Standpunkt zugeschrieben wird, von dem aus sie gar keinen Verrat begehen konnten, scheint in diesem Sinne zwar argumentativ plausibel, ist aber logisch nur eine andere Lesart des Verratsvorwurfs. Denn es war nun einmal die Sozialdemokratische Führung, die ihre eigene programmatisch erklärte „soziale Revolution“ verriet. Theoretisch scheinen auch 100 Jahre danach wichtige Probleme immer noch unklar zu sein, was keinesfalls den Autoren Beutin angelastet werden kann. Berücksichtigt man allerdings das marxistisch induzierte Erfurter Parteiprogramm steht staatsrechtlich dahinter nichts anderes als eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie mit sozialem Charakter, auch sehr weitgehenden Sofortforderungen, die noch nie erfüllt wurden. Dieses Ziel hat die MSPD-Führung ebenso wenig verraten, wie der Parteivorsitzende Ebert, der seinen Parteifreund Scheidemann dafür wütend rüffelte, weil dieser mit der Ausrufung der Republik der Nationalversammlung zuvorkam. Eberts tradiert stures weltfremdes Demokratieverständnis verkannte, dass die elementaren tatsächlichen systemischen Veränderungen von der revolutionären Aktion und nicht von den parlamentarischen Gremien hervorgebracht werden. Die deutsche Revolution war von Anfang an mit dem Defizit einer unglaublichen Leichtgläubigkeit und Illusion gegenüber der Gegenrevolution belastet. Das zeigte sich sowohl in der Delegierung der revolutionären Beseitigung der materiellen Grundlagen des preußischen Ancien régimes (Großgrundbesitz, Beamten- und Militärapparat) vom Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte an die Nationalversammlung wie an der Rückgabe des beschlagnahmten Büros der Antibolschewistischen Liga durch die revolutionären Matrosen. Und das Sozialisierungsprojekt war de facto mit dem Stinnes-Legien-Pakt erledigt.

   Drittens: Eduard Bernstein prognostizierte 1899 in seiner theoretischen Grundlegung des Reformismus den Marx’schen Begriff „Diktatur des Proletariats“ als Charakterisierung des künftigen Staatstyps mit folgendem bedenkenswerten knappen Absatz: „Die Diktatur des Proletariats heißt, wo die Arbeiterklasse nicht schon starke eigene Organisationen wirtschaftlichen Charakters besitzt und durch Schulung und Selbstverwaltungsköper einen hohen Grad von geistiger Selbständigkeit erreicht hat, die Diktatur von Klubrednern und Literaten. Ich möchte denjenigen, die die Unterdrückung und Schikanierung der Arbeiterorganisationen und Ausschluss der Arbeiter aus der Gesetzgebung und Verwaltung den Gipfel der Regierungskunst erblicken, nicht wünschen, einmal den Unterschied in der Praxis zu erfahren. Ebenso wenig würde ich es für die Arbeiterbewegung selbst wünschen.“ (Bernstein, Voraussetzungen des Sozialismus… Dietz Berlin 1991 [1899], S.206 f.) dieses Resümé, ob als Vorwegnahme einer vorgeblich im proletarischen Interesse mit revolutionärem Terror durchgesetzten parteirichtungsideologischen Minderheitenrevolution und ihrer verheerenden Folgen oder als blanquistische Fehlinterpretation der Marx/Engels‘schen Schlussfolgerungen aus Pariser Kommune, entspricht de facto der Luxemburgschen Kritik an der Russischen Revolution zwei Jahrzehnte später.

    Viertens: Die Autoren haben mit ihren „Fanfaren der Freiheit einen bemerkenswerten Ansatz für die Bewältigung der Vereinigung von revolutionärer Spontaneität und intellektuellem Potential im Zusammenbruchsaugenblick gewählt und gefunden. Und sie machen sich die Darstellung des Problems nicht mit den Stereotypen des Klassenstandpunktes leicht, die den Intellektuellen nach leninistischer Lesart in den Pro- und Konterrevolutionär teilen. Sie stellen aber am Ende trotz ihres wichtigen Rückgriffs auf frühere Geschichtsepochen bis zurück in die Antike dennoch nicht die Gretchenfrage, mit der das Problem der Spaltungen sowohl in der modernen Kapital- und Lohnarbeitsgesellschaft, der Intelligenz aber auch innerhalb des sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Lagers sowie speziell der intellektuellen Linken im engeren Sinne erklärt werden kann: nämlich die erkenntnistheoretische und damit philosophische Frage nach der historische materiellen Determiniertheit und wechselseitigen Beeinflussung aller Gesellschaftserscheinungen und dem daraus resultierenden permanenten konkret-praxisorientierten Erkenntnis- und fortwährendem Theorieentwicklungsprozess im Gegensatz zum ideellen, von humanistischen und bürgerlichen Freiheitswerten bestimmten. Umso höher ist die marginale Bezugnahme der Autoren auf diesen Aspekt in der Einleitung (S. 15 unten) zu bewerten, die beweist, dass die Autoren sich dessen bewusst sind!

   In den weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Gegenwart, in der mehr denn je pluralistisch fragmentarische Unverbindlichkeit gegen mystische und populistische Manipulation wirkungslos verteidigt wird, geht es in Wirklichkeit um einen wissenschaftlichen Blick auf die Geschichte. Die enorme Schwierigkeit dessen ist historisch erklärbar. Erkenntnistheoretisch musste von der Liquidierung des heidnisch materialistischen Denkens seit der Zerstörung der Bibliothek von Alexandria bis zur Neuentdeckung des Materialismus durch die intelligentesten Köpfe des aufklärerischen und klassischen Bürgertums, vor allem durch die Hegelsche dialektische Veredelung des Materialismus Feuerbachs nicht nur eine eineinhalb Jahrtausende platonische Denktradition überwunden werden, um die wissenschaftliche Kontinuität zum antiken Denken wieder herzustellen. Zugleich musste die im Gefolge der Rezeption dieser dialektisch-historisch-materialistischen Denkrevolution durch permanente Weiterentwicklung gegen deren Vulgarisierung und bürgerliche Revision angegangen werden. Für diesen Kraftakt fehlten schlicht die fähigen intellektuellen Köpfe nicht zuletzt wegen der fehlenden strukturellen Bildungsvoraussetzungen. Für den Kapitalismus, ob in seiner aktiengesellschaftlichen oder kommunistisch drapierten staatskapitalistischen Variante ist wissenschaftliche Gesellschaftserkenntnis eine existenzielle Bedrohung.

Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die NovemberrevolutionVerlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) (1. August 2018)
• Gebundene Ausgabe: 308 Seiten, EUR 49,95
• ISBN-10: 3534270452
• ISBN-13: 978-3534270453

Neuerscheinung: Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution

Coverbild Beutin, Fanfaren -1-

Fanfaren -2-
Klappentext

Fanfaren -3-

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Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution  

Verlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) (1. August 2018)

Gebundene Ausgabe: 308 Seiten, EUR 49,95
ISBN-10: 3534270452, ISBN-13: 978-3534270453

 

 

 

 

Martin Luther: Ein Reformator mit Makel. Bericht von Christina Kirsch über einen Vortrag von Wolfgang Beutin

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Wolfgang Beutin bei seinem Vortrag über Luther. Foto: Kirsch

Luther allerorten. Der Historiker Wolfgang Beutin verschwieg in seinem Vortrag an der Urspringschule die Schattenseiten des Kirchenerneuerers nicht. Was fand Luther für eine Gesellschaft vor? In welchem Zustand war 1517, dem Jahr seines Thesenanschlags, die Kirche? Beutin beschrieb im ersten Teil seines Vortrags die Zeit und den Einfluss der Kirche. „Die Kirche war ein wichtiger Machtfaktor der damaligen Gesellschaft“, sagte der Referent. Päpste verschenkten Ländereien, unter anderem an Spanien und Portugal. Unter dem Vorwand der Heidenmission wurden Ureinwohner Lateinamerikas ermordet.

Päpste führten Kriege

„Päpste führten an der Spitze ihrer Heere Kriege“, sagte Beutin, der schon 1982 vor Luthers 500. Geburtstag das Buch „Der radikale Doktor Martin Luther“ veröffentlichte. In der dritten Neuauflage ist das Buch aktualisiert, erweitert und mit aktuellen Positionen unter anderem von Margot Käßmann und Heiner Geißler angereichert worden. „Man kann sich die Machtfülle der Kirche des 16. Jahrhundert heute nicht mehr vorstellen“, sagte der Historiker. „Der Papst beanspruchte die Weltherrschaft und die geistliche Rechtsprechung durchdrang die weltlichen Gerichte“. Zu Luthers Zeiten durften Laien keine Bibel besitzen, die Kirche hatte das Monopol der Lehre. Luther wandte sich gegen diese Machtfülle und ihre Auswüchse. „Die Ablehnung der Werkheiligkeit ist der Kern von Luthers Lehre“, erläuterte der Wissenschaftler. Unter Werkheiligkeit versteht man die Vorstellung, dass sich der Mensch durch gute Werke oder Gebete seinen Aufenthalt im Himmel sichern oder zumindest besser erwirken kann. In vorreformatorischer Zeit bestand ein abgestuftes System der Gnadenmittel, mittels derer der Mensch schon zu Lebzeiten für sein Seelenheil sorgen konnte. Der Kirche brachten diese Ablasszahlungen enormen Reichtum. Beutin fasst Luthers Lehre mit dem Satz „An die Stelle des moralischen Zwangs steht freiwilliges Guthandeln“ zusammen. Das Geld und Gut, das die Kirche gestohlen habe, müsse zurückgegeben werden, forderte Luther. Von sieben Sakramenten entfallen fünf und der Unterschied zwischen geistlichem und weltlichen Stand müsse eingeebnet werden. Mit der Forderung „Es ist doch immerfort ein Mensch so wertvoll wie der andere“ verlangte Luther die Gleichheit aller Menschen.

Luthers Hetztiraden

Auch den Frieden, „der das größte Gut auf Erden ist und worin alle weltlichen Güter inbegriffen sind“, forderte er. Unbestritten sind Luthers gute kirchenkritischen Ansätze, aber es gibt auch noch den anderen Luther. Es ist ein Theologe, der Hetztiraden gegen Juden und Türken führte und der „wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ wetterte. Nach Beutin war Luther kein Antisemit, sondern antijudaistisch eingestellt. Er habe die Juden abgelehnt, weil die gegen Jesus gewesen seien. Nach Luther durften die nicht getauften Juden verfolgt werden. Auf den Reformator fallen noch andere Makel. „Luther vertrat die Ansicht, dass Frauen, die sexuellen Verkehr mit dem Teufel hatten, verbrannt werden durften“, sagte Beutin. Luther habe zur Hexenverbrennung widersprüchliche Aussagen gemacht. „Er empfahl theoretisch die Hexenverbrennung und wollte andererseits die Hexen vor dem Tod bewahren“. Luther sei der Meinung gewesen, dass das Böse nicht auszurotten sei. So schlug er sich auch im Bauernkrieg auf die Seite der weltlichen Obrigkeit, der Fürsten. Für Beutin spricht daraus der Realitätssinn der Reformators, der die Fürsten für die Durchsetzung seiner innerkirchlichen Erneuerung brauchte. Am Ende des Vortrags blieb ein zwiegespaltenes Lutherbild. Luthers Verdienste um Sozialethik und die Säkularisation müssen demnach nicht geschmälert werden. Aber seine feindselige Haltung gegenüber den Juden und seine schmeichlerische Nähe zu den Fürsten gehören ebenfalls zu Luther. Man dürfe von einem einzelnen Gesichtspunkt nicht auf die ganze Gedankenwelt Luthers schließen, empfahl Beutin.

CHRISTINA KIRSCH

[Ehinger Tagblatt. Südwestpresse vom 18.02.2017}

Neuerscheinung: »Verschiedene Ansichten. Neue zeitkritische Beiträge« von Dietrich Stahlbaum

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Klappentext:

Auch für den 90-Jährigen ist es eine „Selbstverständlichkeit, das Zeitgeschehen kritisch zu begleiten und im Netz mitzudebattieren.“ Dies ist nun sein 10. eBook, Fortsetzung des neunten mit Beiträgen des letzten Jahres (2016) zu den gleichen Themen (aktuelle Politik, Globalisierung, Kolonialismus, Krieg und Pazifismus, Flüchtlinge, Fluchtursachen, alte und Neue Rechte, ihr Rassismus, ihre Ängste; philosophische Betrachtungen…) Dazu: Die Arier.  Der folgenschwere Missbrauch eines Begriffes durch Rassisten, Verschwörungstheorien; Entwicklungshelfer – ein Afrika-Fest in Bild und Text, Wer war Martin Luther?… – Rezension eines außergewöhnlichen Buches und ein Zeitungsbericht zu Stahlbaums 90.

Der Autor: geboren 1926, aufgewachsen in einem völkisch deutsch-nationalen Milieu, militaristisch erzogen, faschistisch indoktriniert. „Hitlerjugend“, Militär, I944-45 an zerbröckelnden Fronten, 1949-54 bei der Fallschirmtruppe der französischen Legion in Algerien und Vietnam. Heimkehr als Kriegsgegner. Engagement in Bürgerinitiativen und in der Friedens- und Ökologiebewegung. Berufe: u. a. Fabrikarbeiter, Buchhändler, Verlagsangestellter, Bibliothekar. Publikationen: Prosa, Lyrik, Essays, Reportagen etc. Ein Roman, ein „Lesebuch“, Print- und eBooks.

INHALT:

Verschiedene Ansichten – – Warum feiert heute der Nationalkonservatismus Urständ in Europa? – – Gesamtkultur, Menschheitskultur – – „Fremde“ Kulturen und Verhaltensweisen – – Historische Fluchtursachen – – Deutsche Auswanderer, deutsche Kolonialherrschaft – – PEGIDA, AfD und CO. verbreiteten verschwörungstheoretische Übertreibungen – – „Völkisch“ – – Muslimvereine – – Araberinnen – – Die Arier. Der folgenschwere Missbrauch eines Begriffes durch Rassisten – – Verschwörungstheorien. Eine WDR-Sendung und kritische Anmerkungen – – Multi-ethnischer Staat in Syrien? – – Zur Klimaerwärmung – – Afrika-Fest am 11.Juni 2016 auf dem Schulbauernhof in Recklinghausen (Bild und Text) – – Pazifisten – – Raus aus der NATO? Die Friedensbewegung im „Kalten Krieg“. Wortprotokoll einer Diskussion (1983) – – Der Gewalt (in uns) ein Ende setzen – – Das zurück gegebene Schwert. Eine vietnamesische Legende – – Barack Obama – – Herz und Hirn – – Frauen, die für Gleichberechtigung kämpfen – – Der SPD ist die soziale Kompetenz verloren gegangen – – Wer war Martin Luther? Was hat er gelehrt? Was hat er gewollt? Rezension – –  90 Jahre mitten im Strom der Zeit. Ein Lebensbericht

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Dietrich Stahlbaum:  »Verschiedene Ansichten- Neue zeitkritische Beiträge«                   BookRix-eBook  2017, 11658 Wörter, € 3,99, ISBN: 978-3-7396-9350-7

Das eBook kann für € 3,99 auf Ihren Computer oder ein Lesegerät heruntergeladen werden.

Wer war Martin Luther? Was hat er gelehrt? Was hat er gewollt? Rezension

War er „Der radikale Doktor Martin Luther“, den Wolfgang Beutin uns in seinem gleichnamigen Buch präsentiert? Oder war er ein innerlich zerrissener, daher auch in seinem Denken widersprüchlicher Psychopath?

    Das eine schließt das andere nicht aus. Denn auch ein von Selbstzweifeln getriebener Mensch kann über sich hinaus wirken und die Welt verändern – negativ und positiv, vorsätzlich und wider Willen. Luthers Widersprüchlichkeit, wie sie sich in seinen Schriften äußert, machte es seinen Gegnern leicht, ihn der Doppelzüngigkeit zu überführen und zu verteufeln, seinen Anhängern wiederum, ihn zu verherrlichen, und politischen Akteuren, ihn für ihre Zwecke einzuspannen. Die evangelischen Deutschen Christen (DC) zum Beispiel beriefen sich auf Luthers Hetzschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ und hatten nach 1933 großen Einfluss auf den Protestantismus. Auch der Katholik Hitler lobte und verehrte ihn:  „Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung, sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen.“ (Dietrich Eckart, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin – Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir, München 1924, S. 35)

Wer ihn bewunderte, verachtete oder nur benutzte, der hatte eine Vorstellung von Luther, die der eigenen Anschauung entsprach, aber nicht der ganzen Wirklichkeit. So sind infolge partieller Wahrnehmung lauter verschiedene Lutherbilder entstanden.

Da erscheint nun zur rechten Zeit die dritte überarbeitete und erweiterte Auflage eines Buches, das uns den ganzen Luther nahe bringt. Sein Autor ist kein Theologe, kein Kirchenmann, sondern Literaturwissenschaftler: Germanist und Mediävist, ein Historiker, der sich in der Geistesgeschichte des Abendlandes auskennt. Er befasst sich seit den sechziger Jahren mit der Reformation und ihren Akteuren und hat dabei Ludwig Feuerbachs These, „dass Theologie Anthropologie sei“ (20), im Hinterkopf. Schon sehr früh wird er auf die gesellschaftspolitische Bedeutung Luthers aufmerksam. Diesen Aspekt hatte die Forschung bisher zu wenig, wenn überhaupt im Blick. Deshalb versucht Beutin zu ermitteln, „ob Luther, die historische Gestalt, und sein Werk unter dem demokratischen Gesichtspunkt historisch gerecht erfasst werden können..“ (Einl. 1.,2.Aufl. 64)

Er hat nahezu das gesamte Mittelalter und die Neuzeit durchforscht und bisher auch unbekanntes authentisches Textmaterial ans Licht gebracht: Reden, Briefe, Aufzeichnungen – Würdigungen, Kritiken und Schmähschriften – von Klerikern, Theologen, Historikern, Biografen, Politikern, Dichtern und Philosophen, darunter Melanchthon, Erasmus von Rotterdam, Goethe, Heinrich Heine, Friedrich Engels, Karl Marx, Franz Mehring, Gotthold Ephraim Lessing, Heiner Geißler und Margot Käßmann. Vor allem aber sind es die vielen langen Textpassagen, mit denen Beutin Luther selber zu Wort kommen lässt. Teile davon hat er in unsere heutige Sprache übertragen. Beweismaterial, mit dem die vielen Missverständnisse, Fehldeutungen und Lutherbilder und – legenden aus dem Weg geräumt werden sollen.

Was hat er gelehrt? Was hat er gewollt? Beutin: „Als Luther daran ging, die für ihn unerträglichen Mißstände in der Kirche seiner Zeit und die aufgeschwemmte Kirchenlehre, wie er sie vorfand – verunstaltet durch nicht bibelgemäße, nicht von Jesus herrührende ´Zusätze`–, zu reformieren, war es sein Vorhaben, ausgehend vom ´Wort Gottes` die frühere, genuine Kirche wiederherzustellen, die vorgefundene also soweit möglich in den Urzustand zurückzuversetzen, wie ihn die Evangelien beschreiben.“

Ein Grundgedanke Luthers war die „Gleichheit aller Christenmenschen“ in seiner  Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation… (1520). Daraus: „Es hat sich eingebürgert, daß Papst, Bischöfe, Priester und Klosterinsassen als ´geistlicher Stand` bezeichnet werden, Fürsten, Adlige, Handwerks- und Ackersleute als ´weltlicher Stand: in Wirklichkeit eine ausgeklügelte, aufpolierte Lüge. (…) In Wahrheit sind nämlich alle Christen geistlichen Standes, und es besteht unter ihnen keinerlei Unterschied. (…) Das kommt daher, daß wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben, also gleiche Christen sind. Denn die Taufe, das Evangelium und der Glaube, die allein machen geistlich, konstituieren die Christenheit. Aber daß der Papst und Bischof salbt, Mönche erschafft, Pfarrer ordiniert, Gebäude weiht, sich anders kleidet als die Laien, macht aus ihm vielleicht einen Blender und Ölgötzen, aber nimmermehr einen Christen oder geistlichen Menschen. Nämlich nur durch die Taufe werden wir allesamt zu Priestern geweiht. (…)  Da wir ja alle gleichberechtigte Priester sind, darf sich niemand selber hervortun und sich unterstehen, ohne unser Einverständnis und ohne daß wir ihn gewählt haben, dasjenige auszuüben, wozu wir alle gleich bevollmächtigt sind.“

Beutin: „Wie Luthers Gleichheitslehre, so ist seine Freiheitslehre von den berufenen evangelischen Theologen im wesentlichen mißdeutet, verdeckt, versteckt worden. (…) Der sich selbst bestimmende Mensch, der keine Macht sucht, sondern die Unterordnung in Freiheit; der schöpferische Mensch, der in Freiheit seiner selbstgewählten freien Arbeit nachgeht, auch der untergeordneten; der neue Mensch, der die Ketten des alten abgeworfen hat, – das ist Luthers geistlicher Entwurf. Es ist das ideale Bild eines Christen, der in Vereinigung mit anderen Christen, brüderlich verbunden mit ihnen in einem Personenverband, dem Reich Gottes, die Zeiten durchwandert.“

Der Autor zeigt den Reformator als radikalen Vorkämpfer der Demokratie – samt Gleichberechtigung der Geschlechter – und der Säkularisierung. Sein Buch soll aber auch „Laien“ aller Konfessionen zu kritischer Beschäftigung mit Glaubensfragen anregen. Agnostiker und Atheisten haben das längst getan.

Beutin hat ein immenses Material zusammengetragen und zum Teil neu bewertet. Deshalb kann hier nicht auf alle Aspekte seiner gründlichen Darstellung der „Streitsache Luther“ eingegangen werden. Erwähnt werden soll aber noch, dass der Germanist die Bibelübersetzung als „die größte sprachschöpferische Leistung des Reformators und der gesamten frühen Neuzeit“ würdigt: Luther „verschmolz“ „das Schriftdeutsch der Amtsprache“ „mit der Sprache des Volks, mit Wörtern und Wendungen, die der Vorstellungs- und Gedankenwelt des gemeinen Mannes Ausdruck gaben.“ Sprache auch als Mittel der Kommunikation, „das nicht bloß der Befehlsgebung von oben her diente, sondern hervorragend die Verständigung der Menschen untereinander ermöglichte, in den Massen, des gemeinen Mannes mit dem gemeinen Mann.“

Wolfgang Beutin: Der radikale Doktor Martin Luther. Peter Lang-Verlag, Frankfurt a. M 2016, 3. Aufl. 378 Seiten. € 59,95

Buchtipp: Wolfgang Beutin: Der radikale Doktor Martin Luther

Cover Beutin -Luther

Ein Streit- und Lesebuch

 

Gebundene Ausgabe: 378 Seiten

Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage (30. Mai 2016)

Verlag: Lang, Peter, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016.

Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte. Bd. 66

Herausgegeben von Thomas Metscher und Wolfgang Beutin

Print: ISBN 978-3-631-65787-4 geb. (Hardcover)

SFR 68.00 / €* 59.95 / €** 61.60 / € 56.00 / £ 45.00 / US$ 72.95

Über das Buch:

Ziel des Verfassers ist es, aus Luthers Grundschriften seine Theologie unter dem Gesichtspunkt ihrer Radikalität zu erfassen, wie diese sich in seiner Argumentation gegen die Papstkirche und ihre Machtbastionen sowie in der Entwicklung reformatorischer Grundeinsichten manifestiert.

Mit seiner Berufung auf den Freiheits- und Gleichheitsgedanken wie mit der Forderung der Wählbarkeit und Absetzbarkeit von Autoritäten steht er am Anfang der demokratischen Bewegung in Deutschland. Zwar wollte er seine Einsichten vorwiegend im kirchlichen und theologischen Bezirk angewendet wissen, doch sie übersprangen dessen Grenzen und bildeten Keime der künftigen Demokratie. Sie inspirierten die Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und fanden sich wieder als Parolen der Französischen Revolution.

Inhalt:

Bildnisse Luthers – Herkunftsfamilie und Klostereintritt – Contra Papst und Römische Kirche – Das Reich Gottes – Die Theologie der Armen – Die Bauern – Gegen Juden und Türken – Berufung auf Hus und die Hussiten – Kontroversen: Thomas Müntzer, Erasmus von Rotterdam – Lutherbilder von 1519-1983.

Autorenangaben:

Wolfgang Beutin studierte Germanistik und Geschichte in Hamburg und Saarbrücken. Er war Universitätsdozent an der Universität Hamburg und ist Privatdozent an der Universität Bremen. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit veröffentlicht er auch belletristische Werke.

Anmerkungen zur Psychoanalyse. Replik

Bewerten, beurteilen kann man nur etwas, das man kennt, womit man vertraut ist. Urteile, bei denen dies nicht vorausgesetzt werden kann, sind bekanntlich Vorurteile.

M., du schreibst: „Das Argument mit dem Unterbewusstsein ist archaisch und antirational.“

„Unterbewusstsein“? Ein allgemeiner Begriff, den ich nicht verwende, weil er für die Tiefenpsychologie zu ungenau wäre. In meinem von dir kritisierten Satz steht der von Sigmund Freud verwendete Terminus »das Unbewusste«. Ein Schlüsselbegriff der Psychoanalyse. Sie ist heute eine weltweit anerkannte Wissenschaft. Man muss sich schon umfassend und intensiv mit ihr befasst haben und das Für-und-Wider kennen, um darüber urteilen zu können.

Ich tue das seit Anfang der 60er Jahre, als Alexander Mitscherlichs Dokumentation der NS-Ärzteprozesse unter dem Titel »Medizin ohne Menschlichkeit« zum zweiten Mal erschien. Mitscherlich hat die Ps. zur Psychosomatik (Medizin) weiterentwickelt (»Krankheit als Konflikt« 1966) und sich gesellschaftskritisch eingebracht. In den 68er Jahren wurde Horst-Eberhard Richter bekannt, ebenfalls Psychosomatiker und Friedensaktivist. Genannt werden muss Freuds Tochter Anna. Sie hat sein Werk fortgesetzt und daraus eine Kinderpsychotherapie entwickelt. Und Wolfgang Beutin. Der Germanist hat die Ps. auch in der Literatur angewendet.

Ich habe mich unter anderem mit dem gesamten Spektrum der Tiefenpsychologie befasst und dadurch trotz erkenntnistheoretischer Vorbehalte zu allen analytischen Verfahren viel über menschliches Verhalten gelernt und einiges dazu publiziert, z. B. »Wenn die Seele durch den Körper geistert: Psychosomatik«

Ich würde das nicht so einfach abtun wie du, M.