Noam Chomsky: »Rebellion oder Untergang!: Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation«. Rezension

Noam Chomsky (Jahrgang 1928) ist Sprachwissenschaftler und Philosoph. Und er ist seit den 1960er Jahren einer der schärfsten Kritiker der US-amerikanischen Politik und des globalen Kapitalismus. Er sieht die Welt seit dem 6. August 1945, seit Hiroshima, am Rande eines Abgrunds, infolge der wachsenden Gefahr eines Atomkriegs und der drohenden Umweltkrise – „die beiden Hauptgefahren für unser Überleben“.

Er beruft sich dabei auf Dokumente, die zum Teil 40 Jahre lang geheim gehalten worden sind, und auf Berichte investigativer Publizisten. Danach sind es US-amerikanische Regierungen, die unter dem Diktat US-amerikanischer Konzerne, durch atomare Aufrüstung, Kriege, soziale Ungleichheit, Aushöhlung der Demokratie, durch eine rücksichtlose Umweltpolitik und eine me first-Mentalität die Weltherrschaft anstreben. Ein Moloch. *

Beispiele:

Am 6. August 1945 warf ein US-amerikanisches Kampfflugzeug eine Atombombe auf Hiroschima und am 9. August ein anderes eine zweite Atombombe auf Nagasaki. Dies waren die bisher einzigen Einsätze von Atomwaffen in einem Krieg. Damit begann ein nuklearer Rüstungswettlauf, der unsere Zivilisation und die Menschheit zu vernichten droht und sich nur aufhalten lässt, wenn es gelingt, das andere, friedliche Amerika zu mobilisieren, das mit der Anti-Atombewegung der 68er Jahre das Ende der Atomkraft und der Nutzung fossiler Brennstoffe eingeleitet hat.

Nötig sei, durch „zivilen Ungehorsam“ „andere zur Anerkennung der Tatsache“ zu bringen, „dass es Dinge gibt, die so wichtig sind, dass manche Leute ihretwegen zu allen möglichen Risiken bereit sind und wenn er sie dazu bringt, darüber nachzudenken und dann vielleicht selbst etwas zu tun.“ (Noam Chomsky in »Rebellion oder Untergang«)

Am 6. August „wurde klar, dass die menschliche Intelligenz die Mittel ersonnen hatte, dem 200 000 Jahre alten menschlichen Experiment ein Ende zu machen. Dabei stand von Anfang an nicht ernstlich in Zweifel, dass diese Fähigkeit zur Zerstörung der Welt immer größer werden bald auch in andere Hände übergehen und so die Gefahr einer Selbstvernichtung noch steigern würde.

General Dwight D. Eisenhower berichtete, die Entscheidung zum Einsatz der beiden Atombomben habe am 16. Juli bereits festgestanden. Er hatte Truman davon abgeraten, weil die Japaner schon Kapitulationsbereitschaft signalisiert hätten und die Vereinigten Staaten solche Waffen nicht als erste einsetzen sollten.

Unter den Dokumenten, die Chomsky fand, waren Berichte über nukleare Beinahe-Katastrophen. Chomsky hat sie öffentlich gemacht und damit dazu beigetragen, dass 51 Staaten das Atomwaffenverbot, dessen Vertrag in der UN-Generalversammlung von 122 der 193 Mitgliedsstaaten unterzeichnet wurde, ratifiziert haben – außer Deutschland und alle anderen Nuklearmächte, sie sich den Verträgen verweigern, um sich die Option zu einem nuklearen Erstschlag, zu einem Präventivschlag der NATO offenzuhalten und die Entwicklung immer neuer, immer effektiverer, immer gefährlicherer Waffensysteme zu fördern, Systeme, die sich der Kontrolle entziehen und selbständig agieren können.

 Im Oktober 1962, während der „sogenannten Kubakrise“, wie auch in den 1980er Jahren während der US-amerikanischen »Operation Able Arche« verhinderten US-Offiziere und Offiziere der Sowjetunion, die sich nicht an Vorschriften und Befehle gehalten haben, einen Atomkrieg, der verheerende Folgen gehabt hätte.

Einer von ihnen war Leonard Perroots, ein hoher Offizier der US-Luftwaffe, ein anderer Stanislav Petrov, ein russischer Offizier.

 Und Wassili Archipow, ein russischer U-Boot-Kommandeur, hat sich 1962 während eines der gefährlichsten Momente der kubanischen Raketenkrise als Einziger einem Befehl zum Angriff mit atombestückten Torpedos widersetzt, den zwei seiner Offizierskollegen in einem von US-Einheiten eingekreisten U-Boot erteilen wollten und der wahrscheinlich ebenfalls zu einem tödlichen Atomkrieg eskaliert wäre. (Noam Chomsky)

Chomsky sieht „die Gefahr der atomaren Katastrophe wieder so hoch wie zu Anfang der 1980er-Jahre, als die Regierung unter Reagan die russischen Verteidigungssysteme durch die Simulation von Angriffen einschließlich Nuklearangriffen getestet werden sollten. Damals wurden in Deutschland Pershing-II-Raketen, aufgestellt, die innerhalb von zehn Minuten.“

„Heute steht der Zeiger der Weltuntergangsuhr wieder genau wie zu der Zeit von »Able Archer« auf drei Minuten vor Mitternacht. Grund dafür sind die wachsende Gefahr eines Atomkriegs und die drohende Umweltkrise – die beiden Hauptgefahren für unser Überleben.

Russland und die USA betreiben eine gefährliche Aufrüstung, führen hochgradig provokative Aktionen durch und bauen ihre militärischen Arsenale in raschem Tempo aus. (…)

In Russland und auch sonst überall weiß man, dass das, was hier als »Raketenabwehr« bezeichnet wird, eine Erstschlagwaffe ist. Diese Kriegsgefahr ist zum großen Teil Resultat der NATO-Erweiterung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 25 Jahren, während der Amtszeit von Bush dem Ersten und seinem Außenminister James Baker und, in Russland, von Michail Gorbatschow.

Gorbatschow forderte die Auflösung aller Militärbündnisse, was ja im Fall des Warschauer Paktes auch geschah. Sie sollten durch ein eurasisches Sicherheitssystem ersetzt werden, das sowohl die ehemalige Sowjetunion als auch Westeuropa einbinden sollte. Aber Bush und Baker hatten einen anderen Plan: Die NATO sollte expandieren, während die Sowjetunion zusammenbrach.

Gorbatschow stimmte einer Wiedervereinigung Deutschlands und sogar dem Beitritt Deutschlands zum feindlichen Militärbündnis NATO zu, obwohl Deutschland Russland gleich zweimal in Schutt und Asche gelegt hat.“ (Noam Chomsky)

Prof. Joshua Itzkowitz Shifrinson hat nachgewiesen, „dass Bush und Baker Gorbatschow mit ihren Zusagen bewusst irreführen wollten, um den USA zu ermöglichen, ihre Vorherrschaft nach Osten auszudehnen.“

„Unter Clinton expandierte die NATO noch weiter nach Osten, und zwar bis direkt an die russische Grenze. 2008 und dann noch einmal als Versuchsballon 2013 unter Obama bot die NATO die Mitgliedschaft sogar der Ukraine an, dem geopolitischen Herzen Russlands, das mit diesem durch weit zurückreichende kulturelle Traditionen verbunden ist. Das war ein äußerst provozierender Schritt. (…)

Die Menschheit ist heute mit den entscheidendsten Fragen ihrer gesamten Geschichte konfrontiert, Fragen, die weder umgangen noch aufgeschoben werden können, wenn es eine Hoffnung auf den Erhalt – oder sogar eine Verbesserung – der organisierten Formen menschlichen Lebens auf der Erde geben soll.“ (Noam Chomsky)

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* So hat Karlheinz Deschner die USA genannt. Er hat die Geschichte der USA von ihren Anfängen bis zum 2. Krieg am Golf (1991) kompromisslos dargestellt. Sein Buch DER MOLOCH erschien 1993, die 4., überarbeitete Auflage 2002.

Die eBook-Fassung des Buches, die mir vorliegt, besteht aus Interviews und Passagen aus Chomskys Reden und Vorträgen. Fragen beantwortet er auf verblüffende Weise: relativistisch, in ganzheitlichen Zusammenhängen, mit Scharfsinn und genau. Immer trifft er den Nagel auf den Kopf. Immer hat er – aus seinem jeweiligen Blickwinkel – Recht. Es stimmt, was er sagt. Dennoch ist er bei aller schonungslosen Kritik empathisch und einfühlsam.

Nach der Bedeutung der Linguistik gefragt, sagt Noam Chomsky: Eine der dringlichsten Aufgabe „ist die Erforschung der Sprache, des Geistes, unserer geistigen Aktivitäten. (…) Der Philosoph David Hume (hat) das Studium der menschlichen Natur als die höchste Form der Wissenschaft bezeichnet. Die anderen Wissenschaften sollten dem untergeordnet sein.

Und das ist eine lange Tradition, die bis zum vorsokratischen Orakel von Delphi zurückgeht. Die Botschaft der Priesterin war: Erkenne dich selbst. (…) Erkenne und begreife, was für ein Wesen du bist; alles andere ist daraus nur abgeleitet,

Ich denke, dass diese Botschaft von vor 2 500 Jahren auch für uns wichtig sein sollte.“

Noam Chomsky: »Rebellion oder Untergang!: Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation« Westend Verlag Frankfurt am Main 2021, Taschenbuch 15.00 €, eBook 11.99 €

Wilhelm Neurohr: Verteilungsgerechtigkeit: „Irgendwann gehört alles einem Einzigen“

Noch nie zuvor hat sich weltweit und in Deutschland die Reichtumskonzentration auf einige Wenige einerseits und die gleichzeitige Verarmung eines Großteils der Bevölkerung andererseits so krass entwickelt wie seit dem neoliberalen Siegeszug der Finanzoligarchie, die nachweislich mit den politischen Eliten personell eng verflochten ist.

20 Jahre lang haben lobbyhörige Regierungen in Deutschland unter verschiedenen Parteikonstellationen mit ihrer Politik die Umverteilungen von unten nach oben nicht nur ungebremst geschehen lassen und geduldet, sondern politisch ermöglicht und forciert: 13 Jahre unter Kanzlerin Merkel, davon 9 Jahre GroKo mit der SPD und 4 Jahre schwarz-gelb mit der FDP sowie vorher 8 Jahre rot-grün unter Schröder mit der SPD und den Grünen. Daran wird auch die auf der Kippe stehende GrOKO nach 100 Tagen Amtszeit nichts ändern.

„Nützliche Idioten“

Nicht zuletzt die EU hat vor und nach der Finanzkrise die ungerechte Umverteilungspolitik wesentlich begünstigt und beschleunigt. In einem Kommentar im Feuilleton der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung heißt es dazu unter der Überschrift „Der Krieg der Banken gegen das Volk“ bereits in 2011:

„Wenn die Troika aus EZB, Europäischer Union und IWF verkündet, dass die Bevölkerung aufkommen müsse für das, was die Reichen sich nehmen, stehlen, am Finanzamt vorbeischleusen, so ist das keine politisch neutrale Haltung. Hier wird unfair erlangter Reichtum privilegiert. Ein demokratisches Fiskalregime würde progressive Steuern auf Einkommen und Grundbesitz erheben und Steuerflucht ahnden“.

Deshalb spricht der Kommentator Michael Hudson mit Blick auf die dafür verantwortlichen Politiker zutreffend von „nützlichen Idioten“. Und das ist das Ergebnis des eklatanten Politikversagens in punkto „sozialer Gerechtigkeit“:

  • 45 Superreiche in Deutschland besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung (Quelle: isw)
  • Dem reichsten 1% in Deutschland gehört 40,5% des Vermögens (Quelle: Statistikportal Sozial Statista)
  • Die reichsten 10% in Deutschland besitzen 52% des Nettovermögens (Neue Passauer Presse 2013/ Zahlen des Bundessozialministeriums)
  • Den reichsten 5% in Deutschland gehört die Hälfte aller Wohnungen und Häuser (Quelle: WDR)

Weltweit ist die Reichtums-Verteilung oder Verteilungs-Ungerechtigkeit ebenso erschütternd:

  • Die 62 reichsten Menschen der Welt besitzen so viel wie die 3,6 Mrd. ärmsten (Quelle: Deutschlandfunk Kultur)
  • 8 Milliardäre besitzen mehr als die ärmere Bevölkerungshälfte (Quelle: Oxfam)
  • 1% der Weltbevölkerung hat mehr als alle anderen 99% (Quelle: Zeit online)
  • Einer hat soviel wie 58 Millionen andere zusammen (Quelle: Deutschlandfunk Kultur)
  • Die reichsten 1% besitzen mehr als 50% des globalen Vermögens (Quelle: Telepolis)
  • Die 85 reichsten Menschen in der Welt besitzen so viel Vermögen wie die andere Hälfte der Weltbevölkerung (Quelle: Oxfam)

Wenn nicht politisch gegengesteuert wird, dann könnte in wenigen Jahren die Schlagzeile absehbar wie folgt lauten:

  • „Jetzt gehört einem Einzigen ganz Deutschland und alles in der Welt“

Wie ist das mit dem Regierungsziel eines sozialeren Deutschland und Europa oder mit der versprochenen „Bekämpfung von Korruption und Fluchtursachen in den ärmeren Ländern“ vereinbar?

Solange führende Politiker nach ihrer Amtszeit in die Finanzwirtschaft wechseln oder umgekehrt Investment-Banker von Goldman-Sachs als Staatssekretäre beim deutschen SPD-Finanzminister Olaf Scholz anheuern, solange ausgeschiedene EU-Kommissionspräsidenten wie Emmanuel Barroso selber als Lobbyisten bei Goldman-Sachs einsteigen, und solange eine deutsche Bundeskanzlerin ihre auf Staatskosten ausgetragene Geburtstagsfeier für den damaligen Chef der kriminellen Deutschen Bank, Josef Ackermann, als angemessen in einer „marktkonformen Demokratie“ verteidigt – solange wird sich an diesen sozialen Ungerechtigkeiten nichts ändern…

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: Der politisch denkwürdige Juni 2018

Welch ein aufwühlender politischer Monat, so ist zum Sommeranfang am 21. Juni 2018 festzustellen, zeitgleich mit der Bilanz der deutschen Koalitionsregierung, die genau 100 Tage im Amt ist. Selten war das Politikversagen weltweit so dramatisch wie in diesem denkwürdigen Monat, manches kaum wahrgenommen im Schatten der kommerziellen Fußball-WM. Dabei ist der Monat Juni noch nicht zu Ende und wird noch mancherlei mehr an politisch Skandalösem darbieten in diesem politisch heißen Sommer:

Asylpolitik

Während die Diskussionen um die Zurückweisung von Asylsuchenden und Kriegsflüchtlingen in Deutschland zu einer anhaltenden Regierungskrise führen, geht es im Juni auf dem europäischen Sondergipfel zur Migrationspolitik – 100 Tage vor dem interkulturellen „Tag des Flüchtlings“ – vorrangig um die beschämende Frage, ob inhumane Flüchtlingspolitik national oder europäisch organisiert wird, entgegen dem internationalen Recht und den allgemeinen Menschenrechten.“Diese ganze Debatte ist auf eine Weise verroht, die ich erschreckend finde“, kommentiert der grüne Europa-Abgeordnete Sven Giegold. Zuvor hatten Italien und Malta 629 Flüchtlinge an Bord des Rettungsschiffes „Aquarius“, darunter schwangere Frauen und Kinder, zurückgewiesen, bis sich Spanien erbarmte, sie 1500 km weiter, in Valencia, an Land zu lassen.

Flüchtlingsdrama

Zur gleichen Zeit verkündet der UN-Flüchtlingshochkommissar den traurigen Rekord, wonach durch Krisen und Konflikte in der Welt noch nie so viele Menschen auf der Flucht gewesen sind: Über 16 Millionen Menschen insgesamt, fast 45.000 täglich, davon die Hälfte Kinder. Die größte Bürde der Flüchtlingsaufnahme trägt nicht Europa oder Deutschland – das nur auf dem 59. Platz aller 200 betrachteten Staaten liegt – sondern Libanon und die Türkei. 45% der Flüchtlinge suchen Schutz in Afrika und im mittleren Osten, 31% in Europa (davon 17% in der Türkei) sowie 21 % in Asien. Mit 3 Mio. am geringsten ist im weltweiten Vergleich mit Abstand die Quote der Flüchtlingsaufnahme in den USA, die bis zum Juni sogar Kinder von Migranten von ihren Familien trennte. Im Juni haben die USA unter Trump den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen verlassen, der sich um die Verteidigung die Einhaltung der Menschenrechte bemüht. Laut Trump ist der UN-Menschenrechtsrat „die Jauchegrube der politischen Voreingenommenheit“.

Hungersnöte

Auch die bisherigen Erfolge der Welthungerhilfe bei der Halbierung der Zahl der Hungernden erleidet wieder Rückschläge durch die aktuellen Krise und Kriege und den Klimawandel: Laut „Globalisierungsreport“, den die Bertelsmann-Stiftung im Juni vorlegte, profitiert die Bevölkerung in den Industrieländern als Wohlstandsgewinner am meisten von der Globalisierung. Hingegen ist die Zahl der Hungernden weltweit auf 815 Millionen Menschen wieder angestiegen. Die Bekämpfung der Ursachen für Hunger und Flucht geht kaum voran, auch nicht die Abmilderung des voranschreitenden Klimawandels.

Klimawandel

Vor der internationalen Klimakonferenz in Berlin Mitte Juni muss die deutsche Umweltministerin ebenso wie die Kanzlerin kleinlaut eingestehen: Das Land verpasst  deutlich seine Klimaschutzziele. Statt, wie angekündigt, den CO-2-Ausstoß  bis 2020 um 40% zu senken, erreicht das Land nur eine Reduktion um 32% gegenüber 1990. Während die Klimaziele in weiter Ferne geraten, wurden im Juni auch viele Regionen in Deutschland im Juni von schweren Unwettern heimgesucht. Außerdem verurteilte der EU-Gerichtshof am 21. Juni Deutschland wegen Verletzung des EU-Rechtes angesichts der zu hohen Nitrat-Belastung des Grundwassers, weil die Bundesregierung zu wenig dagegen unternommen hatte.

Rüstungsspirale

Weitaus mehr Ehrgeiz entwickelt die deutsche Regierung in der Rüstungspolitik: Deutschland ist wieder als viertgrößter Waffenexporteur im Wert von 6 bis 7 Mrd. Euro bei der Rüstung ganz vorn, vor allem mit fragwürdigen Importen in Länder außerhalb der Nato und EU, so vermeldeten die Medien im Juni. Zugleich plant die Waffenschmiede Rheinmetall aufgrund einer Gesetzeslücke den Bau einer Panzerfabrik in der Türkei, um von dort aus Exportbeschränkungen umgehen zu können und damit ein Milliardengeschäft zu machen mit Rüstungsverkäufen auch in Spannungs- und Krisengebiete.

Bis 2020 will die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen 25 Mrd. € mehr für die Bundeswehr. Der Wehretat ist schon jetzt der zweitgrößte im Bundeshaushalt mit 41,5 Mrd. im kommenden Jahr und angestrebter Steigerung auf 60 Mrd. € jährlich. Und eine Milliarde Euro werden nach dem Willen der Regierungskoalition laut Bundestagsbeschluss vom Juni zusätzlich mobilisiert für die Anschaffung von umstrittenen Kampfdrohnen aus Israel für die deutsche Bundeswehr im Rahmen eines gemeinsamen europäischen Rüstungsprojektes „Eurodrohne“. In einer gemeinsamen Erklärung von CDU- und SPD-Politikern unternahmen diese zudem einen Vorstoß, die parlamentarischen Mitbestimmungsrechte des Bundestags bei europäischen militärischen Auslandseinsätzen künftig zu beschneiden.

Friedensforscher bedauerten im Juni, dass keine der Atommächte weltweit auf nukleare Abrüstung hinarbeite, sondern die Modernisierung ihrer Atomwaffen in Angriff nehmen. Die neun Atomstaaten besitzen zusammen ca. 15.000 Atomwaffen. Sollte der nordkoreanische Diktator tatsächlich der erste und einzige sein, der in seinem Deal mit Donald Trump die nukleare Abrüstung schrittweise beginnt?

Armutsbekämpfung

Derweil fehlt angeblich das Geld für die Armutsbekämpfung auch im reichsten EU-Land Deutschland, denn im Juni vermeldet der Dachverband der „Tafeln“ zum 25-jährigen Jubiläum, dass 1,5 Mio. bedürftige Menschen, vor allem Senioren als Armutsrentner und Hartz-IV-Empfänger nebst Asylsuchenden, auf die Armenspeisung angewiesen sind, weil ihnen kaum noch Geld zum Leben verbleibt. Derweil kämpfen die Gewerkschaften weiterhin für auskömmliche Einkommen und Renten und fordern einen weitergehenden Kurswechsel von der Regierung, um die vernachlässigte soziale Frage wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

Kirchenfinanzierung

Hingegen wurden nach Meldung der Humanistischen Union vom Juni 2018 als Staatsleistung an die beiden großen reichen Kirchen in Deutschland steigende Geldzahlungen der Bundesländer in Rekordhöhe von 538 Mio. € geleistet, das sind 14. Mio. € mehr als im Vorjahr, unabhängig von Kirchensteuer und zusätzlich zu den Zahlungen für kirchliche Dienste (Kindergarten und Altenheime), also für die Kirchenverwaltung und die beamtenähnlichen Gehälter der obersten kirchlichen Würdenträger (Erzbischöfe, Bischöfe, Weihbischöfe und Domvikare). Seit Gründung der Bundesrepublik sind trotz Trennung von Kirche und Staat somit insgesamt rund 16 Mrd. € in die Taschen der Kirchenfunktionäre geflossen statt zugunsten der bedürftigen Armen ausgegeben zu werden.

Parteienherrschaft

Doch die Sorgen der christlichen und sozialen Regierungsparteien sind vorrangig andere, sie gelten nämlich dem eigenen Wohlergehen ihrer Parteien: Im Juni machten die Fraktionen von SPD und CDU/CSU auf Initiative der SPD – deren Zustimmungswerte laut Umfragen im Juni auf 17% sanken – die steuerlichen Zuschüsse für die Wahlkampf- und Parteienfinanzierung deutlich zu erhöhen, nämlich um 15%, das sind 25 Mio. € und damit eine Anhebung auf 190 Mio. € – ohne im Gegenzug die Parteienfinanzierung durch Interesse geleitete Spenden aus der Wirtschaft einzudämmen. Angesehene Juristen halten das für verfassungswidrig. Das Ganze geschah handstreichartig im Eilverfahren ohne Einbindung der Oppositionsparteien kurz vor dem ablenkenden Start der Fußballweltmeisterschaft. Hingegen nehmen der Lobbyismus und die Intransparenz bei der politischen Einflussnahme immer mehr zu, ebenso die Nebentätigkeiten und der bedenkliche Seitenwechsel von der Politik in die Wirtschaft ohne Karenzzeiten, wie die Organisationen Lobbycontrol, Abgeordentenwatch oder Transparency International beklagen. Auch dadurch geht die Politik zugunsten der Wohlhabenden und zu Lasten der Benachteiligten ungebrochen weiter.

Reichtumssteigerung

Im Juni wurde bekanntgegeben, dass weltweit die Zahl der über 18 Millionen Dollar-Millionäre, deren Vermögen die Marke von 70 Billionen Dollar überschritten hat. im Vorjahr um fast 10% gestiegen ist, Insbesondere der Börsenboom und steigende Immobilienpreise vermehrten deren Vermögen um insgesamt 5,2 Billionen Dollar, das ist ein Plus von 7,6%. Die 62 reichsten Menschen der Welt besitzen nach einer Studie der Hilfsorganisation Oxfam so viel wie die 3,6 Mrd. ärmsten Menschen.

Und die Schere geht auch in Deutschland immer weiter auseinander. Hier verfügten  1.364.600 Menschen über ein anlagefähiges Vermögen von über 1 Mio. Dollar, das waren gut 84.000 Personen mehr als im Jahr zuvor.

Mit ein paar kleinen Steuererleichterungen für die Mittelschicht, einer nur teilweise wirksamen Mindestlohnregelung und geringfügigen Kindergelderhöhungen etc. packt die „große Koalition“ diese auch in Deutschland besonders ausgeprägte Schieflage nicht wirklich an, da sie eine wirksame Reform der Vermögens.-und Erbschaftssteuer weiterhin ablehnt.

Europakrise

Ein Jahr vor der Europawahl 2019 in der kriselnden EU, bei der ein Rechtsruck in ganz Europa zu befürchten ist, werden trotz der Vorstöße des französischen Staatspräsidenten Macron wirklich notwendige Reformen für ein sozialeres und demokratischeres Europa, trotz Priorität in den deutschen Koalitionsvereinbarungen und einzelner kleiner Schritte, nicht erkennbar. Lediglich die Hürden für kleinere Parteien sollen nach deutschen Vorstellungen bei der Europawahl durch eine Sperrklausel erhöht werden, damit die etablierten Parteien unter sich bleiben können. Bei allen anderen europäischen Vorhaben gibt es derzeit eine Kakophonie. Allein beim Aufbau einer „Militärunion“ scheint derzeit die europäische Zusammenarbeit gut zu funktionieren.

Der vielgelobte Reformer Emmanuel Macron entpuppt sich im Juni n seinem eigenen Land in der Sozialpolitik als „neoliberaler Hardliner“, der die Bevölkerung und die Gewerkschaften auf die Straßen treibt. Im Juni äußerte er sich kritisch zu dem „kostspieligen, ungenießbaren und ineffizienten“ sozialen System der Beihilfen und Existenzminima. Die Armen müssten sich nach seiner Auffassung anstrengen und mit mehr Genügsamkeit und Erziehung angeleitet werden, sich selber in Eigenverantwortung aus der (quasi individuell verschuldeten) Armut zu befreien. Deshalb will er die Staatsausgaben bis 2022 um 60 Mrd. € kürzen, insbesondere die die diversen Sozialleistungen und Beihilfen – die Armen als lästiger Kostenfaktor. (Das erinnert an die abfälligen Äußerungen und „erzieherischen Maßnahmen“ seinerzeit von Kanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement in Deutschland gegenüber den „faulen“ Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern bei der Einführung von Hartz IV mitsamt den Sanktionsregeln).

Steuergeschenke

Mit dieser Gesinnung lässt sich kaum ein sozialeres und solidarischeres Europa mit einer steuerlichen Korrektur der ungerechten Armuts-Reichtums-Verteilung in Deutschland und Europa aufbauen, trotz aller Lippenbekenntnisse für eine europäische „Sozialunion“ unlängst in Göteborg. Für diese bedürfte es hinreichender Steuereinnahmen von den Reichen und Konzernen, die weiterhin begünstigt und geschont werden.

Zusammen mit Macron will jedoch der deutsche Finanzminister Olaf Scholz, unterstützt von seinem „Goldman-Sachs-Staatssekretär Jörg Kulies, die verkündete Einführung einer Transaktionssteuer nur auf den Handel von Aktien und einigen Anleihen beschränken, nicht aber von Derivaten. Damit wird die Steuer zu einer bloßen Alibi-Steuer oder zu einem Etikettenschwindel mit Einnahmen von nur 5 bis 7 Mrd. Euro statt erzielbaren 40 bis 50 Mrd. €, wie der grüne EU-Abgeordnete Sven Giegold kritisiert. Zudem hält Scholz an Schäubles Politik der „schwarzen Null“ eisern fest, statt überfällige Investitionen im nötigen Umfang zu ermöglichen.

Handelskrieg

Nach dem Motto seiner Lieblingsautorin Ayn Rand – „Egoismus ist eine Tugend, denn es gibt kein Gemeinwohl, und Altruismus ist ein Übel, das Nationen zerstören kann“ – hat US-Präsident Donald Trump mit seinen protektionistischen Strafzöllen einen internationalen Handelskrieg begonnen, der im Juni zu Gegenreaktionen fast aller Wirtschaftsnationen weltweit und auch der EU geführt hat und dessen Folgen nicht absehbar sind. Zugleich wird seit Juni das Heil des freien Handels in der Wiederbelebung der unfairen und umstrittenen Freihandelsverträge TTIP „light“, CETA, Jefta, TiSA, EPA usw,. gesehen, die gerade von der Zivilgesellschaft teilweise ausgebremst oder abgemildert worden sind. Am Ende wird es nur Verlierer geben und keine Gewinner.

Durch den chauvinistischen Nationalismus weltweit werde der Weltfrieden bedroht, sagte im Juni der scheidende UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Said Raad alHussein, in Genf: „Zu viele Regierungen mit selbstsüchtigen und kaltschnäuzigen Führungspersonen täuschten Unterstützung für gemeinsame Ziele vor, kämpften aber nur für eigene Interessen“.

Dieselskandal

Die eigenen Interessen und diejenigen ihrer Aktionäre standen auch im Vordergrund der deutschen Automobilkonzerne, ohne Rücksicht auf die Interessen der Kunden und Käufer oder auf die Gesundheit der von Schadstoffen belasteten und gesundheitlich gefährdeten Menschen – allen voran VW mit staatlicher Beteiligung des Landes Niedersachsen. Nun endlich sind im Juni die millionenfachen Betrügereien nicht als bloße „Schummeleien“, sondern als Menschen gefährdende Straftaten angesehen worden, mit Milliarden-Strafzahlungen, Haftbefehlen und Untersuchungshaft sowie staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen die Automanager und Konzernbosse, die zuletzt noch millionenschwere Boni und Gehälter für ihre Geschäftspolitik kassierten – ähnlich wie bei der kriminellen Deutschen Bank, die mittlerweile am Abgrund steht.

Doch die allzu engen Verflechtungen zwischen Autoindustrie und deren Lobby mit den Spitzenpolitikern der Bundes- und Landesregierung bis hinauf zur Kanzlerin haben immer noch nicht dazu geführt, die technischen Nachrüstungen der Dieselautos rechtlich anzuordnen – obwohl die verantwortlichen Minister und Behördenchefs sich dabei hart an der Grenze der „Strafvereitelung im Amt“ bewegen. Solange weiterhin die Menschen in den verkehrsreichen Städten mit Stickoxiden gesundheitlich gefährdet werden, verletzen die Politiker auch ihrem Amtseid, Schaden vom Volk anzuwenden. Dazu gehört schon eine gehörige Portion Skrupellosigkeit und Abgebrühtheit in der lobbyhörigen Regierungszentrale der GroKo, die vielleicht den Sommer nicht mehr übersteht. Einen Toten gibt es schon, glaubt man dem Journalisten Jakob Augstein, der meint, die SPD sei schon tot, sie habe es nur noch nicht gemerkt…

Wilhelm Neurohr

21. 06. 2018

Wilhelm Neurohr: SONDIERUNGSERGEBNISSE TORPEDIEREN EUROPÄISCHE SOZIALPOLITIK

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, zur Berichterstattung über die Koalitions-Sondierungen in Berlin:

„SONDIERUNGSERGEBNISSE TORPEDIEREN EUROPÄISCHE SOZIALPOLITIK“

Täglich hören wir von Spitzenpolitikern aus dem In- und Ausland sowie in den Medien das Argument, die „Groko“ sei allein schon wegen der großen Herausforderungen für das reformbedürftige Europa dringend  geboten. Warum nimmt dann das bisherige Sondierungspapier von CDU und SPD auf die wichtigsten und aktuellsten  europäischen Weichenstellungen aus dem 60-jährigen EU-Jubiläumsjahr 2017 überhaupt nicht Bezug, sondern bleibt mit seinen Allgemeinplätzen zu Europa weit dahinter zurück? Die Sondierungsergebnisse torpedieren die europäische Sozialpolitik.

Vor allem die konkrete Idee einer „Europäischen Sozialunion“, die von einem 105-köpfigen EU-Konvent entworfen wurde, ist von Frau Merkel zuvor in mehreren  Interviews entschieden abgelehnt worden. In der gemeinsam beschlossenen „Göteborger Erklärung“ vom Oktober 2017 haben jedoch die Europäische Kommission, das Europaparlament und der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs im Oktober 2017 (im Beisein von Merkel und Gabriel) folgendes für ganz Europa verkündet: Faire Löhne, einen europäischer Mindestlohn, angemessene Renten, hohe Sozialstandards gegen Ungleichheit sowie Kampf dem Lohndumping.

Das deckt sich mit den sozialen Forderungen, mit denen die SPD in Deutschland in die Sondierungsgespräche hineingegangen, aber erfolglos wieder herausgekommen ist. Wollen sich Merkel, Seehofer, Schulz und Nahles mit ihren faulen Kompromissen klammheimlich von den sozialpolitischen Zielen und Vorgaben der EU verabschieden, die Deutschland zuvor auf der EU-Ebene mitgetragen hat? Mit den dürftigen Sondierungsergebnissen würde Deutschland weiterhin als reichstes EU-Land weit hinter dem europäischen Sozialmodell zurück bleiben. Auch die vom französischen Staatspräsidenten entworfenen und vielgelobten Pläne für eine sozial ausgleichende Harmonisierung der Steuer- und Sozialpolitik bleiben in Deutschland unbeachtet.

Denn auch die Agenda-Partei SPD ist sich bewusst, dass im Europavergleich das niedrige Lohnniveau in Deutschland mit den prekären Arbeitsverhältnissen sowie das mit Abstand niedrigste Rentenniveau in Europa mit drohenden Armutsrentnern einen großen sozialpolitischen Wurf in Deutschland erfordern würde – mit Abschied von der sozial verheerenden Agenda 2010. Dazu ist sie nicht Willens und in der Lage, obwohl von der eigenen SPD-Basis und den abhanden gekommenen SPD-Wählern seit Jahren gefordert.

Wie will die SPD den Menschen im Land erklären, warum sie sich hier laut Nahles mit 48% Rentenniveau dauerhaft begnügen sollen, während sich das durchschnittliche Rentenniveau  in Europa und den übrigen OECD-Ländern um 70% bewegt? Warum kann Deutschland nicht von den funktionierenden und bezahlbaren Rentenmodellen der Nachbarländer Österreich, Schweiz, Niederlande, Luxemburg, Skandinavien u. a. lernen?

Auf dem Weg zu einer 18%-Partei sollte sich die SPD, zumindest ihr tonangebender rechter Flügel vom „Seeheimer Kreis“ überlegen, ob sie nicht dauerhaft eine Fusion mit der CDU eingehen soll, wenn ihr die Fortsetzung des neoliberalen Kurses wichtiger ist als das soziale Wohl der millionenfach verarmenden Menschen in diesem Land – infolge von 12 Jahren gemeinsamer Groko-Poltik zugunsten der Wohlhabenden.

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: „EUROPÄISCHE VERTEIDIGUNGSUNION EIN VERKAPPTES RÜSTUNGSPROJEKT?“

Leserbrief an die Recklinghäuser Zeitung. Betr:. Bericht über die Europäische Verteidigungsunion (EU-Gipfel)

 „EUROPÄISCHE VERTEIDIGUNGSUNION

EIN VERKAPPTES RÜSTUNGSPROJEKT?“

Ohne vorherigen öffentlichen Diskurs wurde auf dem letzten EU-Gipfel in diesem Jahr mit  aktuellem Verweis auf Trump und Putin die „Europäische Verteidigungsunion“ von 24 EU-Staaten aus der Taufe gehoben  – wohl auch in der Hoffnung, mit dem gemeinsamen militärischen Engagement als Klammer einem weiteren Auseinanderdriften der EU-Nationalstaaten vorzubeugen.

In Wirklichkeit ist die Idee zu diesem Vorhaben schon Jahrzehnte alt und seither mit eigenen schnellen EU-Eingreifruppen neben der NATO längst vorbereitet worden. Zwar erklärt man eine europäische Armee zum Tabu, weil man keine Doppelstrukturen mit der NATO will, aber die Anzahl und Größe schneller EU-Eingreiftruppen soll erheblich wachsen.

Vor allem wird der  Öffentlichkeit verschwiegen, dass dies mit einer verbindlichen und kostenträchtigen  Aufrüstungsverpflichtung einhergeht sowie mit gleichzeitigem Abschied von jedweden Abrüstungsbemühungen – beginnend mit einem europäischen Verteidigungsfond von 5 Mrd. € und späteren Aufstockungen  aus nationalen Mitteln.

Deutlich mehr Geld für Militär und Rüstung ist deshalb aktuell ein zentrales Thema in der EU (als Friedensnobelpreisträger 2012), das in der öffentlichen Debatte leider untergeht.

Das kommt vor allem der deutschen Rüstungsindustrie zugute, die laut aktueller Veröffentlichung des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes (Sipri) erhebliche Umsatzsteigerungen verzeichnet, allein 13% Plus bei Krauss-Maffai und Rheinmetall. Bekanntlich sind sowohl der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Jung (CDU) als auch  der ehemalige Entwicklungshilfeminister Niebel (FDP) als Seitenwechsler nunmehr Lobbyisten bei Rheinmetall.

Schon derzeit geben die europäischen Nato-Länder mit 250 Mrd. € oder 237 Mrd. Dollar ein Vielfaches fürs Militär aus als Russland, wo die Militärausgaben nur 69 Mrd. Dollar betragen bzw. 75 Mrd. Dollar in der gesamten russischen Föderation in Osteuropa. Allein die beiden EU-Länder Deutschland und Frankreich wenden zusammen 97 Mrd. € fürs Militär auf, also deutlich mehr als Russland mit 61 Mrd. €, das seine Rüstungsausgaben sogar kürzt (alles Stand 2016, Statistik-Portal „Statista“ und FAZ vom 24.03.2017). Die EU dreht also kräftig an der Rüstungsspirale.

Auf ihrem Jubiläumsgipfel in Rom, anlässlich des 60-jährigen Bestehens der kriselnden EU, hat deshalb die EU-Spitze vierZiele für die nächsten Jahre beschlossen, darunter das wohl wichtigste Ziel: „Ein stärkeres Europa in der Welt mit internationalen Partnerschaften, das dazu beiträgt, eine stärker wettbewerbsfähige und integrierte Verteidigungsindustrie zu schaffen.“ Ist also die „Europäische Verteidigungsunion“ in Wirklichkeit ein verkapptes Rüstungsprojekt gigantischen Ausmaßes?

Schon der Art. 42 des gültigen Lissabonner EU-Grundlagenvertrages von 2009 sieht jährliche Aufrüstungsverpflichtungen und deren Kontrolle durch die europäische Verteidigungsagentur (EDA) vor. Jüngst wurde von den meisten EU-Staaten einschließlich Deutschland folglich auch die Unterzeichnung des UN-Atomwaffenverbotsvertrages verweigert, der von 122 Staaten weltweit unterstützt wird. (Die zivilgesellschaftlichen Initiatoren erhielten dafür gerade den Friedennobelpreis). Ein gültiger, aber nie umgesetzter Beschluss des deutschen Bundestages von 2010 für den Abzug der letzten US-Atomwaffen in Deutschland (Büchel in der Pfalz)  wurde von der großen Koalitionsregierung einfach unter den Tisch gekehrt.

Warum wird das nicht Thema der Koalitions-Sondierungen zwischen SPD und CDU? Schließlich war die SPD mal die Partei des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt, der um Abrüstung und Entspannung bemüht war und den kalten Krieg mit dem Osten beendete, der jetzt wieder auflebt…

Wilhelm Neurohr (Haltern am See)

Dalai Lama: Unser Weg in eine friedliche Welt

Der Dalai Lama Exklusiv in der HÖRZU: Herzensbildung, Toleranz, Empathie: Franz Alt fragte den geistlichen Führer der Tibeter, was jeder von uns tun kann, um die Erde in einen friedlicheren Ort zu verwandeln.
Wie kann das 21. Jahrhundert eine Epoche des Friedens werden? Welche Werte sind heute wichtig? Was muss sich ändern in der Welt? Der Dalai Lama, spiritueller Führer der Tibeter, findet Antwort auf bedeutende Fragen unserer Zeit. Vor zwei Jahren hat er zusammen mit dem Journalisten Franz Alt das Buch „Der Appell des Dalai Lama an die Welt“ (Benevento, 56 Seiten, 4,99 Euro) veröffentlicht, das inzwischen in 16 Sprachen übersetzt wurde und ein Weltbestseller ist.

Jetzt haben sich die beiden Freunde in Frankfurt wieder getroffen, bereits zum 36. Mal. Der Dalai Lama ist nach 58 Jahren im Exil einer der ältesten Flüchtlinge der Welt. Dass er immer noch optimistisch ist, nennt Franz Alt das „Wunder des Dalai Lama“. Exklusiv in HÖRZU fasst er die wichtigsten Botschaften Seiner Heiligkeit zusammen:

Abrüstung und Toleranz

Der Dalai Lama sagt: „Abrüstung ist praktiziertes Mitgefühl. Voraussetzung einer äußeren Abrüstung ist allerdings eine innere Abrüstung von Hass, Vorurteilen und Intoleranz. Ich appelliere deshalb an alle aktuellen Kriegsparteien: ‚Rüstet ab und nicht auf!‘. Und an alle Menschen: ‚Überwindet Hass und Vorurteile durch Verständnis, Kooperation und Toleranz!‘“

Donald Trump und Amerikas Zukunft

„Wenn der amerikanische Präsident sagt ‚America first’, dann macht er seine Wähler glücklich. Das kann ich verstehen. Aber aus globaler Sicht ist diese Aussage nicht relevant. In der globalen Welt hängt heute alles mit allem zusammen. Amerikas Zukunft hängt auch von Europa ab und Europas Zukunft auch von den asiatischen Ländern. Deshalb sollte der US-Präsident mehr nachdenken über das, was für die ganze Welt relevant ist.“

Nationalismus und Konflikte

„Nationalismus ist ein ernstes Problem. Es ist zunächst einmal logisch, dass die vielen Nationen sich um ihre eigenen Belange kümmern. Die Europäische Union ist jedoch ein gutes Beispiel für gelungene internationale Zusammenarbeit. Nach Jahrhunderten der Kriege und des gegenseitigen Abschlachtens hat in den letzten 60 Jahren kein einziges Land der Europäischen Union gegen ein anderes Krieg geführt. Die Geschichte lehrt uns: Wenn Menschen nur ihre nationalen Interessen verfolgen, gibt es Streit und Krieg. Die EU ist weltweit das vorbildliche Friedensprojekt. Die Zukunft einzelner Nationen hängt immer auch von den Nachbarn ab – davon, dass es auch ihnen gut geht. Wir müssen jetzt lernen, dass die Menschheit eine einzige Familie ist. Wir alle sind physisch, mental und emotional Brüder und Schwestern. Aber wir legen den Fokus noch viel zu sehr auf unsere Differenzen anstatt auf das, was uns verbindet. Dabei sind wir doch alle auf dieselbe Weise geboren und sterben auf dieselbe Weise. Es ergibt wenig Sinn, mit Stolz auf Nation und Religion auf dem Friedhof zu landen!“

Flüchtlingskrise und Heimat

„Die Politik muss Mitgefühl für Menschen in Not zeigen. Migranten dürfen nicht diskriminiert werden. Ein paar Tausend Flüchtlinge jedes Jahr sind kein Problem für die reichen Länder. Deutschland hat in den letzten zwei Jahren sogar über eine Million Flüchtlinge aufgenommen, was ich sehr begrüße. Aber eine Million geht nicht jedes Jahr. Auf lange Sicht sollten die Flüchtlinge wieder zurückkehren und ihre Heimat aufbauen.“…

Volltext

Wilhelm Neurohr: Wie geht es weiter mit Europa?

Übersicht:

  • Existenzielle Krise der EU im 60. Jubiläumsjahr
  • Drohendes Scheitern und Auseinanderbrechend der EU

Teil I : Zum gegenwärtigen Zustand der Europäischen Krisen-Union

  • EU seit 12 Jahren im dauerhaften Krisenmodus
  • Konzeptionslosigkeit statt Neuaufbau der EU?
  • Es fehlt der Antrieb zu einem solidarischen Europa
  • Die Militarisierung der expandierenden EU als heikles Unterfangen
  • Uneinigkeit und Zerstrittenheit hinter den Kulissen durch nationale Egoismen
  • Marktradikale Ökonomisierung zerstört idealistischen Zauber der EU-Idee
  • Die EU verliert die Akzeptanz der Bevölkerung und erzeugt eine „verlorene Generation“
  • Ungelöste Konflikte und Probleme überfordern die EU
  • Eklatante Demokratie-Defizite und Bürgerferne der EU
  • Mangelnde Gewaltenteilung, hemmendes Einstimmigkeitsprinzip, unklarer Status
  • Soziale Schieflage durch fehlende einklagbare soziale Grundrechte
  • Europa als Steuerparadies und Tummelfeld für Lobbyisten
  • Krisenbündel als „Weckruf“ für Europa mit Aufwacherlebnissen
  • Die Krise als Chance für überfällige Reformen

Teil II : Wie geht es weiter mit der EU – Reformvorschläge „von oben“

  • Weiter so“ statt dringend notwendige Reformen?
  • Junckers Szenarien zum Rückzug der EU – fragwürdige  Zukunftsmodelle
  • Umstrittene Reformvorschläge des EU-Kommissionspräsidenten
  • Die „Sozialunion“ ist trotz der Erklärung von Göteborg umstritten
  • Die Reformagenda des französischen Präsidenten Macron für die EU
  • Gegenwind zu den Plänen von Juncker und Macron
  • Die offizielle Erklärung von Rom durch die führenden EU-Vertreter
  • Die vier Ziele der EU für die nächsten 10 Jahre
  • Die EU will eine militärische Macht werden und aufrüsten
  • Europäische Militärausgaben überflügeln Russland um das Dreifache
  • Europa hält an Atomwaffen fest statt an Abrüstungsvereinbarungen

 Teil III : Zivilgesellschaftliche Alternativ-Vorschläge für die Neugründung eines     anderen Europa „von unten“

  • Kampf zwischen Kultur und Kommerz – Europa von oben oder von unten?
  • Pro-europäische Bürgerbewegung – Heraus aus der Zuschauerdemokratie –   Ein funktionierendes Europa von unten muss erkämpft werden
  • Bündnis „Europa neu begründen – Die Krise durch Solidarität und Demokratie bewältigen“
  • „Puls of Europe“- Für Europa auf die Straße
  • Memorandum 2017: „Alternativen für ein solidarisches Europa“ statt „Germany first“
  • Vielfältige zivilgesellschaftliche Initiativen für ein anderes Europa von unten – Bürgerkonvent für eine neue EU-Verfassung
  • „DiEM 25“ – Paneuropäische Bewegung „Demokratie in Europa“  – gegen Nationalismus und Demokratieverfall
  • Institutionelle Reformen zur Demokratisierung der EU-Entscheidungsprozesse
  • Perspektiven für die Zukunft Europas und seine Rolle in der Wert

 Zum gegenwärtigen Zustand der Europäischen Krisen-Union

 Existenzielle Krise der EU im 60. Jubiläumsjahr

 Mit dem Thema „Europa“ konnte man noch vor einigen Jahren niemanden „hinter dem Ofen hervorlocken“. Dies bezeugen auch die geringen Wahlbeteiligungen um nur 40% bei den zurückliegenden Europawahlen.

Inzwischen hat sich jedoch der Blick auf Europa dramatisch geändert, denn „unsere Europäische Union ist in einer existenziellen Krise“. Das sind nicht meine Worte, sondern diese ehrliche Diagnose stellte EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker, und zwar im September 2016 in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union.

Dabei sollten wir uns als Europäer eigentlich in diesem Jahr des 60. Jubiläumsjahres der Europäischen Union erfreuen. Denn die Römischen Verträge von 1957 gelten ja als Gründungsdatum der  Europäischen Gemeinschaft.

Die EU hat uns rückblickend 70 Jahre lang Frieden beschert (sieht man von auswärtigen Kriegseinsätzen durch EU-Länder sowie vom Jugoslawienkrieg ab, dessen Kriegsverbrecher gerade vor dem UN-Tribunal abgeurteilt wurden).

Die EU hat uns Freizügigkeit und Reisefreiheit sowie Völkerfreundschaft ermöglicht, gemeinsame Währung (die wir im Urlaub zu schätzen wissen), ferner Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit sowie weitgehende Einhaltung der Menschenrechte auf der Basis gemeinsamer Werte. Aber auch Wohlstand für viele, wenn auch längst nicht für alle, sowie lange Zeit auch funktionierende Demokratie und Sozialstaatlichkeit – kurz: ein offenes und liberales Europa, das wir alle zu schätzen wissen.

Diese Werte sind derzeit in Gefahr mit Blick auf die zunehmende Renationalisierung und Entsolidarisierung, aber auch wegen der Grenzschließungen infolge der  Flüchtlingsbewegungen. Ferner durch Rechtspopulismus und soziale Spaltung, durch unzureichende Finanzmarktregulierungen und unklares Vorgehen bei der Euro-Rettung.

Nicht zuletzt ist die EU gefährdet auch durch eklatante Demokratie-Defizite, durch den Siegeszug der Lobbyisten und die sinkende Akzeptanz der Bevölkerung wegen fehlender Zukunftsperspektiven und -konzepte – bis hin zur zunehmenden Militarisierung der EU-Politik mit massiven Aufrüstungen statt Abrüstungen durch eine EU, die vor 5 Jahren den Friedensnobelpreis erhielt.

Heute, 60 Jahre später steht Europa „auf der Kippe“, zumindest in einem Erosionsprozess und bedarf eines ganz neuen Anlaufs. Denn mit den Ideen der europäischen Vordenker und Gründungsväter von einst hat die heutige Union nur noch wenig gemeinsam. Die Ursprungsidee ist geradezu degeneriert. Die EU ist in einer regelrechten Sinnkrise.

Drohendes Scheitern und Auseinanderbrechen der EU

„Wir feiern jetzt groß in Rom“, sagte der ehemalige belgische Premierminister Verhofstadt, „aber in Wirklichkeit ist das Projekt gescheitert“, so seine Worte. Auch andere europäische Spitzenpolitiker beschworen noch im vorigen Jahr 2016 allesamt in pessimistischen Reden unisono „das Auseinanderbrechen der EU“, von Ratspräsident Donald Tusk und dem französischen Ex-Präsidenten Hollande über den damaligen deutschen Außenminister Steinmeier und dem vorigen Bundespräsidenten Joachim Gauck, bis hin zum damaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz.

Originalton Martin Schulz: „Ja, die EU kann scheitern. Wenn wir nicht aufpassen, fällt sie auseinander“. Der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer malte in einem Interview 2016 die Lage noch viel dramatischer: „Europa ist viel zu schwach und zu zerrissen. Und so wird die westliche Welt, wie wir sie kennen, vor unseren Augen versinken.“ Doch wäre nicht das Zerbrechen Europas eine moralische Bankrotterklärung der zivilisierten westlichen Welt?

Deshalb soll in diesem Beitrag im ersten Teil der bedenkliche Zustand der EU mit ihren Fehlentwicklungen in einer Problemanalyse näher betrachten werden. Im zweiten Teil sollen die inzwischen vorliegenden diversen Reformvorschläge „von oben“ bewertet werden – also was von offizieller Seite, von den EU-Institutionen und Europas Spitzenpolitikern (wie Juncker und Macron) daraufhin für die Rettung Europas und seine Zukunft geplant ist (und ob das ausreicht oder in die falsche Richtung geht).

Und im dritten und wichtigsten Teil soll der Blick darauf gelenkt werden, was „von unten“ aus der Zivilgesellschaft an Alternativen für ein bürgernahes Europa von unten und  seine Neubegründung vorgeschlagen wird und welche Aktivitäten und Initiativen dazu ergriffen werden.

TEIL I:

 Zum gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union

 EU seit 12 Jahren im dauerhaften Krisenmodus

Der bedenkliche Zustand der EU, die sich seit 12 Jahren in einem dauerhaften Krisenmodus befindet, spiegelt sich in folgenden Zitaten aus Zeitungsschlagzeilen:

  • „Ist Europa schon tot, oder liegt es noch im Koma?“
  • „Der taumelnde Riese EU“
  • „Diese EU ist am Ende““
  • „Europa am Scheideweg“

Andere Vorwürfe lauten:

  • „Die EU zerstört die europäische Idee“
  • „Der Euro spaltet Nord und Süd“
  • „Europa ist eine lahme Ente – statt neuen Schwung zu nehmen“
  • „Das europäische Projekt hat seine Versprechen nicht gehalten“

Und Zeitungskommentatoren attestieren:

  • „Die Reformfähigkeit der EU steht in zentralen Politikfeldern in Frage“
  • „Europa ist im Begriff, sich in einen gescheiterten Kontinent zu verwandeln“
  • „Abbruchstimmung statt Aufbruch-Stimmung in Europa“
  • „Fehlende Zukunftsvisionen und nationalistische Rückwärtsgewandtheit“
  • „Europa fällt zurück in längst überwunden geglaubte Zeiten“

Einer behauptet sogar:

  • „Wenn die EU untergeht, wird keiner weinen“

Das darf allerdings bezweifelt werden, denn der Verlust wäre zweifellos tragisch.

Weitere Schlagzeilen:

  • „Was ist los mit dir, Europa?“
  • „Schicksalsjahr für Europa
  • „Die Europäische Union ist in einer schweren Krise“

Und ein Leitartikler in der Zeitung „Die Welt“ schrieb 2017: „Die EU ist in Teilen dysfunktional und im Kern nicht mehr reformfähig. Sie hat ausgedient. Sie muss neu aufgebaut werden.“ Immer lauter wird deshalb die nach vollziehbare Forderung nach einer Totalrevision der europäischen Verträge. Doch Europa sei „mit 60 noch nicht reif für die Rente“, meint der Luxemburger Regierungschef Xavier Bettel.

 Konzeptionslosigkeit statt Neuaufbau der EU?

Der amtsmüde Kommissionspräsident Juncker musste nach den Jubiläums-Feierlichkeiten in Rom eingestehen: „Ein echtes Konzept fehlt. Eine Antwort darauf haben wir nicht, wie die Zukunft der EU konkret aussieht.“ Das ist quasi eine Bankrotterklärung von höchster Stelle, ein politisches Armutszeugnis. Aber sollten wir nicht für die Wiederbelebung Europas energisch kämpfen?

Gerade jetzt kommt es doch auf die gemeinsamen europäischen Werte an – auch als freiheitliches Gegenmodell zu den Systemen von Trump, Erdogan, Putin, Orban und anderen. Dazu ist ein grundlegendes Überdenken der Politik und Architektur der EU dringend gefordert, wenn dieser Kontinent nicht scheitern soll. Die Prinzipien der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung stehen auf dem Spiel, ebenso die sozialen und demokratischen Prinzipien.

Europa wird meines Erachtens weniger an der Flüchtlingsfrage zerbrechen als vielmehr an der ungelösten sozialen Frage und an seinen eklatanten Demokratie-Defiziten. Daran ändern auch nichts die vor wenigen Tagen in Göteborg von den EU-Institutionen gemeinsam verkündeten unverbindlichen Aussagen für einen „sozialen Pfeiler der EU“, die im Weiteren noch näher hier betrachtet werden.

Die Menschen in Europa sind die politischen Bücklinge gegenüber den internationalen Finanzoligarchen leid, die uns als „marktkonforme Demokratie“ verkauft werden. Dabei brauchen wir einen demokratiekonformen Markt, denn die Wirtschaftslastigkeit Europas erzeugt mehr Verlierer als Gewinner. Die Sehnsucht nach einer tragenden Idee für Europa wurde kaum erfüllt; Europa hat seine Versprechungen nicht gehalten.

Die Menschen sind zwar mehrheitlich für die europäische Integration, aber sie wollen ein anderes Europa als das der Eliten. Andernfalls vollzieht sich mit den Rechtspopulisten in Europa und Amerika bereits eine gefährliche antiliberale Revolte. Vielleicht hat der ehemalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz nicht ganz Unrecht mit seiner Aussage, dass die EU sich außen- und wirtschaftspolitisch zunehmend von den USA emanzipieren sollte, dann hätte die Ära Donald Trump wenigstens in dieser Hinsicht ihr Gutes.

 Es fehlt der Antrieb zu einem solidarischen Europa

In Wirklichkeit fehlt der Antrieb zu einem solidarischen Europa – mit höheren Löhnen, kürzerer Arbeitszeit, bezahlbaren  Wohnungen und umfassender Sozialversicherung sowie Wohlstand für alle, wie jüngst in Göteborg zwar von der EU-Spitze verkündet – allein, es fehlt der Glaube. Deutschland als reichstes Land will nicht draufzahlen  – weil es heute schon 13 Mrd. € mehr einzahlt als es an EU-Mitteln erhält, Und keiner will sein Wohlstandsniveau absenken. Im Hinterkopf des größten und einflussreichsten EU-Landes versteckt sich in Wirklichkeit das Anliegen „Germany first“.

Der „Exportweltmeister Deutschland“ mit seinen Exportüberschüssen und seiner Niedriglohnpolitik ist mit diesem nationalen Wirtschaftsegoismus  mitverantwortlich für den wirtschaftlichen Niedergang der südeuropäischen Länder und deren Verschuldung, von der Deutschland auch noch profitiert, so attestieren die Wirtschaftswissenschaftler. Und außenpolitisch muss Europa seine Handels- und Entwicklungspolitik korrigieren, wenn ihm wirklich an der Beseitigung der Fluchtursachen in den Armutsländern außerhalb Europas gelegen…

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Wilhelm Neurohr: „Europa der Regionen“ statt „Nationalstaaten“ als einigendes Föderalismus-Prinzip

Leserbrief an die Ruhr-Nachrichten zum „Blickpunkt Spanien“ vom 12. Oktober 2017

„Europa der Regionen“ statt „Nationalstaaten“ als einigendes Föderalismus-Prinzip

Das Dilemma Spaniens und letztlich auch Europas sind die undifferenzierten sowie diffusen Begriffe von Volk und Nation und deren missverstandenes „Selbstbestimmungsrecht“. Separatistische Abspaltungstendenzen einzelner Regionen könnte man dann vermeiden, wenn man sauber unterscheiden statt vermischen würde:

  • Kulturelle Autonomie einerseits, die jeder Region und Volksgruppe in Europa problemlos  zugestanden  werden könnte.
  • Rechtliche „Autonomie“ andererseits  im Sinne des Föderalismus, bei dem die Regionen innerhalb des gesamtstaatlichen Rechtsrahmens eigene rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten haben (wie etwa unsere Bundesländer) – unter Beachtung des so genannten „Subsidiaritätsprinzips“, d.h. die höhere Ebene gestaltet nur solche übergeordneten Rechtsfragen,  die nicht besser auf der unteren Ebene aufgehoben sind. (Das muss auch die EU noch lernen).
  • Und schließlich die abwegige  „wirtschaftliche Autonomie“, die es im Zeitalter der Globalisierung nicht geben kann, wohl aber bewusste Stärkung der regionalen Wirtschaft im Sinne regionaler Kreisläufe, von der auch der Gesamtstaat und Europa wirtschaftlich profitieren würden – zuzüglich Entlastung der Verkehrsadern.

Und als langfristige Perspektive ein föderalistisches „Europa der Regionen“ auf dieser Basis, das sich vom überholten Nationalstaatsprinzip völlig verabschiedet. Denn es sind weniger einige  Separatistenbewegungen, die Europa ernsthaft gefährden, als vielmehr die egoistisch und machtpolitisch  ausgerichteten Nationalstaaten mit ihrem „Nationalismus“, die derzeit der europäischen Solidarität und dem Zusammenhalt zerstörerisch entgegenwirken.

Wilhelm Neurohr

 

 

Wilhelm Neurohr: PERSONENKULT DER SPD STATT GLAUBWÜRDIGE INHALTLICHE KEHRTWENDE?

Leserbrief an die Recklinghäuser Zeitung zur aktuellen Berichterstattung und Kommentierung der Nominierung von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten (Ende Januar 2017)

 „PERSONENKULT  DER SPD

STATT  GLAUBWÜRDIGE  INHALTLICHE  KEHRTWENDE?“

 Der lange Zeit deprimierten und nun euphorischen SPD-Basis will ich ungern ihre Vorfreude  auf den Wahlkampf mit dem „Hoffnungsträger“ Martin Schulz verderben. Aber erzeugt sie nicht mit dem „Personenkult“ um den von Herrn Gabriel ausgesuchten neuen Spitzenmann und Kanzlerkandidaten der SPD völlig überzogene Erwartungen und falsche Hoffnungen auf einen wirklichen Politikwechsel?

Wenn Martin Schulz gleich in seiner ersten Antrittsrede ausdrücklich betonte: „Auch ein Gerhard Schröder hat Deutschland gut getan“, dann ist das alles andere als ein Abschied von der neoliberalen und sozial verheerenden Agenda 2010 der SPD, die ja Hauptursache für die Armutsentwicklung bei Löhnen und Renten sowie für die Steuerungerechtigkeit war und  ist. Martin Schulz gehört ebenso wie Sigmar Gabriel und der von diesem vorgeschlagene Präsidentschaftskandidat Walter Steinmeier – als ein Architekt der Agenda 2010 unter Schröder – dem „Seeheimer Kreis“ an, also dem neoliberal orientierten rechten Flügel der SPD. Dennoch stellt er sich nun gefühlsselig und phrasenhaft als „Anwalt der kleinen, hart arbeitenden Leute“ mit Bauchgefühl dar, wie am Sonntagabend bei Anne Will.

Im EU-Parlament war Martin Schulz als Architekt der dortigen informellen „großen Koalition“ eng befreundet mit dem konservativen und neoliberalen EU-Kommissionspräsidenten Jean Claude Juncker. Als dieser in Bedrängnis geriet beim „Luxembourg-Leak-Skandal“ wegen der Luxemburger Steueroase für Reiche und Konzerne, verhinderte Martin Schulz einen vom Parlament geforderten Untersuchungsausschuss, um Juncker vor einem Rücktritt zu bewahren. Und nun redet Schulz von angestrebter „Steuergerechtigkeit“  und „Verhinderung von Steuerflucht“. Hatten nicht die SPD-Finanzminister Eichel, Clement und Steinbrück  als Agenda 2010-Projekt großzügige Steuergeschenke für die Reichen und ein steuerliches Ausbluten der Kommunen zu verantworten? Und hat nicht  die SPD seitdem die jährlichen „Armuts-Reichtums-Berichte“ stur ausgesessen statt gegen zusteuern? Warum wehrt sich die SPD immer noch gegen höhere Vermögens- und Erbschaftssteuern?

Ganz zu schweigen vom Engagement des Martin Schulz im EU-Parlament für die umstrittenen und von fast 70 Prozent der Bevölkerung abgelehnten neoliberalen und lobbygeprägten Freihandelsverträge, mit denen Arbeitnehmerrechte, Verbraucherschutz und demokratische Gewaltenteilung gefährdet würden zugunsten des Primats der Wirtschaft über dem Primat der Politik. Schulz hat auch mit Nachdruck die gnadenlose Spar- und Austeritätspolitik von CDU-Finanzminister Schäuble in der EU unterstützt, als Griechenland und andere in die Staatsschuldenkrise gerieten. Ergebnis: über 50% Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa und Höchststand der Arbeitslosigkeit in der EU mit 22 Mio. arbeitslosen Menschen und der höchsten Obdachlosigkeit. Und auch die von Gabriel als Wirtschaftsminister noch schnell vorbreiteten sogenannten PPP-Modelle zugunsten der Privatisierung  der Autobahnen wird Martin Schulz wohl nicht ausbremsen.

In der Polit-Talkshow am Sonntagabend hat Anne Will es sträflich versäumt, dem hochgejubelten SPD-Kanzlerkandidaten zu all diesen Punkten auf den Zahn zu fühlen. Stattdessen betrieb sie eine halbe Stunde lang psychologisierendes Befragen über die Motive für die Kandidatur und beteiligte sich wie die übrigen Medien an dem unerträglichen „Personenkult“ in unserer „Zuschauerdemokratie“.  Fazit: Oberflächliches Bauchgefühl und Emotionen mit der Überbewertung von „Führungsgestalten“ siegen in der „postfaktischen Ära“ über rationale politische Bewertungen. Die Ernüchterung kommt spätestens nach dem Wahltag am 24. September, aber der Wahlkampf wird eine große „Kleine-Leute-Show“.

Wilhelm Neurohr

(Haltern am See)

Aufruf: „Die Spirale der Gewalt beenden – für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik jetzt!“

Aufruf: „Die Spirale der Gewalt beenden – für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik jetzt!

Immer mehr setzen die NATO und Russland auf Abschreckung durch Aufrüstung und Drohungen gegeneinander statt auf gemeinsame Sicherheit durch vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Sie missachten damit auch ihre Verpflichtungen zum Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung, zur Stärkung der Vereinten Nationen und zur friedlichen Beilegung von Streitfällen mit einer obligatorischen Schlichtung durch eine Drittpartei, die die Staatschefs Europas und Nordamerikas vor 25 Jahren in der “Charta von Paris”*) feierlich unterschrieben haben. Seitdem ist mühsam aufgebautes Vertrauen zerstört, und die friedliche Lösung der Krisen und Konflikte erschwert worden.

Ohne Zusammenarbeit mit Russland drohen weitere Konfrontation und ein neues Wettrüsten, die Eskalation des Ukraine-Konflikts, und noch mehr Terror und Kriege im Nahen Osten, die Millionen Menschen in die Flucht treiben. Europäische Sicherheit wird – trotz aller politischen Differenzen über die Einschätzung des jeweils anderen inneren Regimes – nicht ohne oder gar gegen, sondern nur gemeinsam mit Russland möglich sein.

Das ist die zentrale Lehre aus den Erfahrungen mit der Entspannungspolitik seit den 60er Jahren, namentlich der westdeutschen Bundesregierung unter Willy Brandt. Er erhielt dafür 1971 den Friedensnobelpreis mit der Begründung des Nobelkomitees, er habe „die Hand zur Versöhnung zwischen alten Feindländern ausgestreckt“. Niemand konnte damals wissen, dass kaum zwanzig Jahre später der friedliche Fall der Berliner Mauer und des „Eisernen Vorhangs“ in Europa einen Neuanfang ermöglichen würden, nicht zuletzt ein Ergebnis der von Willy Brandt durchgesetzten und danach fortgesetzten Entspannungspolitik!

Der Ausweg aus der Sackgasse der Konfrontation führt auch heute nur über Kooperation, durch Verständigung mit vermeintlichen „Feindländern“!

Anfang 2009, zum Amtsantritt von Präsident Obama, mahnte der „Architekt der Entspannungspolitik“, Egon Bahr, gemeinsam mit Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker und Hans Dietrich Genscher, in einem Appell für eine atomwaffenfreie Welt: „Das Schlüsselwort unseres Jahrhunderts heißt Zusammenarbeit. Kein globales Problem ist durch Konfrontation oder durch den Einsatz militärischer Macht zu lösen“.

Ähnliche Aufrufe von „Elder Statesmen“ gab es in anderen Ländern. Im Bundestag einigten sich im März 2010 Union, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf einen gemeinsamen Antrag (17/1159), der unter anderem den „Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland“ forderte. Angesichts der Eskalation der Ukraine-Krise und zur Unterstützung von „Minsk 2“ wuchs Anfang 2015 auch in den Parteien die Forderung nach einer „neuen Entspannungspolitik“.

Egon Bahr und andere machten immer wieder Vorschläge zur Entschärfung bzw. Lösung der aktuellen Konflikte mit Methoden der Entspannungspolitik. Zahlreiche, teils prominente Bürgerinnen und Bürger engagierten sich mit Erklärungen und Aufrufen. In einer gemeinsamen Erklärung fordern VertreterInnen aus Kirchen, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft „eine neue Friedens- und Entspannungspolitik jetzt!“. Aber diese Aufrufe verhallten nahezu ungehört.

Heute ist die breite gesellschaftliche und parteiübergreifende Debatte über Entspannungspolitik notwendiger denn je, um zu helfen, die Konfrontation in Europa zu beenden und die europäischen Krisen zu bewältigen und – mit Nutzen für die ganze Welt – eine Zone gesamteuropäischer “gemeinsamer Sicherheit“ durch Zusammenarbeit aller Staaten von Vancouver bis Wladiwostok durchzusetzen.

Unterstützen Sie den Aufruf mit dem folgenden Formular –  das erleichtert uns die Erfassung – ODER senden Sie eine E-Mail an Burkhard Zimmermann.

Mehr hierzu →  http://neue-entspannungspolitik.berlin/de/aufruf/