Wilhelm Neurohr: Verteilungsgerechtigkeit: „Irgendwann gehört alles einem Einzigen“

Noch nie zuvor hat sich weltweit und in Deutschland die Reichtumskonzentration auf einige Wenige einerseits und die gleichzeitige Verarmung eines Großteils der Bevölkerung andererseits so krass entwickelt wie seit dem neoliberalen Siegeszug der Finanzoligarchie, die nachweislich mit den politischen Eliten personell eng verflochten ist.

20 Jahre lang haben lobbyhörige Regierungen in Deutschland unter verschiedenen Parteikonstellationen mit ihrer Politik die Umverteilungen von unten nach oben nicht nur ungebremst geschehen lassen und geduldet, sondern politisch ermöglicht und forciert: 13 Jahre unter Kanzlerin Merkel, davon 9 Jahre GroKo mit der SPD und 4 Jahre schwarz-gelb mit der FDP sowie vorher 8 Jahre rot-grün unter Schröder mit der SPD und den Grünen. Daran wird auch die auf der Kippe stehende GrOKO nach 100 Tagen Amtszeit nichts ändern.

„Nützliche Idioten“

Nicht zuletzt die EU hat vor und nach der Finanzkrise die ungerechte Umverteilungspolitik wesentlich begünstigt und beschleunigt. In einem Kommentar im Feuilleton der konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung heißt es dazu unter der Überschrift „Der Krieg der Banken gegen das Volk“ bereits in 2011:

„Wenn die Troika aus EZB, Europäischer Union und IWF verkündet, dass die Bevölkerung aufkommen müsse für das, was die Reichen sich nehmen, stehlen, am Finanzamt vorbeischleusen, so ist das keine politisch neutrale Haltung. Hier wird unfair erlangter Reichtum privilegiert. Ein demokratisches Fiskalregime würde progressive Steuern auf Einkommen und Grundbesitz erheben und Steuerflucht ahnden“.

Deshalb spricht der Kommentator Michael Hudson mit Blick auf die dafür verantwortlichen Politiker zutreffend von „nützlichen Idioten“. Und das ist das Ergebnis des eklatanten Politikversagens in punkto „sozialer Gerechtigkeit“:

  • 45 Superreiche in Deutschland besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung (Quelle: isw)
  • Dem reichsten 1% in Deutschland gehört 40,5% des Vermögens (Quelle: Statistikportal Sozial Statista)
  • Die reichsten 10% in Deutschland besitzen 52% des Nettovermögens (Neue Passauer Presse 2013/ Zahlen des Bundessozialministeriums)
  • Den reichsten 5% in Deutschland gehört die Hälfte aller Wohnungen und Häuser (Quelle: WDR)

Weltweit ist die Reichtums-Verteilung oder Verteilungs-Ungerechtigkeit ebenso erschütternd:

  • Die 62 reichsten Menschen der Welt besitzen so viel wie die 3,6 Mrd. ärmsten (Quelle: Deutschlandfunk Kultur)
  • 8 Milliardäre besitzen mehr als die ärmere Bevölkerungshälfte (Quelle: Oxfam)
  • 1% der Weltbevölkerung hat mehr als alle anderen 99% (Quelle: Zeit online)
  • Einer hat soviel wie 58 Millionen andere zusammen (Quelle: Deutschlandfunk Kultur)
  • Die reichsten 1% besitzen mehr als 50% des globalen Vermögens (Quelle: Telepolis)
  • Die 85 reichsten Menschen in der Welt besitzen so viel Vermögen wie die andere Hälfte der Weltbevölkerung (Quelle: Oxfam)

Wenn nicht politisch gegengesteuert wird, dann könnte in wenigen Jahren die Schlagzeile absehbar wie folgt lauten:

  • „Jetzt gehört einem Einzigen ganz Deutschland und alles in der Welt“

Wie ist das mit dem Regierungsziel eines sozialeren Deutschland und Europa oder mit der versprochenen „Bekämpfung von Korruption und Fluchtursachen in den ärmeren Ländern“ vereinbar?

Solange führende Politiker nach ihrer Amtszeit in die Finanzwirtschaft wechseln oder umgekehrt Investment-Banker von Goldman-Sachs als Staatssekretäre beim deutschen SPD-Finanzminister Olaf Scholz anheuern, solange ausgeschiedene EU-Kommissionspräsidenten wie Emmanuel Barroso selber als Lobbyisten bei Goldman-Sachs einsteigen, und solange eine deutsche Bundeskanzlerin ihre auf Staatskosten ausgetragene Geburtstagsfeier für den damaligen Chef der kriminellen Deutschen Bank, Josef Ackermann, als angemessen in einer „marktkonformen Demokratie“ verteidigt – solange wird sich an diesen sozialen Ungerechtigkeiten nichts ändern…

Wilhelm Neurohr

DIE LINKE, Demokratischer Sozialismus, Utopien. Eine Replik

Der »Demokratische Sozialismus« im Programm der Linken wird von einem Sozialdemokraten als Utopie abgetan. „Der politische Kampf für einen demokratischen Sozialismus kann“, behauptet er, „nur zum Verfall der Demokratie und zum Bürgerkrieg in Deutschland führen.“

Selbst wenn humanistische Ideen nicht voll und ganz realisiert werden können oder verfälscht und pervertiert werden wie Buddhas widerspruchsfreie, als authentisch geltende Lehre, der Pali- Kanon, wir würden, gäben wir sie auf, uns selber aufgeben:

Der Stein des Sisyphus rollt immer wieder bergab.
Aber besteht unser Menschsein nicht darin,
dass wir ihn auch immer wieder den Berg hinauftragen,
damit er nicht unten liegen bleibt?

[In Anlehnung an Camus, Le mythe de sisyphe. Essai sur l`absurde]

„Utopie ist `Denken nach Vorn` (Ernst Bloch) als `die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll`“ (Max Horkheimer)

Utopien sind Platons »Staat«, die «Politeia« (4. Jh. v.u.Zr.), Thomas Morus` »Utopia« (1516), Kants »Zum ewigen Frieden« (1795/96). Das waren keine wirkungslose Spinnereien.

„Regieren heißt voraussehen.“ (Robert Jungk) Danach können wir mit Robert Habeck sagen: „Wir haben in Wahrheit keine Regierung“ ,   „sondern ein zusammen getackertes Bündnis von Parteien…“, das, statt die systemischen Übel bei den Wurzeln zu packen, den status quo verwaltet.

Politik verstanden als soziales Handeln, welches das Zusammenleben von Menschen so regelt, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948) formuiert ist.

Heute sind, auch in Deutschland, tiefgreifende Veränderungen des Wirtschafts- und Sozialsystems nötig, um den Menschenrechten Geltung zu verschaffen. Die Koalitionäre der SPD sind dazu nicht fähig und nicht willens, denn die Partei ist vom Wohlwollen und von den Wohltaten der zum Teil transnationalen und globalen Banken und Konzernen ebenso abhängig wie die CDU/CSU und die FDP. Sie ist Teil des neoliberalen Systems. Der Grundsatz „Eigentum verpflichtet“ (GG. Art….) ist nur noch eine Leerformel.

Es ist kein Zufall, dass der entfesselte Kapitalismus gleich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der übrigen europäischen realsozialistischen Staaten seinen Anfang nahm und in das von ihr hinterlassene Machtvakuum stieß.

Dadurch sind fast alle Demokratien ausgehöhlt worden und nur noch formal vorhanden. Die Bundesrepublik ist da keine Ausnahme. In den westlichen Gesellschaften dominiert, wie überall, wo der Kapitalismus herrscht, Konsumismus und Egozentrismus. Im Kapitalismus sind die Sinne des Menschen auf den Sinn des Habens verkümmert (K. Marx, E. Fromm).

Trotzdem sollten wir die Möglichkeit, eine sozialistische Gesellschaft durch einen sozialökologischen Umbau der Produktions- und damit auch der Lebensverhältnisse in vielen kleinen konkreten Schritten zu verwirklichen, nicht ausschließen. Denn wir können heute nicht mehr voraussagen, was morgen geschieht. Trumps infantile Extravaganzen und die Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Roboter und andere neue zivile und militärische Technologien machen eine Prognose unmöglich. Die Digitalisierung kann aber auch eine globale Demokratisierung in Gang setzen.

Die Schüler*innen-Poteste gegen Trump und die Waffenlobby haben gezeigt, wie das geht.

Wilhelm Neurohr: GroKo-Papier kein großer sozialpolitischer Wurf für die eigentlichen Problemlösungen

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, zur Berichterstattung über das Verhandlungsergebnis der GroKo:

 GroKo-Papier kein großer sozialpolitischer Wurf für die eigentlichen Problemlösungen

 Es wäre aufschlussreich gewesen, wenn dem Koalitionspapier der GroKO zunächst die bisherige Bilanz des Regierungshandelns aus 8 Jahren GroKo bzw. aus der Regierungsära von 12 Jahren Merkel für den Zeitraum 2005 bis 2017 vorangestellt worden wäre, um den eigentlichen Handlungsbedarf für die nächsten Jahre zu erkennen:

  • Die Zahl der Armenspeisungen (Tafelbesucher) stieg in den 12 Jahren ungebremst von 0,5 Millionen auf 1,5 Mio., also um das Dreifache. Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland stieg im gleichen Zeitraum von 300.000 auf 700.000, also um mehr als das Doppelte (offiziell angeblich „nur“ von 250.000 auf 340.000).
  • Die Zahl der von Altersarmut Betroffenen stieg von 18% auf 21% (und wird sich in Zukunft vervielfachen); in absoluten Zahlen war das ein Anstieg von 4,5 Mio. auf fast 6 Mio. Betroffene. Die Zahl der Armutsrentner mit Grundsicherung im Alter stieg  von 2,3% auf 3,4%, bei den Frauen von 2,5% auf 3,5%
  • Das Armutsrisiko für Kinder stieg in den 12 Jahren für Kinder von 17% auf 25%, das der Erwerbstätigen von 7% auf 12% sowie insgesamt von 14% auf 18%.
  • Die Zahl der Niedriglöhner stieg von 21% auf 30,5% (absolut auf 2,2 Mio. Erwerbstätige, darunter 80% mit Berufsausbildung), d.h. deren Haushalte leben trotz Vollzeitarbeit von weniger als 1167,- € brutto (auf Hartz-IV-Niveau); weitere 40% der Familien leben von weniger als 2083,-€ brutto. Die Zahl der Aufstocker unter den Erwerbstätigen stieg auf 1,4 Mio. Erwerbstätige.
  • Die Zahl der Minijobber stieg auf die Rekordzahl von 8,4 Millionen; jede 4. In Deutschland arbeitet im Niedriglohnsektor (vorletzter Platz in der EU hinter Litauen). Unter den geringfügig Beschäftigten sind 4,5 Mio. Frauen. Die Teilzeitquote steig bei den Frauen von 30% auf 46%, bei den Männern von 6% auf über 10% .
  • Der Anteil der unteren Einkommensgruppen stieg von 14% auf über 17%. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Einkommensmillionäre von 13.000 auf rund 20.000, die Reichtumsquote von 7,7% auf 9%.
  • Die Zahl der überschuldeten Haushalte stieg im gleichen Zeitraum von 5% auf 6% insgesamt, (in manchen Regionen und Stadtteilen bis über 20%), insgesamt sind 7,3 Mio. Menschen betroffen. Die Zahl der Stromsperrungen wegen Zahlungsrückständen stieg auf die Rekordzahl 330.000 Haushalte; weiteren 620.000 Haushalten wurden sie angedroht (auch durch kommunale Stadtwerke in SPD-Städten).
  • Die Zahl der Krankenstände bundesweit stieg für die immer mehr ausgepressten Arbeitnehmer von 3,7 % auf 4,3%. (Geringverdiener haben 2 Jahre weniger Lebenserwartung).

Fazit: Das Problem der ungleichen Lebenschancen durch die immer größer werdende Kluft zwischen Armut und Reichtum nach 12 Jahren anhaltender Umverteilung von unten nach oben wird auch in den nächsten Jahren weiter ausgesessen und damit nahezu ungebremst verschlimmert! Oder erkennt jemand in dem GroKo-Papier den großen sozialen Wurf, den sich auch die kritische SPD-Basis erträumt hatte?

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: SONDIERUNGSERGEBNISSE TORPEDIEREN EUROPÄISCHE SOZIALPOLITIK

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, zur Berichterstattung über die Koalitions-Sondierungen in Berlin:

„SONDIERUNGSERGEBNISSE TORPEDIEREN EUROPÄISCHE SOZIALPOLITIK“

Täglich hören wir von Spitzenpolitikern aus dem In- und Ausland sowie in den Medien das Argument, die „Groko“ sei allein schon wegen der großen Herausforderungen für das reformbedürftige Europa dringend  geboten. Warum nimmt dann das bisherige Sondierungspapier von CDU und SPD auf die wichtigsten und aktuellsten  europäischen Weichenstellungen aus dem 60-jährigen EU-Jubiläumsjahr 2017 überhaupt nicht Bezug, sondern bleibt mit seinen Allgemeinplätzen zu Europa weit dahinter zurück? Die Sondierungsergebnisse torpedieren die europäische Sozialpolitik.

Vor allem die konkrete Idee einer „Europäischen Sozialunion“, die von einem 105-köpfigen EU-Konvent entworfen wurde, ist von Frau Merkel zuvor in mehreren  Interviews entschieden abgelehnt worden. In der gemeinsam beschlossenen „Göteborger Erklärung“ vom Oktober 2017 haben jedoch die Europäische Kommission, das Europaparlament und der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs im Oktober 2017 (im Beisein von Merkel und Gabriel) folgendes für ganz Europa verkündet: Faire Löhne, einen europäischer Mindestlohn, angemessene Renten, hohe Sozialstandards gegen Ungleichheit sowie Kampf dem Lohndumping.

Das deckt sich mit den sozialen Forderungen, mit denen die SPD in Deutschland in die Sondierungsgespräche hineingegangen, aber erfolglos wieder herausgekommen ist. Wollen sich Merkel, Seehofer, Schulz und Nahles mit ihren faulen Kompromissen klammheimlich von den sozialpolitischen Zielen und Vorgaben der EU verabschieden, die Deutschland zuvor auf der EU-Ebene mitgetragen hat? Mit den dürftigen Sondierungsergebnissen würde Deutschland weiterhin als reichstes EU-Land weit hinter dem europäischen Sozialmodell zurück bleiben. Auch die vom französischen Staatspräsidenten entworfenen und vielgelobten Pläne für eine sozial ausgleichende Harmonisierung der Steuer- und Sozialpolitik bleiben in Deutschland unbeachtet.

Denn auch die Agenda-Partei SPD ist sich bewusst, dass im Europavergleich das niedrige Lohnniveau in Deutschland mit den prekären Arbeitsverhältnissen sowie das mit Abstand niedrigste Rentenniveau in Europa mit drohenden Armutsrentnern einen großen sozialpolitischen Wurf in Deutschland erfordern würde – mit Abschied von der sozial verheerenden Agenda 2010. Dazu ist sie nicht Willens und in der Lage, obwohl von der eigenen SPD-Basis und den abhanden gekommenen SPD-Wählern seit Jahren gefordert.

Wie will die SPD den Menschen im Land erklären, warum sie sich hier laut Nahles mit 48% Rentenniveau dauerhaft begnügen sollen, während sich das durchschnittliche Rentenniveau  in Europa und den übrigen OECD-Ländern um 70% bewegt? Warum kann Deutschland nicht von den funktionierenden und bezahlbaren Rentenmodellen der Nachbarländer Österreich, Schweiz, Niederlande, Luxemburg, Skandinavien u. a. lernen?

Auf dem Weg zu einer 18%-Partei sollte sich die SPD, zumindest ihr tonangebender rechter Flügel vom „Seeheimer Kreis“ überlegen, ob sie nicht dauerhaft eine Fusion mit der CDU eingehen soll, wenn ihr die Fortsetzung des neoliberalen Kurses wichtiger ist als das soziale Wohl der millionenfach verarmenden Menschen in diesem Land – infolge von 12 Jahren gemeinsamer Groko-Poltik zugunsten der Wohlhabenden.

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: Wie geht es weiter mit Europa?

Übersicht:

  • Existenzielle Krise der EU im 60. Jubiläumsjahr
  • Drohendes Scheitern und Auseinanderbrechend der EU

Teil I : Zum gegenwärtigen Zustand der Europäischen Krisen-Union

  • EU seit 12 Jahren im dauerhaften Krisenmodus
  • Konzeptionslosigkeit statt Neuaufbau der EU?
  • Es fehlt der Antrieb zu einem solidarischen Europa
  • Die Militarisierung der expandierenden EU als heikles Unterfangen
  • Uneinigkeit und Zerstrittenheit hinter den Kulissen durch nationale Egoismen
  • Marktradikale Ökonomisierung zerstört idealistischen Zauber der EU-Idee
  • Die EU verliert die Akzeptanz der Bevölkerung und erzeugt eine „verlorene Generation“
  • Ungelöste Konflikte und Probleme überfordern die EU
  • Eklatante Demokratie-Defizite und Bürgerferne der EU
  • Mangelnde Gewaltenteilung, hemmendes Einstimmigkeitsprinzip, unklarer Status
  • Soziale Schieflage durch fehlende einklagbare soziale Grundrechte
  • Europa als Steuerparadies und Tummelfeld für Lobbyisten
  • Krisenbündel als „Weckruf“ für Europa mit Aufwacherlebnissen
  • Die Krise als Chance für überfällige Reformen

Teil II : Wie geht es weiter mit der EU – Reformvorschläge „von oben“

  • Weiter so“ statt dringend notwendige Reformen?
  • Junckers Szenarien zum Rückzug der EU – fragwürdige  Zukunftsmodelle
  • Umstrittene Reformvorschläge des EU-Kommissionspräsidenten
  • Die „Sozialunion“ ist trotz der Erklärung von Göteborg umstritten
  • Die Reformagenda des französischen Präsidenten Macron für die EU
  • Gegenwind zu den Plänen von Juncker und Macron
  • Die offizielle Erklärung von Rom durch die führenden EU-Vertreter
  • Die vier Ziele der EU für die nächsten 10 Jahre
  • Die EU will eine militärische Macht werden und aufrüsten
  • Europäische Militärausgaben überflügeln Russland um das Dreifache
  • Europa hält an Atomwaffen fest statt an Abrüstungsvereinbarungen

 Teil III : Zivilgesellschaftliche Alternativ-Vorschläge für die Neugründung eines     anderen Europa „von unten“

  • Kampf zwischen Kultur und Kommerz – Europa von oben oder von unten?
  • Pro-europäische Bürgerbewegung – Heraus aus der Zuschauerdemokratie –   Ein funktionierendes Europa von unten muss erkämpft werden
  • Bündnis „Europa neu begründen – Die Krise durch Solidarität und Demokratie bewältigen“
  • „Puls of Europe“- Für Europa auf die Straße
  • Memorandum 2017: „Alternativen für ein solidarisches Europa“ statt „Germany first“
  • Vielfältige zivilgesellschaftliche Initiativen für ein anderes Europa von unten – Bürgerkonvent für eine neue EU-Verfassung
  • „DiEM 25“ – Paneuropäische Bewegung „Demokratie in Europa“  – gegen Nationalismus und Demokratieverfall
  • Institutionelle Reformen zur Demokratisierung der EU-Entscheidungsprozesse
  • Perspektiven für die Zukunft Europas und seine Rolle in der Wert

 Zum gegenwärtigen Zustand der Europäischen Krisen-Union

 Existenzielle Krise der EU im 60. Jubiläumsjahr

 Mit dem Thema „Europa“ konnte man noch vor einigen Jahren niemanden „hinter dem Ofen hervorlocken“. Dies bezeugen auch die geringen Wahlbeteiligungen um nur 40% bei den zurückliegenden Europawahlen.

Inzwischen hat sich jedoch der Blick auf Europa dramatisch geändert, denn „unsere Europäische Union ist in einer existenziellen Krise“. Das sind nicht meine Worte, sondern diese ehrliche Diagnose stellte EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker, und zwar im September 2016 in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union.

Dabei sollten wir uns als Europäer eigentlich in diesem Jahr des 60. Jubiläumsjahres der Europäischen Union erfreuen. Denn die Römischen Verträge von 1957 gelten ja als Gründungsdatum der  Europäischen Gemeinschaft.

Die EU hat uns rückblickend 70 Jahre lang Frieden beschert (sieht man von auswärtigen Kriegseinsätzen durch EU-Länder sowie vom Jugoslawienkrieg ab, dessen Kriegsverbrecher gerade vor dem UN-Tribunal abgeurteilt wurden).

Die EU hat uns Freizügigkeit und Reisefreiheit sowie Völkerfreundschaft ermöglicht, gemeinsame Währung (die wir im Urlaub zu schätzen wissen), ferner Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit sowie weitgehende Einhaltung der Menschenrechte auf der Basis gemeinsamer Werte. Aber auch Wohlstand für viele, wenn auch längst nicht für alle, sowie lange Zeit auch funktionierende Demokratie und Sozialstaatlichkeit – kurz: ein offenes und liberales Europa, das wir alle zu schätzen wissen.

Diese Werte sind derzeit in Gefahr mit Blick auf die zunehmende Renationalisierung und Entsolidarisierung, aber auch wegen der Grenzschließungen infolge der  Flüchtlingsbewegungen. Ferner durch Rechtspopulismus und soziale Spaltung, durch unzureichende Finanzmarktregulierungen und unklares Vorgehen bei der Euro-Rettung.

Nicht zuletzt ist die EU gefährdet auch durch eklatante Demokratie-Defizite, durch den Siegeszug der Lobbyisten und die sinkende Akzeptanz der Bevölkerung wegen fehlender Zukunftsperspektiven und -konzepte – bis hin zur zunehmenden Militarisierung der EU-Politik mit massiven Aufrüstungen statt Abrüstungen durch eine EU, die vor 5 Jahren den Friedensnobelpreis erhielt.

Heute, 60 Jahre später steht Europa „auf der Kippe“, zumindest in einem Erosionsprozess und bedarf eines ganz neuen Anlaufs. Denn mit den Ideen der europäischen Vordenker und Gründungsväter von einst hat die heutige Union nur noch wenig gemeinsam. Die Ursprungsidee ist geradezu degeneriert. Die EU ist in einer regelrechten Sinnkrise.

Drohendes Scheitern und Auseinanderbrechen der EU

„Wir feiern jetzt groß in Rom“, sagte der ehemalige belgische Premierminister Verhofstadt, „aber in Wirklichkeit ist das Projekt gescheitert“, so seine Worte. Auch andere europäische Spitzenpolitiker beschworen noch im vorigen Jahr 2016 allesamt in pessimistischen Reden unisono „das Auseinanderbrechen der EU“, von Ratspräsident Donald Tusk und dem französischen Ex-Präsidenten Hollande über den damaligen deutschen Außenminister Steinmeier und dem vorigen Bundespräsidenten Joachim Gauck, bis hin zum damaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz.

Originalton Martin Schulz: „Ja, die EU kann scheitern. Wenn wir nicht aufpassen, fällt sie auseinander“. Der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer malte in einem Interview 2016 die Lage noch viel dramatischer: „Europa ist viel zu schwach und zu zerrissen. Und so wird die westliche Welt, wie wir sie kennen, vor unseren Augen versinken.“ Doch wäre nicht das Zerbrechen Europas eine moralische Bankrotterklärung der zivilisierten westlichen Welt?

Deshalb soll in diesem Beitrag im ersten Teil der bedenkliche Zustand der EU mit ihren Fehlentwicklungen in einer Problemanalyse näher betrachten werden. Im zweiten Teil sollen die inzwischen vorliegenden diversen Reformvorschläge „von oben“ bewertet werden – also was von offizieller Seite, von den EU-Institutionen und Europas Spitzenpolitikern (wie Juncker und Macron) daraufhin für die Rettung Europas und seine Zukunft geplant ist (und ob das ausreicht oder in die falsche Richtung geht).

Und im dritten und wichtigsten Teil soll der Blick darauf gelenkt werden, was „von unten“ aus der Zivilgesellschaft an Alternativen für ein bürgernahes Europa von unten und  seine Neubegründung vorgeschlagen wird und welche Aktivitäten und Initiativen dazu ergriffen werden.

TEIL I:

 Zum gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union

 EU seit 12 Jahren im dauerhaften Krisenmodus

Der bedenkliche Zustand der EU, die sich seit 12 Jahren in einem dauerhaften Krisenmodus befindet, spiegelt sich in folgenden Zitaten aus Zeitungsschlagzeilen:

  • „Ist Europa schon tot, oder liegt es noch im Koma?“
  • „Der taumelnde Riese EU“
  • „Diese EU ist am Ende““
  • „Europa am Scheideweg“

Andere Vorwürfe lauten:

  • „Die EU zerstört die europäische Idee“
  • „Der Euro spaltet Nord und Süd“
  • „Europa ist eine lahme Ente – statt neuen Schwung zu nehmen“
  • „Das europäische Projekt hat seine Versprechen nicht gehalten“

Und Zeitungskommentatoren attestieren:

  • „Die Reformfähigkeit der EU steht in zentralen Politikfeldern in Frage“
  • „Europa ist im Begriff, sich in einen gescheiterten Kontinent zu verwandeln“
  • „Abbruchstimmung statt Aufbruch-Stimmung in Europa“
  • „Fehlende Zukunftsvisionen und nationalistische Rückwärtsgewandtheit“
  • „Europa fällt zurück in längst überwunden geglaubte Zeiten“

Einer behauptet sogar:

  • „Wenn die EU untergeht, wird keiner weinen“

Das darf allerdings bezweifelt werden, denn der Verlust wäre zweifellos tragisch.

Weitere Schlagzeilen:

  • „Was ist los mit dir, Europa?“
  • „Schicksalsjahr für Europa
  • „Die Europäische Union ist in einer schweren Krise“

Und ein Leitartikler in der Zeitung „Die Welt“ schrieb 2017: „Die EU ist in Teilen dysfunktional und im Kern nicht mehr reformfähig. Sie hat ausgedient. Sie muss neu aufgebaut werden.“ Immer lauter wird deshalb die nach vollziehbare Forderung nach einer Totalrevision der europäischen Verträge. Doch Europa sei „mit 60 noch nicht reif für die Rente“, meint der Luxemburger Regierungschef Xavier Bettel.

 Konzeptionslosigkeit statt Neuaufbau der EU?

Der amtsmüde Kommissionspräsident Juncker musste nach den Jubiläums-Feierlichkeiten in Rom eingestehen: „Ein echtes Konzept fehlt. Eine Antwort darauf haben wir nicht, wie die Zukunft der EU konkret aussieht.“ Das ist quasi eine Bankrotterklärung von höchster Stelle, ein politisches Armutszeugnis. Aber sollten wir nicht für die Wiederbelebung Europas energisch kämpfen?

Gerade jetzt kommt es doch auf die gemeinsamen europäischen Werte an – auch als freiheitliches Gegenmodell zu den Systemen von Trump, Erdogan, Putin, Orban und anderen. Dazu ist ein grundlegendes Überdenken der Politik und Architektur der EU dringend gefordert, wenn dieser Kontinent nicht scheitern soll. Die Prinzipien der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung stehen auf dem Spiel, ebenso die sozialen und demokratischen Prinzipien.

Europa wird meines Erachtens weniger an der Flüchtlingsfrage zerbrechen als vielmehr an der ungelösten sozialen Frage und an seinen eklatanten Demokratie-Defiziten. Daran ändern auch nichts die vor wenigen Tagen in Göteborg von den EU-Institutionen gemeinsam verkündeten unverbindlichen Aussagen für einen „sozialen Pfeiler der EU“, die im Weiteren noch näher hier betrachtet werden.

Die Menschen in Europa sind die politischen Bücklinge gegenüber den internationalen Finanzoligarchen leid, die uns als „marktkonforme Demokratie“ verkauft werden. Dabei brauchen wir einen demokratiekonformen Markt, denn die Wirtschaftslastigkeit Europas erzeugt mehr Verlierer als Gewinner. Die Sehnsucht nach einer tragenden Idee für Europa wurde kaum erfüllt; Europa hat seine Versprechungen nicht gehalten.

Die Menschen sind zwar mehrheitlich für die europäische Integration, aber sie wollen ein anderes Europa als das der Eliten. Andernfalls vollzieht sich mit den Rechtspopulisten in Europa und Amerika bereits eine gefährliche antiliberale Revolte. Vielleicht hat der ehemalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz nicht ganz Unrecht mit seiner Aussage, dass die EU sich außen- und wirtschaftspolitisch zunehmend von den USA emanzipieren sollte, dann hätte die Ära Donald Trump wenigstens in dieser Hinsicht ihr Gutes.

 Es fehlt der Antrieb zu einem solidarischen Europa

In Wirklichkeit fehlt der Antrieb zu einem solidarischen Europa – mit höheren Löhnen, kürzerer Arbeitszeit, bezahlbaren  Wohnungen und umfassender Sozialversicherung sowie Wohlstand für alle, wie jüngst in Göteborg zwar von der EU-Spitze verkündet – allein, es fehlt der Glaube. Deutschland als reichstes Land will nicht draufzahlen  – weil es heute schon 13 Mrd. € mehr einzahlt als es an EU-Mitteln erhält, Und keiner will sein Wohlstandsniveau absenken. Im Hinterkopf des größten und einflussreichsten EU-Landes versteckt sich in Wirklichkeit das Anliegen „Germany first“.

Der „Exportweltmeister Deutschland“ mit seinen Exportüberschüssen und seiner Niedriglohnpolitik ist mit diesem nationalen Wirtschaftsegoismus  mitverantwortlich für den wirtschaftlichen Niedergang der südeuropäischen Länder und deren Verschuldung, von der Deutschland auch noch profitiert, so attestieren die Wirtschaftswissenschaftler. Und außenpolitisch muss Europa seine Handels- und Entwicklungspolitik korrigieren, wenn ihm wirklich an der Beseitigung der Fluchtursachen in den Armutsländern außerhalb Europas gelegen…

VOLLTEXT

Wilhelm Neurohr: Kennt Bundespräsident Steinmeier nicht den Artikel 72 des Grundgesetzes?

Leserbrief zum Artikel „Wellness-Reise ins Pegida-Land“ (taz vom 15.11.2017) über Steinmeiers Reise nach Sachsen

Kennt Bundespräsident Steinmeier nicht den Artikel 72 des Grundgesetzes?

 

Der bislang nur schwach in Erscheinung getretene Bundespräsident Steinmeier, der am liebsten als „Neben-Außenminister“ weiterhin auf Staatsbesuche ins Ausland fährt, nun also auf Rundtour bei seinen Staatsbürgern in der sächsischen Provinz. Hier bleibt der maßgebliche Mitschöpfer der Agenda 2010 seiner neoliberalen Ideologie auf arrogante Weise treu: Er belehrt die Sachsen in den ländlichen Regionen darüber, dass man „Bahn und Post nicht verpflichten könne, unwirtschaftliche Dienstleistungen aufrecht zu erhalten“.- nach dem Motto:“Tut mir leid – kann man nichts machen“.

Wie bitte? Offenbar kennt „unser“ Bundespräsident nicht den Artikel 72 (2) des Grundgesetzes, der die Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land“ (vormals sogar „einheitliche“ Lebensverhältnisse) als Grundrecht garantiert. Die Verantwortung für „die Fläche“ ist ein Kernelement des Sozialstaates (Art. 20 GG).

Und das Raumordnungsgesetz des Bundes konkretisiert gleich im ersten Grundsatz: „Im Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und in seinen Teilräumen sind ausgeglichene soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse anzustreben“ (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 ROG). Länderverfassungen und Landesplanungsgesetze zitieren den Begriff ihrerseits und verpflichten sich damit zu einer entsprechenden Strukturpolitik und Entwicklung ihres Landesgebietes. Bund und Länder gewährleisten gleichwertige Lebensverhältnisse z. B. dadurch, dass sie die Aufgabenträger im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge zur Vorhaltung einer Grundversorgung verpflichten.

Laut Steinmeier haben jedoch rein betriebswirtschaftliche Erwägungen (der mit sozialdemokratischer Zustimmung  privatisierten bzw. privatrechtlich organisierten Staatsbetriebe) Vorrang vor der staatlichen Daseinsvorsorge für die Bevölkerung? Folglich war er Mitbefürworter der Privatisierung von Post und Bahn, die 1994 unter der letzten Kohl-Regierung begann und dann unter der rot-grünen Schröder-Regierung konsequent weiter betrieben wurde – mit Steinmeier als Chef des Bundeskanzleramtes von 1999-2005 und danach als Kabinettsmitglied bis 2017. Zwischen 2006 bis 2009 ließ die Regierung Merkel als große Koalition (mit Kabinettsmitgliedern Steinmeier, Müntefering, Gabriel und Steinbrück) der Bahn AG unter Chef Mehdorn freie Hand und gab ihren Segen für die vollständige  Bahn-Privatisierung mit Börsengang an, die dann aber scheiterte und vertagt wurde. Doch alle Vorbereitungen waren bereits getroffen.

Mit der fatalen Folge, dass seither etwa die Hälfte aller Bahnstrecken im ländlichen Raum stillgelegt und Bahnhöfe an Privatinvestoren verkauft wurde und vergammeln  – und damit die grundgesetzlich garantierte Versorgung in der Fläche beendet wurde – anstatt etwa durch eine Mischkalkulation mit lukrativen Bahnstrecken die ländlichen Streckenabschnitte zu subventionieren. Tochterunternehmen wurden vollprivatisiert und Bahninfrastruktur als „Volksvermögen“ an Private verschleudert.

Die privatrechtlich organisierte Bahn erhält übrigens trotzdem mit über 10 Mrd. € mehr staatliche Zuschüsse als die vormalige bestens  funktionierende staatliche „Beamtenbahn“, die man für „unwirtschaftlich“ erklärte  – aber die heutige unzuverlässige „Bahn AG“ erfüllt nicht mehr ihren gesetzlichen Versorgungsauftrag, weil der Staat als Alleineigentümer darauf verfassungswidrig nicht besteht.

Ähnlich war es bei der 1994 privatisierten Bundespost – der damals größte Arbeitgeber in der Bundesrepublik mit einer halben Mio. Beschäftigten – als  „Deutsche Post AG“, die sogleich die Filialen in der Fläche schloss und die Briefkästen abmontierte sowie den Service einschränkte, dafür aber die Gebühren drastisch erhöhte.

Über 40 Jahre lang wurde in der Bundesrepublik der zitierte Artikel 72 GG zur gleichwertigen Daseinsvorsorge in der Fläche konsequent eingehalten und nicht in Frage gestellt – von der Regierungs-Ära Adenauer und Erhard über Kiesinger, Brandt und Schmidt bis zu den Anfängen von Kohl. Der neoliberale Privatisierungswahn nahm erst so richtig Fahrt auf unter den Agenda-Politikern Schröder, Steinmeier & Co.

Und nun stellt sich Steinmeier als Bundespräsident im Pegida-Land Sachsen achselzuckend vor sein Staatsvolk in der Provinz und  bedauert, dass der Staat ja nun nichts mehr machen könne, weil es nunmehr nur noch um betriebswirtschaftliche Erwägungen gehe. Er hat nicht einmal mitbekommen, dass es längst politische Erwägungen gibt, auch die jungen Hausärzte mit staatlichen Anreizen für die ländlichen Regionen zu gewinnen, da „man sie nicht zwingen kann“. Denn auch das öffentliche Gesundheitswesen wurde weitgehend privatisiert.

Steinmeier hat den Weckruf in Sachsen und in ganz Deutschland nicht gehört, sonst würde dieser blasse Bundespräsident endlich mal ein paar Ruck-Reden halten zugunsten der Überwindung der ungleichen Reichtumsverteilung und der Armut von einem Viertel der Bevölkerung und drohender Armutsrenten, für mehr Steuergerechtigkeit oder auch einen Appell an die zögerliche Regierung zugunsten des Klimaschutzes gegen die Lobbyisten.

Doch das ist von diesem überzeugten Anhänger der Agenda-Politik nicht zu erwarten, der lieber Autogrammstunden beim „Bad in der Menge“ in der sächsischen Provinz gibt und glaubt, damit dem Rechtsruck bei den Frustrierten zu begegnen. Doch ein Präsident der Bürger und der Herzen kann er damit niemals werden, auch wenn die Medien versuchen, ihn „sympathisch rüberzubringen“, und sei es mit der rührseligen Story von der Nierenspende an seine Frau. Aus den Armutsregionen gäbe es noch viel rührseligere Geschichten – aber leider hat eine betriebswirtschaftliche Grundgesetz-Interpretation neuerdings Vorrang?

Wilhelm Neurohr (Haltern am See)

Wilhelm Neurohr: „FÜHRUNGSPERSONAL DER SPD KOMPLETT AUSTAUSCHEN“

Leserbrief an  das Medienhaus Bauer, Marl, zur Wahlberichterstattung über die Niederlage der SPD

„FÜHRUNGSPERSONAL DER SPD KOMPLETT AUSTAUSCHEN“

Wie ernst meint es die „Volkspartei“ SPD –  nach der dritten herben Wahlniederlage in Folge mit Ergebnissen um die 20% – mit ihrer angekündigten „kritischen Neuaufstellung“? In zwei Punkten kann man den Aussagen des zerknirschten Martin Schulz sicherlich zustimmen: „Die Fehler von 2009 und 2013, die Niederlagen nicht aufzuarbeiten, dürfen sich nicht wiederholen“. Und: „Der Schwerpunkt der sozialen Gerechtigkeit sei richtig gewesen und eine Richtschnur für die Zukunft“.

Doch bereits  im Jahr 2010 hatte die SPD unter Sigmar Gabriel eine bundesweite Befragung aller 10.000 SPD-Ortvereine durchgeführt, auf die man jetzt nur zurückgreifen brauchte. Ergebnis: Die SPD-Basis stellte der Parteispitze eine miserables Zeugnis aus: In der Hartz-IV-Reform und der Rente mit 67 sah die SPD-Basis die Hauptgründe für die katastrophale Niederlage bei der Wahl 2009. Bei einer Befragung aller Ortsvereine wurden neben dem „Verhältnis zur Linken“ außerdem häufig „fehlende Glaubwürdigkeit der SPD“, „Profil- und Farblosigkeit“ sowie „Entfremdung der Partei von Mitgliedern und Bevölkerung“ als Ursachen für den Absturz auf 23 Prozent  genannt.

Welche Konsequenzen hatte die SPD-Führung aus dem deutlichen Mitgliedervotum  gezogen? Sie ließ die Ergebnisse der Mitgliederbefragungen in der Schublade verschwinden und machte weiter  wie bisher. Sigmar Gabriel liebte einsame Entscheidungen gegen das Murren der Basis und gegen die Mehrheitsinteressen der SPD-Wähler und bekam dafür bei der Vorsitzenden-Wahl einen Denkzettel.

Und bei einer weiteren Mitgliederbefragung in 2013 zur angestrebten Parteireform wurde unter anderem mehr Beteiligung der Basis auch an Personalentscheidungen eingefordert, nachdem zuletzt der damalige Kanzlerkandidat Steinbrück (ebenso wie jetzt wieder die neue Fraktionschefin Andrea Nahles) als einsame Hinterzimmer-Entscheidungen aus dem Hut gezaubert wurden. Mit der Personalie Andrea Nahles soll ein angeblicher  Kurswechsel der SPD-Politik in der Opposition vorgetäuscht werden, nachdem der rechte SPD-Flügel bislang sämtliche wichtigen Regierungs- und Fraktionsämter unter sich aufgeteilt hatte. In der Opposition gibt man sich dann gerne wieder eine Zeitlang „links“.

Statt sich nun im Sinne der SPD-Basis von der sozial verheerenden Agenda 2010 zu verabschieden – die ja neben Hartz IV auch für Deregulierung der Finanzmärkte sorgte und für eklatante Steuer-Ungerechtigkeit bis hin zur Verarmung unserer Kommunen und großer Bevölkerungsteile – lud Martin Schulz demonstrativ Altkanzler Schröder als Gast und Festredner zu den Parteitagen. Das Signal für SPD-Mitglieder und -wähler:  Keine Abkehr vom neoliberalen Kurs der Sozialdemokraten.

Zuletzt hatte sich Schröder auf dem Weltwirtschaftforum von Davos, dem Treffen der Reichen und Mächtigen dieser Welt,  damit gebrüstet, dass Deutschland in Europa den größten Niedriglohnsektor geschaffen habe. Vorher hatte schon Ex-Superminister Clement die SPD verlassen mit einer Wahlkampfempfehlung für die neoliberale Westerwelle-FDP  und begab sich an die Spitze des Kuratoriums des neoliberalen Lobby-Netzwerkes; „Neue Soziale Marktwirtschaft“. Danach die unsägliche Kandidatur des ebenfalls Neoliberalen  Peer Steinbrück als selbst ernannter Kanzlerkandidat mit lukrativen Nebentätigkeiten.  Auch diese Kapitel gehören zur Ursachen-Analyse in punkto Unglaubwürdigkeit!

Da erschien der Antritt des euphorisch umjubelten neuen Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten Martin Schulz für die deprimierte Parteibasis wie eine Erlösung. Und seine Verheißung von „mehr sozialer Gerechtigkeit“ fand auch laut Umfragen die Zustimmung  breiter Wählerschichten. Nachdem jedoch auch Martin Schulz nicht nur die Agenda 2010 von Gerd Schröder bei jeder Gelegenheit ungefragt in höchsten Tönen lobte, sondern ihm ein Forum als Redner auf dem Nominierungsparteitag bot, wurde klar: Die soziale Gerechtigkeit ist nicht ernst gemeint und unglaubwürdig, denn die dem entgegenstehende Agenda 2010 soll nicht  wirklich verändert werden. Nachdem Schulz sogar beim Kanzlerduell vor 20 Mio. Fernsehzuschauern nochmals ungefragt erklärte, Kanzler Schröder habe sich um Deutschland  verdient gemacht, da war der Absturz der SPD in der Wählergunst besiegelt.

Wie kann sich jetzt noch die SPD-Basis aus ihrem Dilemma befreien? Sie müsste schon den Mut und das Rückgrat haben, ihr Spitzenpersonal komplett auszutauschen, um sich programmatisch mit sozialem Profil wirklich neu aufzustellen…Wer mag daran glauben?

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: PRIVATISIERUNGSWELLE BEI AUTOBAHNEN UND SCHULEN PER GRUNDGESETZÄNDERUNG

Leserbrief an das Medienhaus Medienhaus Bauer (Politik-Redaktion der Recklinghäuser Zeitung):

 PRIVATISIERUNGSWELLE  BEI AUTOBAHNEN UND SCHULEN  PER GRUNDGESETZÄNDERUNG?

 Sämtliche Medien richten derzeit ihren Fokus vor allem auf Erdogan, Trump und Schulz.  Dabei versäumen  sie, über die wichtigsten und skandalösesten innenpolitischen Weichenstellungen im Endstadium der großen Koalition im Bundestag zu berichten: Dort wird nämlich in diesem Monat  März klammheimlich ohne öffentliche Diskussion das größte Privatisierungsvorhaben noch schnell vor der Bundestagswahl mit Zweidrittelmehrheit durchgeboxt: Per Grundgesetzänderung in 14 Artikeln wird Tür und Tor geöffnet für die Privatisierung der Autobahnen, der Infrastruktur und sogar der Schulen!  Deshalb sind den Koalitionsparteien die medialen Ablenkungsmanöver auf andere Themen wohl ganz recht.

Mit einem neuen Artikel 104c sollen öffentlich-rechtliche Partnerschaften (ÖPP) bei Autobahnen und bei der kommunalen Bildungsinfrastruktur wie Kindergärten und Schulen ermöglicht werden, entgegen den bisherigen föderalen Zuständigkeiten auch mit Weisungsrecht des Bundes. Zugleich soll mit einem Begleitgesetz die Privatisierung auch im Schulbau beschleunigt werden. Auf ganzer Linie hat sich hier eine Lobby erfolgreich durchgesetzt, noch vorbereitet vom SPD-Politiker Sigmar Gabriel in seiner Zeit als Wirtschaftsminister mit einer Expertenkommission aus Vertretern von Banken, Versicherungskonzernen und dem Bund der Deutschen Industrie.

Nunmehr werden ÖPP-Investitionsvorhaben für förderfähig erklärt oder sind künftig sogar die Voraussetzung für eine öffentliche Förderung, mit Beratung durch die neue „ÖPP-GmbH“.  Diese ist die Nachfolge-Organisation der bisherigen Lobbyorganisation „ÖPP Deutschland AG“, die seinerzeit unter Kanzler Schröder und Minister Steinbrück an der Spitze ins Leben gerufen wurde, ganz im Geiste der neoliberalen Agenda 2010. Angeregt wurde damals diese Einrichtung vom Lobbynetzwerk „Finanzstandort Deutschland“ unter Federführung der Bauindustrie. Für die Kommunen soll künftig eine Infrastrukturgesellschaft (IfK) eingerichtet werden, damit sich öffentliche Ausschreibungen erübrigen.

Es wäre interessant, zu erfahren, was Kanzlerkandidat Martin Schulz zu diesem lobbyhörigen Deal seiner Parteifreunde aus dem  Bundestag sagt? Und wie votieren eigentlich unsere heimischen Bundestagsabgeordneten im März im Bundestag? Denn trotz durchweg negativer Berichte der Rechnungshöfe über ÖPP-Projekte an Schulen sollen nebst den Autobahnen vor allem die Schulen und Kindergärten einbezogen werden. Kritiker sehen das größte Privatisierungsprojekt seit den neunziger Jahren auf uns zukommen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund warnt bereits eindringlich vor diesen Plänen mittels der größten Grundgesetzänderung dieses Jahrzehnts.  Denn auch die 70 Änderungsvorschläge aus den Bundesländern wurden von der Bundesregierung in ihrem Entwurf nicht übernommen.

Über die Schulprivatisierung per Grundgesetz freuen sich bereits Privatunternehmen, die als Retter mit ihren Geldern „Gewehr bei Fuß“ stehen. Und das nicht nur für die Schulbauten, sondern auch für die Privatisierung in der Bildung insgesamt, von Microsoft über McKinsey bis Bertelsmann und inzwischen gebildeten „Bildungskonzernen“, die bereits in  anderen EU-Ländern Fuß fassen. Warum liest man so wenig bis fast gar nichts darüber in unseren Tageszeitungen?

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: FELDZUG GEGEN KORREKTUREN DER AGENDA 2010 MIT „ALTERNATIVEN FAKTEN“ UND „FAKE-NEWS“

Leserbrief an die Recklinghäuser Zeitung zu den aktuellen Berichten und Kommentaren über strittige Korrekturen an der Agenda 2010:

 FELDZUG GEGEN KORREKTUREN DER AGENDA 2010 

MIT „ALTERNATIVEN FAKTEN“ UND „FAKE-NEWS“ 

Das war vorauszusehen: Ein paar winzige Korrekturen an der sozial verheerenden Agenda 2010 durch den Kanzlerkandidaten der „gewandelten“ SPD  lösen sogleich ein reflexartiges Geschrei der Arbeitgeberverbände und der neoliberalen Netzwerke der Wirtschaftslobbyisten aus. Und das ist erst der Anfang des Wahljahres, in dem dieser Feldzug oder „Shitstorm“ gegen Schulzens unwesentliche Agenda-Korrekturen noch orkanartig anschwellen wird.

Gleiches war ja schon zuvor gegen die bescheidene  Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes gestartet worden, die angeblich zu Arbeitsplatzverlusten und Wirtschaftseinbrüchen führen würde. Inzwischen hat sich im Positiven das Gegenteil herausgestellt und das postfaktische Geschrei der Wirtschaftverbände mit ihren „alternativen Fakten und Zahlen“ ist verstummt. Nun kämpft man für die Beibehaltung der sachgrundlos befristeten Zeitarbeitsverträge mit der  fadenscheinigen Begründung von „besorgten Unternehmern“ etwa in der Tagesschau, dass man die Arbeitskräfte „erst nach mindestens 2 Jahren besser kennenlerne“. Das ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine gesetzeswidrige Verlängerung der maximal zulässigen Probezeit von einem halben Jahr, also eine Option des beliebigen „Heuerns und  Feuerns“ unter Umgehung des Kündigungsschutzes.

Bei den bislang geplanten Korrekturen der Agenda 2010 in wenigen Einzelpunkten handelt es sich dabei  keineswegs um eine „Abkehr“ von der unsäglichen  Agenda 2010, wie die Arbeitgeberverbände und mit ihnen viele Medien behaupten. Deshalb ist es schlimm, dass die „Mainstrem-Medien“ einschließlich der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender sich dafür hergeben, die überwiegend auf falschen „alternativen Fakten“ beruhenden Behauptungen der Agenda-Verteidiger ungeprüft zu verbreiten und  sich dem anzuschließen. Selbsternannte Arbeitsmarkt-Experten des „Institutes der Deutschen Wirtschaft“ können sich in der Tagesschau dort als „neutrale“ Experten lang und breit über die angeblich segensreiche Wirkung der Agenda 2010 auslassen – ohne einen Fakten-Check.

Und auch der Zeitungskommentator Rasmus Buchsteiner ist wieder vorneweg dabei mit „alternativen Fakten“ wie dieser: Die „aktuell so günstige Arbeitsmarktentwicklung“ sei zu einem großen Teil „den Schröderschen Reformen zu verdanken“. Abgesehen davon, dass es sich zu einem Großteil um  prekäre Beschäftigungen handelt, die zum Lebensunterhalt kaum dauerhaft ausreichen, und dass in der Arbeitsmarktstatistik Millionen faktisch Arbeitslose nicht erfasst und ausgewiesen werden, gehört auch die „segensreiche Wirkung der Agenda 2010“ zu den „Fake-News“:

Sämtliche vorliegenden seriösen wissenschaftlichen Langzeituntersuchungen über 10 Jahre Hartz IV kommen nämlich zum gleichen Ergebnis einer Misserfolgs-Bilanz des Scheiterns; die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist unverändert geblieben. Das wird von Medien und Politikern penetrant ignoriert und totgeschwiegen, die hartnäckig und gebetsmühlenartig ohne Belege einfach das Gegenteil behaupten. Das trotzige Schönreden der gescheiterten Hartz-IV-Reform erweist sich bei Betrachtung der wissenschaftlich einhellig belegten Fakten als billige Propaganda der Neoliberalen.

Was würde es erst für ein Riesengeschrei geben, wenn der Europapolitiker Martin Schulz vorschlagen würde, das Rentenniveau im reichsten EU-Land Deutschland von 43% nicht nur auf wieder 50% anzuheben, wie von den Gewerkschaften und der Linkspartei gefordert, sondern dem Durchschnittsniveau der EU-Länder oder der OECD-Industrieländer  anzupassen: Dann läge das auskömmliche Rentenniveau auch bei uns nämlich bei 70 Prozent statt auf dem letzten Platz! Doch keine Angst: Schulz begnügt sich mit etwas Aufstockung für die diejenigen Rentner knapp über der Armutsgrenze. Wohin die Reise nach dem Willen der Wirtschaft und der ihnen zugeneigten Konservativen gehen soll, hat ja der CDU-Spitzenpolitiker Jens Spahn dieser Tage verkündet: „Mehr Geld fürs Militär und weniger für Sozialleistungen“.

Wilhelm Neurohr

Siegfried Born: Martin Schulz will mehr Zeit für Gerechtigkeit und das Vertrauen zurückgewinnen

Siegmar Gabriel schmeißt hin, beerbt Frank Walter Steinmeier in der Rolle des Außenministers und präsentiert seinen Parteifreund Martin Schulz, der es bei den Sozialdemokraten als Kanzlerkandidat und auch als Parteivorsitzender nun richten soll. Die Bundesfraktion der SPD ist oben auf,  und Martin Schulz hält eine eindrucksvoll Rede im Berliner Willy-Brandt-Haus.

Aber reicht das schon aus, um die Bundestagswahl am 24. September in diesem Jahr zu gewinnen und Angela Merkel vom Posten der Bundeskanzlerin zu verdrängen? Was müsste verändert werden, damit die Wählerinnen und Wähler wieder Vertrauen in eine sozialdemokratische Politik der SPD gewinnen und ihren Kanzlerkandidaten nach Kräften unterstützen? Oder bleiben am Ende wieder nur salbungsvolle Worte übrig ohne grundlegende Veränderungen, ohne weitreichende Verbesserungen für diejenigen, die ausgegrenzt sind durch die Agenda 2010, die die SPD unter ihrem Kanzler Schröder zu verantworten hat, durch Hartz IV, durch Arbeitslosigkeit, durch prekäre Arbeitsverhältnisse, durch Minijobs, von denen man nicht leben kann, durch Rente, die zum Leben nicht reicht, oder durch Rente erst mit dem 67. Lebensjahr?

 Antworten hierauf zu geben versucht Siegfried Born als kritischer Beobachter der SPD, die sich seit Willy Brandt sehr stark verändert hat zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und zu Gunsten der Wirtschaft, der Unternehmerschaft und der Großkonzerne hier in Deutschland.

Martin Schulz will mehr Zeit für Gerechtigkeit und

das Vertrauen zurückgewinnen

 Martin Schulz hat davon gesprochen, dass es wieder gerecht zugehen müsse, und er meinte damit den so genannten kleinen Mann/die kleine Frau in unserer Gesellschaft, der/die trotz Arbeit so wenig Geld überwiesen bekommt, dass am Ende des Monats kaum die Miete oder andere Kosten bezahlt werden können. Ja, möchte man sagen, da hat Martin Schulz so Recht! Aber allein das Wort Gerechtigkeit in den Mund zu nehmen und so zu tun, als habe er Verständnis für die ungerechte Situation des kleinen Mannes/der kleinen Frau reichen bei weitem nicht aus. Es müssen Taten folgen, die diese prekäre Situation von Millionen von Menschen in Deutschland verändern. Wenn von Gerechtigkeit die Rede ist, dann muss sich Martin Schulz die Frage gefallen lassen, weshalb er zuzeiten der Agenda 2010 unter Gerhard Schröder (genannt auch: Kanzler der Bosse) die enormen Einschnitte gegen die Arbeitnehmer bzw. gegen die Arbeitslosen mitgetragen hat. Wenn von Gerechtigkeit die Rede ist, dann muss sich Martin Schulz die Frage gefallen lassen, weshalb die Arbeitnehmer in Deutschland Lohnsteuer zahlen müssen (wird ihnen direkt vom Lohn einbehalten), während die Unternehmen wenig oder gar keine Steuern zahlen (Stichwort: Steuergerechtigkeit). Ob er so das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen kann? Wohl kaum!

Schulz, Steinmeier und Clementwaren Architekten der Agenda 2010

 Jetzt so zu tun als habe die ungerechte Agenda 2010 und die schrecklichen Auswirkungen für die Betroffenen nichts mit ihm zu tun, ist mehr als heuchlerisch. Auch Frank Walter Steinmeier, der alsbald neu gewählte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, hat maßgeblichen Anteil an der Architektur der Agenda 2010, die die Arbeitslosen bekämpfte, nicht aber die Arbeitslosigkeit. Und der damalige Superminister Wolfgang Clement in der Bundesregierung unter Schröder hatte doch tatsächlich geglaubt, dass die Zusammenlegung der Aufgaben der seinerzeitigen Sozialhilfe (örtliche Sozialhilfeträger)  mit der Verwaltung der Arbeitslosen (Arbeitsamt) einen, wie er es nannte, „Synergieeffekt“ bringen würde, um so den betroffenen Menschen besser, schneller und unbürokratischer helfen zu können. Dabei hat er aber vor allem an die Sanktionen gedacht, die die späteren Arbeitsagenturen und heutigen Jobcenter gegenüber ihren „Kunden“ aussprechen konnten, denn nach seiner Sicht waren die meisten Arbeitslosen nur zu faul, einer geregelten Arbeit nachzugehen, was bestraft werden musste.

Sozialdemokratie = Für Großunternehmen und Konzerne-

gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 

Der Bazillus des neoliberalen Kapitalismus, von dem sich die Sozialdemokraten haben infizieren lassen,  war ausschlaggebend für die zahlreichen negativen Veränderungen, unter denen heute noch Millionen von Betroffenen zu leiden haben. Jetzt so zu tun, als habe er, Martin Schulz, mit alledem nichts zu tun, und eine Rede halten, als sei er der Heilsbringer einer ganz anderen Partei, ist mehr als frech und heuchlerisch zugleich. Die beste Rhetorik über die „hart arbeitenden Menschen, die sich an die Regeln halten“, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die Sozialdemokraten waren, die, wenn sie in Regierungsverantwortung waren, sich stets für die Großunternehmen und Konzerne stark gemacht haben, aber nicht für die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Rente erst mit dem 67. Lebensjahr

Ein gewisser Franz Müntefering hat als Bundesarbeitsminister das Renteneintrittsalter vom 65. Lebensjahr auf das 67. Lebensjahr angehoben mit der Begründung, wir Menschen würden immer älter werden (demografischer Wandel) und  dass die Rentenzahlungen ansonsten nicht mehr finanzierbar wären. Wohl wissend, dass schon damals die meisten Arbeitnehmer kaum das normale Renteneintrittsalter von 65 Jahren erreichten und deshalb früher aus gesundheitlichen Gründen aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen, hatte die Bundesregierung das Gesetz auf den Weg gebracht, unter dem heute und künftig viele Millionen Arbeitnehmer zu leiden haben werden. Zudem  kommt noch, dass in den nächsten Jahren das Rentenniveau immer geringer sein wird (Absenkung auf bis zu 42 %), so dass die heutigen Geringverdiener jetzt schon damit rechnen müssen, später eine Rente zu erhalten, die zum Leben nicht wird reichen können. Altersarmut ist vorprogrammiert. Ob das wohl was mit Gerechtigkeit zu tun hat?

Keine guten Löhne und sichere Jobs

Wenn Martin Schulz von „guten Löhnen und sicheren Jobs“ spricht, weiß er, wie die Realität in Deutschland aussieht. Denn hunderttausende Jobs sind geprägt von prekärer Situation, d. h. es werden keine „guten Löhne“ gezahlt, die die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bekommen für ihre oftmals täglich harte Arbeit, sondern es sind entweder Mindestlöhne (dann aber für mehr Stunden) oder es sind Löhne, weit unter der Mindestlohngrenze, so dass die Betroffenen ergänzende Sozialhilfe beantragen müssen. Ob das wohl was mit Gerechtigkeit zu tun hat?

Nur Worthülsen und am Ende Ministerposten

Immer mehr soziale Errungenschaften aus früheren Jahren haben die Sozialdemokraten stückweise zurückgenommen oder verschlechtert oder waren verantwortlich für derlei Gesetzesinitiativen. Wenn Martin Schulz als Kanzler der künftigen Regierung gewählt werden will, muss sich in den nächsten Tagen und Monaten vieles verändern, um Glaubwürdigkeit und Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Aber es ist kaum anzunehmen, dass sich die Sozialdemokraten, dass sich die Entscheidungsträger innerhalb der SPD derlei deutlich und klar positionieren werden und eine echte Kehrtwende vollziehen. Nach der Wahl wird sich Martin Schulz sicherlich, so kann man heute vermuten, das Amt eines Bundesministers inne habend, am Kabinettstisch der erneut gewählten Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederfinden.