Jetzt aktualisiert bei allen Versandbuchhandlungen abrufbar: „Das Buch in der Wolke. Work in Progress“

Coverbild für "Das Buch in der Wolke"

 Klappentext:

„Book in Progress“? Dieses 14. E-Book soll nun wirklich das allerletzte sein. Ein Experiment. Ich bin 93 und kann den natürlichen Alterungsprozess nicht aufhalten, höchstens verzögern. Die Produktivität lässt, wie der Geschlechtstrieb, nach. Das Gehirn arbeitet langsamer.  Gedächtnis, Denken, Sprechen und Schreiben brauchen mehr Zeit. Das Langzeitgedächtnis ist besser als das kurzzeitige. Mir fallen Ereignisse, Erlebnisse, Begegnungen, Menschen und Orte und deren Namen ein, die mich irgendwann mal in meinem Leben beeindruckt haben müssen, längst vergessen sind oder überhaupt nicht existiert haben. „Dichtung und Wahrheit“. Goethe.

Zum Beispiel das Gedicht „Frühlingsglaube“ von Ludwig Uhland, das ich persifliert habe, obwohl ich es wahrscheinlich nie gekannt habe. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, ob wir es im Deutschunterricht „durchgenommen“ haben. Dennoch kam mir die Anfangszeile „Die linden Lüfte sind erwacht“ bekannt vor. Bei Wikipedia fand ich dann die Bestätigung, dass es dieses Gedicht tatsächlich gibt.

Ich werde bis zu meinem Lebensende oder solange ich sehen, denken und empfinden kann, Sehenswertes fotografieren, das Zeitgeschehen beobachten und kommentieren, literarisch arbeiten und die Produkte nach und nach in diesem E-Book publizieren.

Das Buch kann jetzt zum aktuellen Preis von € 0,99 auf ein Lesegerät oder einen PC hier heruntergeladen werden -> https://www.bookrix.de/_ebook-dietrich-stahlbaum-das-buch-in-der-wolke/

 

Heidi Beutin/Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Rezension von Hartmut Henicke

   Dieses Werk des Ehepaares Beutin ist die wichtigste Publikation zum Themenjahr 2018 „Weltkriegsende/Novemberrevolution“. Die Autoren haben es ihren nahestehenden, insbesondere verstorbenen wissenschaftliche Weggefährten gewidmet. Diese Geste bewegt, wenn man das Buch gelesen hat.

    Die Autoren bekennen ausdrücklich, sich dem Thema als Literatur- und Kunsthistoriker anzunähern. Sie tun das auf höchstem theoretisch-methodischem Niveau und gleichzeitig mit faszinierend souveräner literarischer Leichtigkeit. Dieses Buch liest sich so weg. Und es ist anregend, weil so gut nichts offen bleibt. Auch dort, wo wichtige Fragen „nur“ ansatzweise beantwortet oder tangiert werden, hallen als sie dem konzentrierten Leser wie die Reststrahlung des Urknalls als Denkimpulse nach. Auch darin reflektiert sich Kompetenz und Meisterschaft, wie in den souverän das Quellenmaterial tief durchdenkenden Antworten und Urteilen. Ihrer Absicht, die deutschen Intellektuellen im Kontext der Novemberrevolution zu zeichnen werden die Autoren virtuos gerecht. Dieses „Who‘s Who?“ der deuschen Novemberrevolution lässt keine soziale, politische und ideologische Richtung der Kategorie Intelligenz aus. Mit ihren umfangreichen Personendossiers haben Heidi und Wolfgang Beutin einen entscheidenden Teil des historischen Subjekts dieser Revolution und Gegenrevolution definiert, klassifiziert, teilweise meisterhaft psychologisiert, in soziale, politische und kulturelle Zusammenhänge gestellt. Ihre Arbeit hat hohen Quellenwert. Die Auswahl des Zitierten ist treffend wie die Wertung. Das Spannende dieser Studie ist die breite, logisch klassifizierte Differenzierung zwischen Revolution und Konterrevolution aber auch innerhalb der politischen Lager bzw. ideologischen Richtungen. Mit ihren Persönlichkeitscharakteristiken präsentieren die Autoren nicht nur ein breites Spektrum von Ansichten, die den Erkenntnisprozess eines historischen Umbruchs reflektieren, sondern auch Erfahrungen, spontane Gefühle reflektieren. Die Begegnung Rosa Luxemburgs und Tilla Darieux – eine marginale Sekunde im Epochenwechsel während des Innehaltens und doch so bezeichnend für das, was geschah. An dieser Stelle versteht der Leser den Titel des Buches.

   Er hört die „Fanfaren einer neuen Freiheit“ im Hintergrund. Die Beutins vermessen ihren Forschungsgegenstand, die Intelligenz, nicht im Entferntesten mit den ideologischen Rastern, die sich aus der ideologischen Versteinerung nach den Weltkriegsrevolutionen insbesondere seit dem Ende der 1920er Jahre ergaben.

Dieses Buch ist das Elektrokardiogramm der Geisteshaltung im Deutschland des verlorenen Weltkrieges in aller psychologischen und ideologischen Sensibilität und Genauigkeit. Es spiegelt die subjektive Verfasstheit der Menschen dieses Landes, die den Aufbruch in die neueste Moderne antraten, die realen subjektiven Rahmenbedingungen der Erneuerungsalternative. Als Leser getraut man sich nicht einmal den überheblichen Gedanken, die Intellektuellen von den proletarisierten verelendeten Klassen abzuheben, zumal die Autoren eben auch die politisch ahnungslosen Intellektuellen, Künstler, Literaten meisterhaft zeichnen. Andererseits: Diejenigen namhaften bekannten, ach heute wieder vergessenen Persönlichkeiten, die in Beutins Buch den größten Epochenkonflikt des neuen Jahrhunderts reflektieren, waren allesamt keine Durchschnittsmenschen, sondern Denker, Künstler, Moralisten, Literaten, Journalisten, Politiker, Parteifunktionäre, einschließlich der politisch hochgebildeten Arbeiterbewegung, Reagierer auf die spontane Revolte qualifizierter kriegsmüder Matrosen, Soldaten und Proletarier. Diese Literaten, Philosophen, Wissenschaftler und Politiker aller Klassen mussten nicht nur das Geschehen interpretieren, sondern persönliche Entscheidungen treffen. Sie standen vor der epochalen praktischen Gestaltungsaufgabe, aus dem Regimezusammenbruch und der spontanen sich zur Revolution ausbreitenden Revolte eine historische tragfähige Zukunftsalternative zu denken und zu entwickeln, deren Parameter zum einen durch die Siegermächte vorgegeben waren und zum anderen von den Räten der Matrosen, Soldaten und Arbeiter, die gleichermaßen der intellektuellen Führung Deutschlands Angebote machten. Ihnen standen die gegenüber, die mit der alten zusammengebrochenen Welt unterzugehen drohten. Das waren jene unter den gebildet und erfahren Denkenden, die nicht über den Schatten ihrer Werte und Ansichten der Vergangenheit springen konnten. Zwischen Hoffnungen und Ängsten, Humanismus und Hass, Einsicht und Tradition schwankten die großen Geister der Nation, auch der elitären Klassen und Schichten. Harry Graf Kessler, Walter Rathenau, die Gebrüder Thomas und Heinrich Mann, Epochengestalten. Die Autoren benötigen nur Absätze, um dies deutlich zu machen.

   Beutins Arbeitsergebnis zeigt, an einem ungewöhnlich breiten Personenkreis, wie dieser dachte und agierte. Was die Autoren diesbezüglich präsentieren und kommentieren, hat erstrangige Bedeutung für das Verständnis des Missverhältnisses zwischen historisch materialistischer Analytik der kausalen gesellschaftlichen Zusammenhänge und der subjektiv differenzierten in der logischen Konsequenz dahinter zurückbleibenden Wahrnehmung und sich daraus ergebender Handlungsweise. Die Autoren reflektieren bis in die marxistische Linke hinein de facto die Folgen der im wilhelminischen Kaiserreich in den Köpfen seiner intellektuellen Elite gebrochenen Geistesgeschichte. Und auch im marxistisch linken Lager erkennen und benennen die Autoren deren Grenzen. Diese Abschnitte sind so stark, dass darauf näher eingegangen werden muss, auch wenn alle in diesem Buch behandelten theoretisch-methodischen Aspekte eine rezeptive Diskussion verdienen, was in diesem Rahmen nicht möglich ist und deshalb aber anempfohlen wird. Die Jahrhundertjubiläen sind noch nicht vorbei und die Rezeptionsthemen findet man in Beutins „Fanfaren“.

   Die Autoren spiegeln in erster Linie und mit Sympathie die Rationalisten, Idealisten, Illusionisten, Pazifisten und Linken. Und sie sehen diese mit anderen Augen als Volker Weidemann in seinem Buch „Träumer“ nicht als Spinner und konzeptionslose vom Volk zeitweilig geliebte Narren, sondern eben als moralischen Werten und einer humanistischen Ethik verpflichteten Literaten, von denen ohne politisches Herrschaftswissen und ökonomische Analytik nichts anderes verlangt werden kann als Charisma, selbstloses leidenschaftliches Engagement bis zur Hingabe, auch Fehler und Konzeptionslosigkeit. Politik, insbesondere in revolutionären Krisensituationen ist bis zur geordneten arbeitsteiligen Kooperation von neuen Führungskräften und Strukturen eine spontane sich allmählich organisierende vor allem emotionale Aktion. Aus dieser Aktion entwickelt sich aus der Leidenschaft auf der einen und der lähmenden Paralyse auf der anderen Seite erst allmählich die kühl, auch machiavellistisch kalkulierte strategisch-taktische Konzeption auf den sich polarisierenden ideologischen und Interessen gesteuerten Flügeln der Revolution. Den Autoren ist dies klar und wegen dieses Standpunktes bewerten sie die Revolutionsliteraten höher als der Autor der „Träumer“. Worin aber der darüber hinausgehende Wert dieses Buches besteht, ist die sehr akzentuierte Differenzierung der marxistischen Linken. Die Autoren stützend sich dabei auf die Biografie-, und Sachthemen-Experten, wie die Bezugnahmen im Anmerkungsapparat erkennbar machen. Aber in der Kernaussage darf von der Eigenleistung der Autoren ausgegangen werden. Die Charakterisierung der Erkenntnisgrenzen Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs gehört, wie schon zuvor im Falle Kessler, Rathenau, Manns u.a. zu den stärksten erkenntnistheoretischen Leistungen, auch wenn Rosa Luxemburg betreffend, der Rezensent Einwände geltend macht, die sich vor allem auf die bei Eberhard Kolb zitierten „Grundannahmen in der sozialistischen Lehre“ beziehen. Auch wenn Rosa Luxemburg gleichfalls diesen Grundannahmen aufsaß, war ihre Geschichtsauffassung keinesfalls diesem eher Kautskyanischen und russischen Gesellschaftsphilosophieverständnis als dem Labriolas Philosophie der Praxis im Sinne der Feuerbachthesen näher. Wie schwer der Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie, politischer Ökonomie und Politik in der Aktion im Krisenmoment wirkt, erfährt die Menschheit in jedem neuen Konflikt. Dass selbst die theoretisch weitsichtigsten Köpfe in den Momenten versagten, in denen sie sich den Sternen so nahe wähnten, ist vielleicht ein Grund, neu über theoretisch begründeten Pragmatismus oder Machiavellismus nachzudenken. Dass die Gegenrevolution, die in diesem Buch in dieser Hinsicht unterbelichtet ist, was dem keinen wirklichen Abbruch tut, aber immerhin daran gemahnt, dass Lassalle als erster das Problem erkannt hatte, sei hier angemerkt. In diesem Zusammenhang sollen von den vielen theoretisch-methodisch anregenden Fragen nur noch vier aufgegriffen werden sollen.

   Erstens: Problematisch mit Blick auf die faschistische Diktatur, wenn auch nicht ganz abwegig im Hinblick auf die frühzeitige parallele Konterrevolution ist die revolutionstheoretische Interpretation des Staatsrechtlers Hugo Preuß durch die Autoren im Hinblick auf den engeren nationalen Revolutionszyklus in Anlehnung an die Französische Revolution und dessen missverständlicher Hinweis auf die Militärdiktatur als notwendige Zurückführung der radikalen Revolution auf ihr objektives Maß. (S. 35) Im Kontext mit dem nachfolgenden Abschnitt, der „Die Konterrevolution“ thematisiert, ist das einst von Friedrich Engels als allgemeingültig gezeichnetes Revolutionsschema falsch. Denn es gab in der deutschen Novemberrevolution kein radikal verfolgtes utopistisches Ziel, dass durch zeitweilig überhöhte Radikalität durch einen Thermidor auf das objektive Revolutionsziel zurückgeführt werden musste. Im Gegenteil: Selbst Spartakus verfolgte sozioökonomisch wie staatspolitisch mit der Rätedemokratie allein ein konsequent radikaldemokratisches Ziel. Und auch die Rätemacht war keinesfalls a priori eine kommunistische Machtstruktur. Sie wurde von Anfang an, weil situationsbedingt, partiell selbst im bürgerlichen Lager adaptiert. Die Soldatenräte prägten wegen ihrer sozial heterogenen Zusammensetzung ohnehin den klein- und bürgerlichen Charakter der Revolution und mehr noch die rechtskonservative nationale Bürgerrätebewegung eben den nichtproletarischen. Doch allein die verschwindende Minderheit der rätekommunistischen Linken als marginalen Ausdruck revolutionärer Radikalität zu bagatellisieren und damit deren Überbewertung durch die konservative Rechte zur Begründung gegenrevolutionärer Brutalität als hinterhältige Meinungsmanipulation zu bewerten, ist wissenschaftlich nicht korrekt. Von der Spartakusgruppe bis in die USPD hinein und auch über diesen Parteirahmen hinaus, wie die Beutins u.a. mit dem Beispiel Rathenaus zeigen, wurden die „bolschewistischen“ Sowjets tatsächlich als Vorbild bzw. Modernisierungsvariante verstanden. Bremen und Bayern bewiesen, den radikalrevolutionären Charakter des Rätegedankens, wie die Autoren kenntlich machen. Vom Gegenrevolutionären Standpunkt war die Bekämpfung des „Bolschewismus“ deshalb logisch konsequent. Daran ändert die Selbstentmachtung des Zentralrates der Arbeiter und Soldatenräte gar nichts. Auch wenn die deutschen Rätevorwiegend als basisdemokratischer Ansatz bewertet werden, enthalten sie wie die Autoren unter Berufung auf die seinerzeitigen Akteure zeigen, systemveränderndes Potenzial, wie auch die Räterepubliken aber auch der Rätekommunismus im Gegensatz zum Parteikommunismus beweisen. Leider fokussieren sich die Autoren ideologieanalytisch allein auf den Antisemitismus und Rassismus der Rechten. Das Wesentliche war aber die Adaption des Sozialismus in seiner nationalen Mutation.

   Nationalsozialismus ist war der offensive Ausdruck der historischen Defensive. Obgleich der Name Eduard Stadtler auf der Seite der Konterrevolution viermal erwähnt wird, bleibt diese Person als einer der wichtigsten ideologischen Repräsentanten und Aktivisten der Rechten unterbelichtet. Stadtler der Initiator, Agitator und Organisator des Präfaschismus schaffte es nicht zuletzt mit seinen Erfahrungen im revolutionären Russland, den Spitzen der deutschen Wirtschaft 500 Mio Reichsmark für die Kriegskasse der Gegenrevolution abzunehmen. Seine Vorträge und Schriften verdienen als historische Quelle Aufmerksamkeit. Als Inspirator des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hat er wohl die treffendste Charakteristik der von rechts wahrgenommenen Gefährlichkeit der intellektuellen linken Führungskräfte und damit auch des Kräfteverhältnisses von Revolution und Konterrevolution gegeben.

   Zweitens: Die Auseinandersetzung der Autoren mit dem Verratsvorwurf gegen die regierende Führung der Mehrheitssozialdemokratie, denen schon von linken Zeitgenossen ein bürgerlicher Standpunkt zugeschrieben wird, von dem aus sie gar keinen Verrat begehen konnten, scheint in diesem Sinne zwar argumentativ plausibel, ist aber logisch nur eine andere Lesart des Verratsvorwurfs. Denn es war nun einmal die Sozialdemokratische Führung, die ihre eigene programmatisch erklärte „soziale Revolution“ verriet. Theoretisch scheinen auch 100 Jahre danach wichtige Probleme immer noch unklar zu sein, was keinesfalls den Autoren Beutin angelastet werden kann. Berücksichtigt man allerdings das marxistisch induzierte Erfurter Parteiprogramm steht staatsrechtlich dahinter nichts anderes als eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie mit sozialem Charakter, auch sehr weitgehenden Sofortforderungen, die noch nie erfüllt wurden. Dieses Ziel hat die MSPD-Führung ebenso wenig verraten, wie der Parteivorsitzende Ebert, der seinen Parteifreund Scheidemann dafür wütend rüffelte, weil dieser mit der Ausrufung der Republik der Nationalversammlung zuvorkam. Eberts tradiert stures weltfremdes Demokratieverständnis verkannte, dass die elementaren tatsächlichen systemischen Veränderungen von der revolutionären Aktion und nicht von den parlamentarischen Gremien hervorgebracht werden. Die deutsche Revolution war von Anfang an mit dem Defizit einer unglaublichen Leichtgläubigkeit und Illusion gegenüber der Gegenrevolution belastet. Das zeigte sich sowohl in der Delegierung der revolutionären Beseitigung der materiellen Grundlagen des preußischen Ancien régimes (Großgrundbesitz, Beamten- und Militärapparat) vom Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte an die Nationalversammlung wie an der Rückgabe des beschlagnahmten Büros der Antibolschewistischen Liga durch die revolutionären Matrosen. Und das Sozialisierungsprojekt war de facto mit dem Stinnes-Legien-Pakt erledigt.

   Drittens: Eduard Bernstein prognostizierte 1899 in seiner theoretischen Grundlegung des Reformismus den Marx’schen Begriff „Diktatur des Proletariats“ als Charakterisierung des künftigen Staatstyps mit folgendem bedenkenswerten knappen Absatz: „Die Diktatur des Proletariats heißt, wo die Arbeiterklasse nicht schon starke eigene Organisationen wirtschaftlichen Charakters besitzt und durch Schulung und Selbstverwaltungsköper einen hohen Grad von geistiger Selbständigkeit erreicht hat, die Diktatur von Klubrednern und Literaten. Ich möchte denjenigen, die die Unterdrückung und Schikanierung der Arbeiterorganisationen und Ausschluss der Arbeiter aus der Gesetzgebung und Verwaltung den Gipfel der Regierungskunst erblicken, nicht wünschen, einmal den Unterschied in der Praxis zu erfahren. Ebenso wenig würde ich es für die Arbeiterbewegung selbst wünschen.“ (Bernstein, Voraussetzungen des Sozialismus… Dietz Berlin 1991 [1899], S.206 f.) dieses Resümé, ob als Vorwegnahme einer vorgeblich im proletarischen Interesse mit revolutionärem Terror durchgesetzten parteirichtungsideologischen Minderheitenrevolution und ihrer verheerenden Folgen oder als blanquistische Fehlinterpretation der Marx/Engels‘schen Schlussfolgerungen aus Pariser Kommune, entspricht de facto der Luxemburgschen Kritik an der Russischen Revolution zwei Jahrzehnte später.

    Viertens: Die Autoren haben mit ihren „Fanfaren der Freiheit einen bemerkenswerten Ansatz für die Bewältigung der Vereinigung von revolutionärer Spontaneität und intellektuellem Potential im Zusammenbruchsaugenblick gewählt und gefunden. Und sie machen sich die Darstellung des Problems nicht mit den Stereotypen des Klassenstandpunktes leicht, die den Intellektuellen nach leninistischer Lesart in den Pro- und Konterrevolutionär teilen. Sie stellen aber am Ende trotz ihres wichtigen Rückgriffs auf frühere Geschichtsepochen bis zurück in die Antike dennoch nicht die Gretchenfrage, mit der das Problem der Spaltungen sowohl in der modernen Kapital- und Lohnarbeitsgesellschaft, der Intelligenz aber auch innerhalb des sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Lagers sowie speziell der intellektuellen Linken im engeren Sinne erklärt werden kann: nämlich die erkenntnistheoretische und damit philosophische Frage nach der historische materiellen Determiniertheit und wechselseitigen Beeinflussung aller Gesellschaftserscheinungen und dem daraus resultierenden permanenten konkret-praxisorientierten Erkenntnis- und fortwährendem Theorieentwicklungsprozess im Gegensatz zum ideellen, von humanistischen und bürgerlichen Freiheitswerten bestimmten. Umso höher ist die marginale Bezugnahme der Autoren auf diesen Aspekt in der Einleitung (S. 15 unten) zu bewerten, die beweist, dass die Autoren sich dessen bewusst sind!

   In den weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Gegenwart, in der mehr denn je pluralistisch fragmentarische Unverbindlichkeit gegen mystische und populistische Manipulation wirkungslos verteidigt wird, geht es in Wirklichkeit um einen wissenschaftlichen Blick auf die Geschichte. Die enorme Schwierigkeit dessen ist historisch erklärbar. Erkenntnistheoretisch musste von der Liquidierung des heidnisch materialistischen Denkens seit der Zerstörung der Bibliothek von Alexandria bis zur Neuentdeckung des Materialismus durch die intelligentesten Köpfe des aufklärerischen und klassischen Bürgertums, vor allem durch die Hegelsche dialektische Veredelung des Materialismus Feuerbachs nicht nur eine eineinhalb Jahrtausende platonische Denktradition überwunden werden, um die wissenschaftliche Kontinuität zum antiken Denken wieder herzustellen. Zugleich musste die im Gefolge der Rezeption dieser dialektisch-historisch-materialistischen Denkrevolution durch permanente Weiterentwicklung gegen deren Vulgarisierung und bürgerliche Revision angegangen werden. Für diesen Kraftakt fehlten schlicht die fähigen intellektuellen Köpfe nicht zuletzt wegen der fehlenden strukturellen Bildungsvoraussetzungen. Für den Kapitalismus, ob in seiner aktiengesellschaftlichen oder kommunistisch drapierten staatskapitalistischen Variante ist wissenschaftliche Gesellschaftserkenntnis eine existenzielle Bedrohung.

Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die NovemberrevolutionVerlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) (1. August 2018)
• Gebundene Ausgabe: 308 Seiten, EUR 49,95
• ISBN-10: 3534270452
• ISBN-13: 978-3534270453

Neuerscheinung: Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution

Coverbild Beutin, Fanfaren -1-

Fanfaren -2-
Klappentext

Fanfaren -3-

Fanfaren -4-

Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution  

Verlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) (1. August 2018)

Gebundene Ausgabe: 308 Seiten, EUR 49,95
ISBN-10: 3534270452, ISBN-13: 978-3534270453

 

 

 

 

Wilhelm Neurohr: Der politisch denkwürdige Juni 2018

Welch ein aufwühlender politischer Monat, so ist zum Sommeranfang am 21. Juni 2018 festzustellen, zeitgleich mit der Bilanz der deutschen Koalitionsregierung, die genau 100 Tage im Amt ist. Selten war das Politikversagen weltweit so dramatisch wie in diesem denkwürdigen Monat, manches kaum wahrgenommen im Schatten der kommerziellen Fußball-WM. Dabei ist der Monat Juni noch nicht zu Ende und wird noch mancherlei mehr an politisch Skandalösem darbieten in diesem politisch heißen Sommer:

Asylpolitik

Während die Diskussionen um die Zurückweisung von Asylsuchenden und Kriegsflüchtlingen in Deutschland zu einer anhaltenden Regierungskrise führen, geht es im Juni auf dem europäischen Sondergipfel zur Migrationspolitik – 100 Tage vor dem interkulturellen „Tag des Flüchtlings“ – vorrangig um die beschämende Frage, ob inhumane Flüchtlingspolitik national oder europäisch organisiert wird, entgegen dem internationalen Recht und den allgemeinen Menschenrechten.“Diese ganze Debatte ist auf eine Weise verroht, die ich erschreckend finde“, kommentiert der grüne Europa-Abgeordnete Sven Giegold. Zuvor hatten Italien und Malta 629 Flüchtlinge an Bord des Rettungsschiffes „Aquarius“, darunter schwangere Frauen und Kinder, zurückgewiesen, bis sich Spanien erbarmte, sie 1500 km weiter, in Valencia, an Land zu lassen.

Flüchtlingsdrama

Zur gleichen Zeit verkündet der UN-Flüchtlingshochkommissar den traurigen Rekord, wonach durch Krisen und Konflikte in der Welt noch nie so viele Menschen auf der Flucht gewesen sind: Über 16 Millionen Menschen insgesamt, fast 45.000 täglich, davon die Hälfte Kinder. Die größte Bürde der Flüchtlingsaufnahme trägt nicht Europa oder Deutschland – das nur auf dem 59. Platz aller 200 betrachteten Staaten liegt – sondern Libanon und die Türkei. 45% der Flüchtlinge suchen Schutz in Afrika und im mittleren Osten, 31% in Europa (davon 17% in der Türkei) sowie 21 % in Asien. Mit 3 Mio. am geringsten ist im weltweiten Vergleich mit Abstand die Quote der Flüchtlingsaufnahme in den USA, die bis zum Juni sogar Kinder von Migranten von ihren Familien trennte. Im Juni haben die USA unter Trump den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen verlassen, der sich um die Verteidigung die Einhaltung der Menschenrechte bemüht. Laut Trump ist der UN-Menschenrechtsrat „die Jauchegrube der politischen Voreingenommenheit“.

Hungersnöte

Auch die bisherigen Erfolge der Welthungerhilfe bei der Halbierung der Zahl der Hungernden erleidet wieder Rückschläge durch die aktuellen Krise und Kriege und den Klimawandel: Laut „Globalisierungsreport“, den die Bertelsmann-Stiftung im Juni vorlegte, profitiert die Bevölkerung in den Industrieländern als Wohlstandsgewinner am meisten von der Globalisierung. Hingegen ist die Zahl der Hungernden weltweit auf 815 Millionen Menschen wieder angestiegen. Die Bekämpfung der Ursachen für Hunger und Flucht geht kaum voran, auch nicht die Abmilderung des voranschreitenden Klimawandels.

Klimawandel

Vor der internationalen Klimakonferenz in Berlin Mitte Juni muss die deutsche Umweltministerin ebenso wie die Kanzlerin kleinlaut eingestehen: Das Land verpasst  deutlich seine Klimaschutzziele. Statt, wie angekündigt, den CO-2-Ausstoß  bis 2020 um 40% zu senken, erreicht das Land nur eine Reduktion um 32% gegenüber 1990. Während die Klimaziele in weiter Ferne geraten, wurden im Juni auch viele Regionen in Deutschland im Juni von schweren Unwettern heimgesucht. Außerdem verurteilte der EU-Gerichtshof am 21. Juni Deutschland wegen Verletzung des EU-Rechtes angesichts der zu hohen Nitrat-Belastung des Grundwassers, weil die Bundesregierung zu wenig dagegen unternommen hatte.

Rüstungsspirale

Weitaus mehr Ehrgeiz entwickelt die deutsche Regierung in der Rüstungspolitik: Deutschland ist wieder als viertgrößter Waffenexporteur im Wert von 6 bis 7 Mrd. Euro bei der Rüstung ganz vorn, vor allem mit fragwürdigen Importen in Länder außerhalb der Nato und EU, so vermeldeten die Medien im Juni. Zugleich plant die Waffenschmiede Rheinmetall aufgrund einer Gesetzeslücke den Bau einer Panzerfabrik in der Türkei, um von dort aus Exportbeschränkungen umgehen zu können und damit ein Milliardengeschäft zu machen mit Rüstungsverkäufen auch in Spannungs- und Krisengebiete.

Bis 2020 will die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen 25 Mrd. € mehr für die Bundeswehr. Der Wehretat ist schon jetzt der zweitgrößte im Bundeshaushalt mit 41,5 Mrd. im kommenden Jahr und angestrebter Steigerung auf 60 Mrd. € jährlich. Und eine Milliarde Euro werden nach dem Willen der Regierungskoalition laut Bundestagsbeschluss vom Juni zusätzlich mobilisiert für die Anschaffung von umstrittenen Kampfdrohnen aus Israel für die deutsche Bundeswehr im Rahmen eines gemeinsamen europäischen Rüstungsprojektes „Eurodrohne“. In einer gemeinsamen Erklärung von CDU- und SPD-Politikern unternahmen diese zudem einen Vorstoß, die parlamentarischen Mitbestimmungsrechte des Bundestags bei europäischen militärischen Auslandseinsätzen künftig zu beschneiden.

Friedensforscher bedauerten im Juni, dass keine der Atommächte weltweit auf nukleare Abrüstung hinarbeite, sondern die Modernisierung ihrer Atomwaffen in Angriff nehmen. Die neun Atomstaaten besitzen zusammen ca. 15.000 Atomwaffen. Sollte der nordkoreanische Diktator tatsächlich der erste und einzige sein, der in seinem Deal mit Donald Trump die nukleare Abrüstung schrittweise beginnt?

Armutsbekämpfung

Derweil fehlt angeblich das Geld für die Armutsbekämpfung auch im reichsten EU-Land Deutschland, denn im Juni vermeldet der Dachverband der „Tafeln“ zum 25-jährigen Jubiläum, dass 1,5 Mio. bedürftige Menschen, vor allem Senioren als Armutsrentner und Hartz-IV-Empfänger nebst Asylsuchenden, auf die Armenspeisung angewiesen sind, weil ihnen kaum noch Geld zum Leben verbleibt. Derweil kämpfen die Gewerkschaften weiterhin für auskömmliche Einkommen und Renten und fordern einen weitergehenden Kurswechsel von der Regierung, um die vernachlässigte soziale Frage wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

Kirchenfinanzierung

Hingegen wurden nach Meldung der Humanistischen Union vom Juni 2018 als Staatsleistung an die beiden großen reichen Kirchen in Deutschland steigende Geldzahlungen der Bundesländer in Rekordhöhe von 538 Mio. € geleistet, das sind 14. Mio. € mehr als im Vorjahr, unabhängig von Kirchensteuer und zusätzlich zu den Zahlungen für kirchliche Dienste (Kindergarten und Altenheime), also für die Kirchenverwaltung und die beamtenähnlichen Gehälter der obersten kirchlichen Würdenträger (Erzbischöfe, Bischöfe, Weihbischöfe und Domvikare). Seit Gründung der Bundesrepublik sind trotz Trennung von Kirche und Staat somit insgesamt rund 16 Mrd. € in die Taschen der Kirchenfunktionäre geflossen statt zugunsten der bedürftigen Armen ausgegeben zu werden.

Parteienherrschaft

Doch die Sorgen der christlichen und sozialen Regierungsparteien sind vorrangig andere, sie gelten nämlich dem eigenen Wohlergehen ihrer Parteien: Im Juni machten die Fraktionen von SPD und CDU/CSU auf Initiative der SPD – deren Zustimmungswerte laut Umfragen im Juni auf 17% sanken – die steuerlichen Zuschüsse für die Wahlkampf- und Parteienfinanzierung deutlich zu erhöhen, nämlich um 15%, das sind 25 Mio. € und damit eine Anhebung auf 190 Mio. € – ohne im Gegenzug die Parteienfinanzierung durch Interesse geleitete Spenden aus der Wirtschaft einzudämmen. Angesehene Juristen halten das für verfassungswidrig. Das Ganze geschah handstreichartig im Eilverfahren ohne Einbindung der Oppositionsparteien kurz vor dem ablenkenden Start der Fußballweltmeisterschaft. Hingegen nehmen der Lobbyismus und die Intransparenz bei der politischen Einflussnahme immer mehr zu, ebenso die Nebentätigkeiten und der bedenkliche Seitenwechsel von der Politik in die Wirtschaft ohne Karenzzeiten, wie die Organisationen Lobbycontrol, Abgeordentenwatch oder Transparency International beklagen. Auch dadurch geht die Politik zugunsten der Wohlhabenden und zu Lasten der Benachteiligten ungebrochen weiter.

Reichtumssteigerung

Im Juni wurde bekanntgegeben, dass weltweit die Zahl der über 18 Millionen Dollar-Millionäre, deren Vermögen die Marke von 70 Billionen Dollar überschritten hat. im Vorjahr um fast 10% gestiegen ist, Insbesondere der Börsenboom und steigende Immobilienpreise vermehrten deren Vermögen um insgesamt 5,2 Billionen Dollar, das ist ein Plus von 7,6%. Die 62 reichsten Menschen der Welt besitzen nach einer Studie der Hilfsorganisation Oxfam so viel wie die 3,6 Mrd. ärmsten Menschen.

Und die Schere geht auch in Deutschland immer weiter auseinander. Hier verfügten  1.364.600 Menschen über ein anlagefähiges Vermögen von über 1 Mio. Dollar, das waren gut 84.000 Personen mehr als im Jahr zuvor.

Mit ein paar kleinen Steuererleichterungen für die Mittelschicht, einer nur teilweise wirksamen Mindestlohnregelung und geringfügigen Kindergelderhöhungen etc. packt die „große Koalition“ diese auch in Deutschland besonders ausgeprägte Schieflage nicht wirklich an, da sie eine wirksame Reform der Vermögens.-und Erbschaftssteuer weiterhin ablehnt.

Europakrise

Ein Jahr vor der Europawahl 2019 in der kriselnden EU, bei der ein Rechtsruck in ganz Europa zu befürchten ist, werden trotz der Vorstöße des französischen Staatspräsidenten Macron wirklich notwendige Reformen für ein sozialeres und demokratischeres Europa, trotz Priorität in den deutschen Koalitionsvereinbarungen und einzelner kleiner Schritte, nicht erkennbar. Lediglich die Hürden für kleinere Parteien sollen nach deutschen Vorstellungen bei der Europawahl durch eine Sperrklausel erhöht werden, damit die etablierten Parteien unter sich bleiben können. Bei allen anderen europäischen Vorhaben gibt es derzeit eine Kakophonie. Allein beim Aufbau einer „Militärunion“ scheint derzeit die europäische Zusammenarbeit gut zu funktionieren.

Der vielgelobte Reformer Emmanuel Macron entpuppt sich im Juni n seinem eigenen Land in der Sozialpolitik als „neoliberaler Hardliner“, der die Bevölkerung und die Gewerkschaften auf die Straßen treibt. Im Juni äußerte er sich kritisch zu dem „kostspieligen, ungenießbaren und ineffizienten“ sozialen System der Beihilfen und Existenzminima. Die Armen müssten sich nach seiner Auffassung anstrengen und mit mehr Genügsamkeit und Erziehung angeleitet werden, sich selber in Eigenverantwortung aus der (quasi individuell verschuldeten) Armut zu befreien. Deshalb will er die Staatsausgaben bis 2022 um 60 Mrd. € kürzen, insbesondere die die diversen Sozialleistungen und Beihilfen – die Armen als lästiger Kostenfaktor. (Das erinnert an die abfälligen Äußerungen und „erzieherischen Maßnahmen“ seinerzeit von Kanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement in Deutschland gegenüber den „faulen“ Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern bei der Einführung von Hartz IV mitsamt den Sanktionsregeln).

Steuergeschenke

Mit dieser Gesinnung lässt sich kaum ein sozialeres und solidarischeres Europa mit einer steuerlichen Korrektur der ungerechten Armuts-Reichtums-Verteilung in Deutschland und Europa aufbauen, trotz aller Lippenbekenntnisse für eine europäische „Sozialunion“ unlängst in Göteborg. Für diese bedürfte es hinreichender Steuereinnahmen von den Reichen und Konzernen, die weiterhin begünstigt und geschont werden.

Zusammen mit Macron will jedoch der deutsche Finanzminister Olaf Scholz, unterstützt von seinem „Goldman-Sachs-Staatssekretär Jörg Kulies, die verkündete Einführung einer Transaktionssteuer nur auf den Handel von Aktien und einigen Anleihen beschränken, nicht aber von Derivaten. Damit wird die Steuer zu einer bloßen Alibi-Steuer oder zu einem Etikettenschwindel mit Einnahmen von nur 5 bis 7 Mrd. Euro statt erzielbaren 40 bis 50 Mrd. €, wie der grüne EU-Abgeordnete Sven Giegold kritisiert. Zudem hält Scholz an Schäubles Politik der „schwarzen Null“ eisern fest, statt überfällige Investitionen im nötigen Umfang zu ermöglichen.

Handelskrieg

Nach dem Motto seiner Lieblingsautorin Ayn Rand – „Egoismus ist eine Tugend, denn es gibt kein Gemeinwohl, und Altruismus ist ein Übel, das Nationen zerstören kann“ – hat US-Präsident Donald Trump mit seinen protektionistischen Strafzöllen einen internationalen Handelskrieg begonnen, der im Juni zu Gegenreaktionen fast aller Wirtschaftsnationen weltweit und auch der EU geführt hat und dessen Folgen nicht absehbar sind. Zugleich wird seit Juni das Heil des freien Handels in der Wiederbelebung der unfairen und umstrittenen Freihandelsverträge TTIP „light“, CETA, Jefta, TiSA, EPA usw,. gesehen, die gerade von der Zivilgesellschaft teilweise ausgebremst oder abgemildert worden sind. Am Ende wird es nur Verlierer geben und keine Gewinner.

Durch den chauvinistischen Nationalismus weltweit werde der Weltfrieden bedroht, sagte im Juni der scheidende UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Said Raad alHussein, in Genf: „Zu viele Regierungen mit selbstsüchtigen und kaltschnäuzigen Führungspersonen täuschten Unterstützung für gemeinsame Ziele vor, kämpften aber nur für eigene Interessen“.

Dieselskandal

Die eigenen Interessen und diejenigen ihrer Aktionäre standen auch im Vordergrund der deutschen Automobilkonzerne, ohne Rücksicht auf die Interessen der Kunden und Käufer oder auf die Gesundheit der von Schadstoffen belasteten und gesundheitlich gefährdeten Menschen – allen voran VW mit staatlicher Beteiligung des Landes Niedersachsen. Nun endlich sind im Juni die millionenfachen Betrügereien nicht als bloße „Schummeleien“, sondern als Menschen gefährdende Straftaten angesehen worden, mit Milliarden-Strafzahlungen, Haftbefehlen und Untersuchungshaft sowie staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen die Automanager und Konzernbosse, die zuletzt noch millionenschwere Boni und Gehälter für ihre Geschäftspolitik kassierten – ähnlich wie bei der kriminellen Deutschen Bank, die mittlerweile am Abgrund steht.

Doch die allzu engen Verflechtungen zwischen Autoindustrie und deren Lobby mit den Spitzenpolitikern der Bundes- und Landesregierung bis hinauf zur Kanzlerin haben immer noch nicht dazu geführt, die technischen Nachrüstungen der Dieselautos rechtlich anzuordnen – obwohl die verantwortlichen Minister und Behördenchefs sich dabei hart an der Grenze der „Strafvereitelung im Amt“ bewegen. Solange weiterhin die Menschen in den verkehrsreichen Städten mit Stickoxiden gesundheitlich gefährdet werden, verletzen die Politiker auch ihrem Amtseid, Schaden vom Volk anzuwenden. Dazu gehört schon eine gehörige Portion Skrupellosigkeit und Abgebrühtheit in der lobbyhörigen Regierungszentrale der GroKo, die vielleicht den Sommer nicht mehr übersteht. Einen Toten gibt es schon, glaubt man dem Journalisten Jakob Augstein, der meint, die SPD sei schon tot, sie habe es nur noch nicht gemerkt…

Wilhelm Neurohr

21. 06. 2018

Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit (Buchtipp)

Buchtipp:

Die Erfindung des Landes Israel

Shlomo Sand

Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit

Gehört Israel den Juden? Was bedeutet überhaupt Israel? Wer hat dort gelebt, wer erhebt Ansprüche auf das Land, wie kam es zur Staatsgründung Israels? Shlomo Sand, einer der schärfsten Kritiker der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern, stellt den Gründungsmythos seines Landes radikal in Frage. Überzeugend weist er nach, dass entgegen der israelischen Unabhängigkeitserklärung und heutiger Regierungspropaganda die Juden nie danach gestrebt haben, in ihr „angestammtes Land“ zurückzukehren, und dass auch heute ihre Mehrheit nicht in Israel lebt oder leben will.

Es gibt kein „historisches Anrecht“ der Juden auf das Land Israel, so Sand. Diese Idee sei ein Erbe des unseligen Nationalismus des 19. Jahrhunderts, begierig aufgegriffen von den Zionisten jener Zeit. In kolonialistischer Manier hätten sie die Juden zur Landnahme in Palästina und zur Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aufgerufen, die dann nach der Staatsgründung 1948 konsequent umgesetzt wurde. Nachdrücklich fordert Sand die israelische Gesellschaft auf, sich von den Mythen des Zionismus zu verabschieden und die historischen Tatsachen anzuerkennen.

Rezension:

»Detailliert und quellenreich zeichnet Sand nach, wie territoriale Ansprüche auf das „Land der Väter“ begründet wurden.«, Deutschlandradio, Sigrid Brinkmann, 29.11.2012

Portrait:

Shlomo Sand, geboren 1946 als Kind polnischer Juden in Linz. 1949 Übersiedlung der Familie nach Israel. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften in Paris lehrt Sand Geschichte an der Universität Tel Aviv. Er zählt zu den führenden Intellektuellen Israels und zu den schärfsten Kritikern der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern. Bei Propyläen erschienen »Die Erfindung des jüdischen Volkes« (2010), »Die Erfindung des Landes Israel« (2012) und »Warum ich aufhöre, Jude zu sein« (2013).

Propyläen Verlag 2012, 400 S. (gebundene Ausgabe, Taschenbuch, eBook)

Dalai Lama: Unser Weg in eine friedliche Welt

Der Dalai Lama Exklusiv in der HÖRZU: Herzensbildung, Toleranz, Empathie: Franz Alt fragte den geistlichen Führer der Tibeter, was jeder von uns tun kann, um die Erde in einen friedlicheren Ort zu verwandeln.
Wie kann das 21. Jahrhundert eine Epoche des Friedens werden? Welche Werte sind heute wichtig? Was muss sich ändern in der Welt? Der Dalai Lama, spiritueller Führer der Tibeter, findet Antwort auf bedeutende Fragen unserer Zeit. Vor zwei Jahren hat er zusammen mit dem Journalisten Franz Alt das Buch „Der Appell des Dalai Lama an die Welt“ (Benevento, 56 Seiten, 4,99 Euro) veröffentlicht, das inzwischen in 16 Sprachen übersetzt wurde und ein Weltbestseller ist.

Jetzt haben sich die beiden Freunde in Frankfurt wieder getroffen, bereits zum 36. Mal. Der Dalai Lama ist nach 58 Jahren im Exil einer der ältesten Flüchtlinge der Welt. Dass er immer noch optimistisch ist, nennt Franz Alt das „Wunder des Dalai Lama“. Exklusiv in HÖRZU fasst er die wichtigsten Botschaften Seiner Heiligkeit zusammen:

Abrüstung und Toleranz

Der Dalai Lama sagt: „Abrüstung ist praktiziertes Mitgefühl. Voraussetzung einer äußeren Abrüstung ist allerdings eine innere Abrüstung von Hass, Vorurteilen und Intoleranz. Ich appelliere deshalb an alle aktuellen Kriegsparteien: ‚Rüstet ab und nicht auf!‘. Und an alle Menschen: ‚Überwindet Hass und Vorurteile durch Verständnis, Kooperation und Toleranz!‘“

Donald Trump und Amerikas Zukunft

„Wenn der amerikanische Präsident sagt ‚America first’, dann macht er seine Wähler glücklich. Das kann ich verstehen. Aber aus globaler Sicht ist diese Aussage nicht relevant. In der globalen Welt hängt heute alles mit allem zusammen. Amerikas Zukunft hängt auch von Europa ab und Europas Zukunft auch von den asiatischen Ländern. Deshalb sollte der US-Präsident mehr nachdenken über das, was für die ganze Welt relevant ist.“

Nationalismus und Konflikte

„Nationalismus ist ein ernstes Problem. Es ist zunächst einmal logisch, dass die vielen Nationen sich um ihre eigenen Belange kümmern. Die Europäische Union ist jedoch ein gutes Beispiel für gelungene internationale Zusammenarbeit. Nach Jahrhunderten der Kriege und des gegenseitigen Abschlachtens hat in den letzten 60 Jahren kein einziges Land der Europäischen Union gegen ein anderes Krieg geführt. Die Geschichte lehrt uns: Wenn Menschen nur ihre nationalen Interessen verfolgen, gibt es Streit und Krieg. Die EU ist weltweit das vorbildliche Friedensprojekt. Die Zukunft einzelner Nationen hängt immer auch von den Nachbarn ab – davon, dass es auch ihnen gut geht. Wir müssen jetzt lernen, dass die Menschheit eine einzige Familie ist. Wir alle sind physisch, mental und emotional Brüder und Schwestern. Aber wir legen den Fokus noch viel zu sehr auf unsere Differenzen anstatt auf das, was uns verbindet. Dabei sind wir doch alle auf dieselbe Weise geboren und sterben auf dieselbe Weise. Es ergibt wenig Sinn, mit Stolz auf Nation und Religion auf dem Friedhof zu landen!“

Flüchtlingskrise und Heimat

„Die Politik muss Mitgefühl für Menschen in Not zeigen. Migranten dürfen nicht diskriminiert werden. Ein paar Tausend Flüchtlinge jedes Jahr sind kein Problem für die reichen Länder. Deutschland hat in den letzten zwei Jahren sogar über eine Million Flüchtlinge aufgenommen, was ich sehr begrüße. Aber eine Million geht nicht jedes Jahr. Auf lange Sicht sollten die Flüchtlinge wieder zurückkehren und ihre Heimat aufbauen.“…

Volltext

Wilhelm Neurohr: Wie geht es weiter mit Europa?

Übersicht:

  • Existenzielle Krise der EU im 60. Jubiläumsjahr
  • Drohendes Scheitern und Auseinanderbrechend der EU

Teil I : Zum gegenwärtigen Zustand der Europäischen Krisen-Union

  • EU seit 12 Jahren im dauerhaften Krisenmodus
  • Konzeptionslosigkeit statt Neuaufbau der EU?
  • Es fehlt der Antrieb zu einem solidarischen Europa
  • Die Militarisierung der expandierenden EU als heikles Unterfangen
  • Uneinigkeit und Zerstrittenheit hinter den Kulissen durch nationale Egoismen
  • Marktradikale Ökonomisierung zerstört idealistischen Zauber der EU-Idee
  • Die EU verliert die Akzeptanz der Bevölkerung und erzeugt eine „verlorene Generation“
  • Ungelöste Konflikte und Probleme überfordern die EU
  • Eklatante Demokratie-Defizite und Bürgerferne der EU
  • Mangelnde Gewaltenteilung, hemmendes Einstimmigkeitsprinzip, unklarer Status
  • Soziale Schieflage durch fehlende einklagbare soziale Grundrechte
  • Europa als Steuerparadies und Tummelfeld für Lobbyisten
  • Krisenbündel als „Weckruf“ für Europa mit Aufwacherlebnissen
  • Die Krise als Chance für überfällige Reformen

Teil II : Wie geht es weiter mit der EU – Reformvorschläge „von oben“

  • Weiter so“ statt dringend notwendige Reformen?
  • Junckers Szenarien zum Rückzug der EU – fragwürdige  Zukunftsmodelle
  • Umstrittene Reformvorschläge des EU-Kommissionspräsidenten
  • Die „Sozialunion“ ist trotz der Erklärung von Göteborg umstritten
  • Die Reformagenda des französischen Präsidenten Macron für die EU
  • Gegenwind zu den Plänen von Juncker und Macron
  • Die offizielle Erklärung von Rom durch die führenden EU-Vertreter
  • Die vier Ziele der EU für die nächsten 10 Jahre
  • Die EU will eine militärische Macht werden und aufrüsten
  • Europäische Militärausgaben überflügeln Russland um das Dreifache
  • Europa hält an Atomwaffen fest statt an Abrüstungsvereinbarungen

 Teil III : Zivilgesellschaftliche Alternativ-Vorschläge für die Neugründung eines     anderen Europa „von unten“

  • Kampf zwischen Kultur und Kommerz – Europa von oben oder von unten?
  • Pro-europäische Bürgerbewegung – Heraus aus der Zuschauerdemokratie –   Ein funktionierendes Europa von unten muss erkämpft werden
  • Bündnis „Europa neu begründen – Die Krise durch Solidarität und Demokratie bewältigen“
  • „Puls of Europe“- Für Europa auf die Straße
  • Memorandum 2017: „Alternativen für ein solidarisches Europa“ statt „Germany first“
  • Vielfältige zivilgesellschaftliche Initiativen für ein anderes Europa von unten – Bürgerkonvent für eine neue EU-Verfassung
  • „DiEM 25“ – Paneuropäische Bewegung „Demokratie in Europa“  – gegen Nationalismus und Demokratieverfall
  • Institutionelle Reformen zur Demokratisierung der EU-Entscheidungsprozesse
  • Perspektiven für die Zukunft Europas und seine Rolle in der Wert

 Zum gegenwärtigen Zustand der Europäischen Krisen-Union

 Existenzielle Krise der EU im 60. Jubiläumsjahr

 Mit dem Thema „Europa“ konnte man noch vor einigen Jahren niemanden „hinter dem Ofen hervorlocken“. Dies bezeugen auch die geringen Wahlbeteiligungen um nur 40% bei den zurückliegenden Europawahlen.

Inzwischen hat sich jedoch der Blick auf Europa dramatisch geändert, denn „unsere Europäische Union ist in einer existenziellen Krise“. Das sind nicht meine Worte, sondern diese ehrliche Diagnose stellte EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker, und zwar im September 2016 in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union.

Dabei sollten wir uns als Europäer eigentlich in diesem Jahr des 60. Jubiläumsjahres der Europäischen Union erfreuen. Denn die Römischen Verträge von 1957 gelten ja als Gründungsdatum der  Europäischen Gemeinschaft.

Die EU hat uns rückblickend 70 Jahre lang Frieden beschert (sieht man von auswärtigen Kriegseinsätzen durch EU-Länder sowie vom Jugoslawienkrieg ab, dessen Kriegsverbrecher gerade vor dem UN-Tribunal abgeurteilt wurden).

Die EU hat uns Freizügigkeit und Reisefreiheit sowie Völkerfreundschaft ermöglicht, gemeinsame Währung (die wir im Urlaub zu schätzen wissen), ferner Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit sowie weitgehende Einhaltung der Menschenrechte auf der Basis gemeinsamer Werte. Aber auch Wohlstand für viele, wenn auch längst nicht für alle, sowie lange Zeit auch funktionierende Demokratie und Sozialstaatlichkeit – kurz: ein offenes und liberales Europa, das wir alle zu schätzen wissen.

Diese Werte sind derzeit in Gefahr mit Blick auf die zunehmende Renationalisierung und Entsolidarisierung, aber auch wegen der Grenzschließungen infolge der  Flüchtlingsbewegungen. Ferner durch Rechtspopulismus und soziale Spaltung, durch unzureichende Finanzmarktregulierungen und unklares Vorgehen bei der Euro-Rettung.

Nicht zuletzt ist die EU gefährdet auch durch eklatante Demokratie-Defizite, durch den Siegeszug der Lobbyisten und die sinkende Akzeptanz der Bevölkerung wegen fehlender Zukunftsperspektiven und -konzepte – bis hin zur zunehmenden Militarisierung der EU-Politik mit massiven Aufrüstungen statt Abrüstungen durch eine EU, die vor 5 Jahren den Friedensnobelpreis erhielt.

Heute, 60 Jahre später steht Europa „auf der Kippe“, zumindest in einem Erosionsprozess und bedarf eines ganz neuen Anlaufs. Denn mit den Ideen der europäischen Vordenker und Gründungsväter von einst hat die heutige Union nur noch wenig gemeinsam. Die Ursprungsidee ist geradezu degeneriert. Die EU ist in einer regelrechten Sinnkrise.

Drohendes Scheitern und Auseinanderbrechen der EU

„Wir feiern jetzt groß in Rom“, sagte der ehemalige belgische Premierminister Verhofstadt, „aber in Wirklichkeit ist das Projekt gescheitert“, so seine Worte. Auch andere europäische Spitzenpolitiker beschworen noch im vorigen Jahr 2016 allesamt in pessimistischen Reden unisono „das Auseinanderbrechen der EU“, von Ratspräsident Donald Tusk und dem französischen Ex-Präsidenten Hollande über den damaligen deutschen Außenminister Steinmeier und dem vorigen Bundespräsidenten Joachim Gauck, bis hin zum damaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz.

Originalton Martin Schulz: „Ja, die EU kann scheitern. Wenn wir nicht aufpassen, fällt sie auseinander“. Der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer malte in einem Interview 2016 die Lage noch viel dramatischer: „Europa ist viel zu schwach und zu zerrissen. Und so wird die westliche Welt, wie wir sie kennen, vor unseren Augen versinken.“ Doch wäre nicht das Zerbrechen Europas eine moralische Bankrotterklärung der zivilisierten westlichen Welt?

Deshalb soll in diesem Beitrag im ersten Teil der bedenkliche Zustand der EU mit ihren Fehlentwicklungen in einer Problemanalyse näher betrachten werden. Im zweiten Teil sollen die inzwischen vorliegenden diversen Reformvorschläge „von oben“ bewertet werden – also was von offizieller Seite, von den EU-Institutionen und Europas Spitzenpolitikern (wie Juncker und Macron) daraufhin für die Rettung Europas und seine Zukunft geplant ist (und ob das ausreicht oder in die falsche Richtung geht).

Und im dritten und wichtigsten Teil soll der Blick darauf gelenkt werden, was „von unten“ aus der Zivilgesellschaft an Alternativen für ein bürgernahes Europa von unten und  seine Neubegründung vorgeschlagen wird und welche Aktivitäten und Initiativen dazu ergriffen werden.

TEIL I:

 Zum gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union

 EU seit 12 Jahren im dauerhaften Krisenmodus

Der bedenkliche Zustand der EU, die sich seit 12 Jahren in einem dauerhaften Krisenmodus befindet, spiegelt sich in folgenden Zitaten aus Zeitungsschlagzeilen:

  • „Ist Europa schon tot, oder liegt es noch im Koma?“
  • „Der taumelnde Riese EU“
  • „Diese EU ist am Ende““
  • „Europa am Scheideweg“

Andere Vorwürfe lauten:

  • „Die EU zerstört die europäische Idee“
  • „Der Euro spaltet Nord und Süd“
  • „Europa ist eine lahme Ente – statt neuen Schwung zu nehmen“
  • „Das europäische Projekt hat seine Versprechen nicht gehalten“

Und Zeitungskommentatoren attestieren:

  • „Die Reformfähigkeit der EU steht in zentralen Politikfeldern in Frage“
  • „Europa ist im Begriff, sich in einen gescheiterten Kontinent zu verwandeln“
  • „Abbruchstimmung statt Aufbruch-Stimmung in Europa“
  • „Fehlende Zukunftsvisionen und nationalistische Rückwärtsgewandtheit“
  • „Europa fällt zurück in längst überwunden geglaubte Zeiten“

Einer behauptet sogar:

  • „Wenn die EU untergeht, wird keiner weinen“

Das darf allerdings bezweifelt werden, denn der Verlust wäre zweifellos tragisch.

Weitere Schlagzeilen:

  • „Was ist los mit dir, Europa?“
  • „Schicksalsjahr für Europa
  • „Die Europäische Union ist in einer schweren Krise“

Und ein Leitartikler in der Zeitung „Die Welt“ schrieb 2017: „Die EU ist in Teilen dysfunktional und im Kern nicht mehr reformfähig. Sie hat ausgedient. Sie muss neu aufgebaut werden.“ Immer lauter wird deshalb die nach vollziehbare Forderung nach einer Totalrevision der europäischen Verträge. Doch Europa sei „mit 60 noch nicht reif für die Rente“, meint der Luxemburger Regierungschef Xavier Bettel.

 Konzeptionslosigkeit statt Neuaufbau der EU?

Der amtsmüde Kommissionspräsident Juncker musste nach den Jubiläums-Feierlichkeiten in Rom eingestehen: „Ein echtes Konzept fehlt. Eine Antwort darauf haben wir nicht, wie die Zukunft der EU konkret aussieht.“ Das ist quasi eine Bankrotterklärung von höchster Stelle, ein politisches Armutszeugnis. Aber sollten wir nicht für die Wiederbelebung Europas energisch kämpfen?

Gerade jetzt kommt es doch auf die gemeinsamen europäischen Werte an – auch als freiheitliches Gegenmodell zu den Systemen von Trump, Erdogan, Putin, Orban und anderen. Dazu ist ein grundlegendes Überdenken der Politik und Architektur der EU dringend gefordert, wenn dieser Kontinent nicht scheitern soll. Die Prinzipien der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung stehen auf dem Spiel, ebenso die sozialen und demokratischen Prinzipien.

Europa wird meines Erachtens weniger an der Flüchtlingsfrage zerbrechen als vielmehr an der ungelösten sozialen Frage und an seinen eklatanten Demokratie-Defiziten. Daran ändern auch nichts die vor wenigen Tagen in Göteborg von den EU-Institutionen gemeinsam verkündeten unverbindlichen Aussagen für einen „sozialen Pfeiler der EU“, die im Weiteren noch näher hier betrachtet werden.

Die Menschen in Europa sind die politischen Bücklinge gegenüber den internationalen Finanzoligarchen leid, die uns als „marktkonforme Demokratie“ verkauft werden. Dabei brauchen wir einen demokratiekonformen Markt, denn die Wirtschaftslastigkeit Europas erzeugt mehr Verlierer als Gewinner. Die Sehnsucht nach einer tragenden Idee für Europa wurde kaum erfüllt; Europa hat seine Versprechungen nicht gehalten.

Die Menschen sind zwar mehrheitlich für die europäische Integration, aber sie wollen ein anderes Europa als das der Eliten. Andernfalls vollzieht sich mit den Rechtspopulisten in Europa und Amerika bereits eine gefährliche antiliberale Revolte. Vielleicht hat der ehemalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz nicht ganz Unrecht mit seiner Aussage, dass die EU sich außen- und wirtschaftspolitisch zunehmend von den USA emanzipieren sollte, dann hätte die Ära Donald Trump wenigstens in dieser Hinsicht ihr Gutes.

 Es fehlt der Antrieb zu einem solidarischen Europa

In Wirklichkeit fehlt der Antrieb zu einem solidarischen Europa – mit höheren Löhnen, kürzerer Arbeitszeit, bezahlbaren  Wohnungen und umfassender Sozialversicherung sowie Wohlstand für alle, wie jüngst in Göteborg zwar von der EU-Spitze verkündet – allein, es fehlt der Glaube. Deutschland als reichstes Land will nicht draufzahlen  – weil es heute schon 13 Mrd. € mehr einzahlt als es an EU-Mitteln erhält, Und keiner will sein Wohlstandsniveau absenken. Im Hinterkopf des größten und einflussreichsten EU-Landes versteckt sich in Wirklichkeit das Anliegen „Germany first“.

Der „Exportweltmeister Deutschland“ mit seinen Exportüberschüssen und seiner Niedriglohnpolitik ist mit diesem nationalen Wirtschaftsegoismus  mitverantwortlich für den wirtschaftlichen Niedergang der südeuropäischen Länder und deren Verschuldung, von der Deutschland auch noch profitiert, so attestieren die Wirtschaftswissenschaftler. Und außenpolitisch muss Europa seine Handels- und Entwicklungspolitik korrigieren, wenn ihm wirklich an der Beseitigung der Fluchtursachen in den Armutsländern außerhalb Europas gelegen…

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Wilhelm Neurohr: „Europa der Regionen“ statt „Nationalstaaten“ als einigendes Föderalismus-Prinzip

Leserbrief an die Ruhr-Nachrichten zum „Blickpunkt Spanien“ vom 12. Oktober 2017

„Europa der Regionen“ statt „Nationalstaaten“ als einigendes Föderalismus-Prinzip

Das Dilemma Spaniens und letztlich auch Europas sind die undifferenzierten sowie diffusen Begriffe von Volk und Nation und deren missverstandenes „Selbstbestimmungsrecht“. Separatistische Abspaltungstendenzen einzelner Regionen könnte man dann vermeiden, wenn man sauber unterscheiden statt vermischen würde:

  • Kulturelle Autonomie einerseits, die jeder Region und Volksgruppe in Europa problemlos  zugestanden  werden könnte.
  • Rechtliche „Autonomie“ andererseits  im Sinne des Föderalismus, bei dem die Regionen innerhalb des gesamtstaatlichen Rechtsrahmens eigene rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten haben (wie etwa unsere Bundesländer) – unter Beachtung des so genannten „Subsidiaritätsprinzips“, d.h. die höhere Ebene gestaltet nur solche übergeordneten Rechtsfragen,  die nicht besser auf der unteren Ebene aufgehoben sind. (Das muss auch die EU noch lernen).
  • Und schließlich die abwegige  „wirtschaftliche Autonomie“, die es im Zeitalter der Globalisierung nicht geben kann, wohl aber bewusste Stärkung der regionalen Wirtschaft im Sinne regionaler Kreisläufe, von der auch der Gesamtstaat und Europa wirtschaftlich profitieren würden – zuzüglich Entlastung der Verkehrsadern.

Und als langfristige Perspektive ein föderalistisches „Europa der Regionen“ auf dieser Basis, das sich vom überholten Nationalstaatsprinzip völlig verabschiedet. Denn es sind weniger einige  Separatistenbewegungen, die Europa ernsthaft gefährden, als vielmehr die egoistisch und machtpolitisch  ausgerichteten Nationalstaaten mit ihrem „Nationalismus“, die derzeit der europäischen Solidarität und dem Zusammenhalt zerstörerisch entgegenwirken.

Wilhelm Neurohr