„Ist dein Vater Parteiführer gewesen?“
„Nein, aber er war Mitglied der Partei, seit 33. Er hatte 1930 in unserer Stadt eine Ortsgruppe des Deutschen Luftsportverbandes gegründet. Er hatte sein junges Leben lang vom Fliegen geträumt, und dieser Traum sollte nun verwirklicht werden. Es wurden drei Fluggleiter gebaut. Das sind fliegende Schaukelstühle aus Kieferholmen und Sperrholz, Tragflächen und Leitwerk mit Leinwand überspannt und lackiert. Diese Apparate wurden von einem Gummiseil auf einem kleinen Hügel am Stadtrand in die Luft katapultiert. Angeschnallt und durch einen ledernen Sturzhelm geschützt, saß man am Steuerknüppel und flog immerhin einige Minuten lang.
Der Deutsche Luftsportverband wurde 1933 als Nationalsozialistisches Fliegerkorps gleichgeschaltet. Diese Organisation bildete die künftigen Militärpiloten im Segel- und zum Teil auch im Motorflug aus und warb in der Öffentlichkeit für die Deutsche Luftwaffe.
Ich war dreizehn, als meine Segelflugausbildung begann. Wir wurden also schon als Kinder auf den Krieg vorbereitet.“
„Du bist systematisch zum Nazi erzogen worden; dein Vater war vor 33 nicht in der Partei, aber doch wohl schon ein Nazi?“
„Er hatte sehr früh seine Eltern verloren und ist in der Obhut seiner älteren Schwestern aufgewachsen. Sie haben ihn nicht zum Militaristen gemacht. Er hat seinen Vater vermißt und einen Übervater gefunden.“
„Hitler.“
„Ja. Mein Vater ist am Ende des ersten Weltkrieges als junger Soldat in deutschnationales Fahrwasser geraten, und als Zwanzigjähriger hat er in einem Freikorps, in einer der präfaschistischen, paramilitärischen Verbände, die sich nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland gebildet hatten, im Baltikum gegen die Rote Armee gekämpft. Dann studierte er Zahnmedizin und gehörte einer präfaschistischen Studentenverbindung an. Die Backe hat er sich allerdings nicht zerhauen lassen. Er wollte ja Zahnarzt werden.“
„Die Backe zerhauen – wie? Womit?“
„In den schlagenden Verbindungen war es seit den 1850er Jahren üblich, bei den Mensuren, beim Fechten, sich Schmisse, Verletzungen, an der Backe anzubringen und sie eitern zu lassen, damit dicke Narben entstehen. Diese sollten später die Doktoren als akademische Helden ausweisen. Die älteren Heldensemester, in Altherrenschaften organisiert, verhalfen den jüngeren Heldensemestern nach deren Studium zu einem guten Posten und ebneten ihnen eine Karriere. Mein Vater hatte eine solche Erkennungsmarke nicht.“
„Er wollte kein Held sein. Was dann?“
„Er war ein eher ängstlicher, ein sehr sensibler Mensch. Er war rücksichtsvoll und behutsam. Ein sehr liebenswerter Mensch. Alles andere als ein Haudegen.“
„Ein sanfter Idealist?“
„Er nahm die Parole Volksgemeinschaft, mit der den Massen nationale und soziale Solidarität suggeriert wurde, sehr ernst.
Dennoch setzte er sich nicht mit unserer Hausangestellten an einen Tisch. Das Dienstmädchen mußte seine Malzeiten allein in der Küche einnehmen. Einmal hat er, wie mir meine Mutter später erzählt hat, sich überwinden müssen, eine Proletarierwohnung zu betreten. Ich war zu den Arbeiterkindern ins Haus gegangen und, als mein Vater hereintrat, unter die Ehebetten gekrochen. Minna hatte Urlaub, und meiner Mutter wollte er wohl den Anblick des Elends ersparen. Du gehst nicht wieder zu Kommunistenkindern! befahl er mir nachher. Ich war fünf oder sechs.“
„Volksgemeinschaft…“
„Im Grunde litt er unter der materiellen Not anderer und half, wo er helfen konnte. Er hat die Ärmsten unserer Stadt ohne Honorar behandelt. Selbst den russischen Kriegsgefangenen, die, von einem auf einem Hocker sitzenden Altreservisten mit aufgepflanztem Bajonett bewacht, bei uns im Flur warten mußten, hat mein Vater Füllungen, ja sogar Kronen und Brücken eingesetzt – ohne Honorar, und ihnen Zähne gerettet. Er hätte sie herausreißen sollen. Ebenso verfuhr er bei den sogenannten Fremdarbeitern und Fremdarbeiterinnen. Ein besiegter Feind, hat er einmal gesagt, muß menschlich behandelt werden. Sonst bist du selber kein Mensch. Ohne Zähne oder mit kaputten würden sie verhungern.“
„Dann war er also auch ein Humanist, ein deutscher Humanist.“
„Das war er wohl, mit allen seinen Widersprüchen. Er verabscheute Brutalität. Er hat verfaulte Zähne gezogen und vereiterte Zahnhöhlen gesäubert. Aus dieser Zahnarztperspektive hat er die Verbrechen des Staates gesehen, falls ihm überhaupt klar geworden ist, was da passierte. Denn sie wurden geheimgehalten oder als Maßnahmen zum Schutze des deutschen Volkes verschleiert. Mein Vater, staatsfromm und autoritätshörig, verehrte Hitler wie einen Gott. Ich habe Tränen in seinen Augen gesehen, als er vorm Volksempfänger, so hießen unsere Radioapparate, saß und Hitler reden hörte. Was Der Führer sagte, das war für ihn jenseits aller kritischen Überlegungen.“
„Und deine Mutter?“
„Sie war neunzehn, als ich geboren wurde, und in allem unerfahren. Sie stammt aus einer völkisch-deutschnational gesinnten Familie und gehörte als junges Mädchen dem Luisenbund an. Viele junge Mädchen haben damals die Königin Luise von Preußen, die in Tilsit mit Napoleon zusammentraf, um mildere Friedensbedingungen zu erwirken, angehimmelt. Nach ihr wurde der Bund genannt. Die Luisentöchter veranstalteten Kaffeekränzchen, strickten in Tischdecken vaterländische Symbole ein, sangen dementsprechende Liederund stopften Vierzehnachtzehn den Frontsoldaten die Socken. Im zweiten Weltkrieg war meine Mutter im NS-Frauenbund.“
„Wo lebt sie jetzt?“
„In Norddeutschland bei einer wohlhabenden Großtante, einer Gutsbesitzerin. Die Großtante hat nach dem Tod ihres Mannes Männerstiefel angezogen und ist in die Fußtapfen des Verstorbenen getreten. Sie hätte sich als Unternehmerin in einer Männergesellschaft anders nicht behaupten können. Wir sind in den Sommerferien fast jedes Jahr dort gewesen. Nahezu die gesamte Verwandtschaft war da versammelt, dazu zwei Ferienkinder aus Berlin. Sie wurden wieder aufgepäppelt. Meine Großtante, wenn sie mit ihrem zerknitterten Filzhut über die Felder geht oder, auf ihrem Krückstock gestützt, mit dem Verwalter spricht, wenn sie am Kopfende des langen Eßtisches in der Diele auf ihrem Lehnstuhl sitzt, sieht sie aus wie der Alte Fritz, Friedrich II. von Preußen. Der Alte Fritz wird sie auch genannt, von uns und von den Landarbeitern. Den Lehnstuhl hat ihr der Husholer, der Haushalter, zum 50.Geburtstag gezimmert. Die Landarbeiter mögen sie. Sie gibt ihnen ein gutes Deputat und spricht mit ihnen plattdeutsch. Vor Weihnachten hat sie, die Achtzigjährige, um wenigstens in den Festtagen Not zu lindern, fast hundert Pakete und Päckchen gepackt: mit Fleisch, selbstgemachter Wurst, Schmalz, Eiern und Grütze. Die Pakete brachte der Chauffeur in die Stadt zu kinderreichen Familien. Am 24. Dezember lädt sie vormittags die Gutsarbeiter mit ihren Familien zur Bescherung ins Haus. Es gibt einen Korn, belegte Brötchen, Bier und für die Kinder Himbeersaft, und jede Familie bekommt ein großes Paket: Bettwäsche, Kleidung, Schuhe, Spielzeug. Einmal war es ein Kinderwagen. Oft besucht sie die Katen, die Landarbeiterhäuser am Gutshof, um zu sehen, wie es den jungen Müttern und den Alten geht.“
„Und sie war auch…?“
„Erst kaisertreu, dann Hitler-treu. Sie hat schon 1936 auf den Kotflügeln ihres schwarzen Mercedes je einen schwarzweißroten und einen Hakenkreuzwimpel anbringen und ihrem Chauffeur, einem Treckerfahrer, eine uniformartige Kleidung schneidern lassen, eine Livree. Wir Jungen wurden in Matrosenanzüge gesteckt und saßen auf kleinen Hockern zwischen den Beinen der Erwachsenen hinter der Trennscheibe des Sechszylinders, wenn wir nach Kiel fuhren, in die Marinestadt: Kriegschiffe bestaunen.“
„Und dein Vater, wie ist er gestorben?“
„Ausgehungert und erschöpft, in einem Eisenbahnwagon. Im Winter 45. Bei mehr als 30° Frost. Pflichterfüllung bis zum letzten Hosenknopf hieß seine Devise. Sein Gehorsam hat ihn das Leben gekostet. Er blieb, als er seine Frau und wenigstens zwei seiner Kinder in Sicherheit wußte, ich war an der Westfront, in unserer Stadt zurück, um mit einem Häuflein alter Männer sein Vaterland gegen die sowjetische Armee zu verteidigen. Die anderen Naziführer hatten sich längst verpißt. Mein Vater war 45 Jahre alt, als er auf dem Transport nach Sibirien starb.“
[Aus meinem zeitdokumentarischen, autobiografischen Roman Der Ritt auf dem Ochsen oder Auch Moskitos töten wir nicht, Aachen 2000, S. 35 ff., vergriffen, jetzt als eBook im BookRix-Verlag 2012]
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