Auf der alten Festung in Marseille 1915 – 1954. Autobiografische Berichte und externe Aufzeichnungen. Fotos

Die alte Festung von Marseille, 1954 Foto: Dietrich Stahlbaum 1954
Die alte Festung von Marseille 1954. In der Festung wurden 1915 die „Annamite“-Vietnamesen untergebracht. Auch die Legionäre wurden dort in Quarantäne gehalten, während das 2. Büro in ihrem Heimatland Nachforschungen betrieb. Ich habe 1949 in den Kasematten auf schmutzigen, verwanzten Matratzen gelegen und nachts Kolonnen von Wanzen gesehen, die über unseren Köpfen an der Gewölbedecke entlangmarschiert sind und sich auf uns fallen ließen.
Foto: Dietrich Stahlbaum 1954

Der alte Hafen von Marseille mit Anlagebecken für Schiffe aus Übersee. Ob es ein Militärhafen war, weiß ich nicht. Wir wurden hier ausgeschifft und nach Vietnam eingeschifft. Foto: Dietrich Stahlbaum 1954.
´Ammamites`-Vietnamesen 1915 in Marseille
Der alte Hafen von Marseille 1954. Wo heute Luxusjagden geparkt sind, waren damals Fischerboote. Foto: Dietrich Stahlbaum 1954
Der Hafen von Marseille heute.
Nguyen Trung Dung : 12. August 2019   Marseille ngày nay.
Marseille an diesem Tag.
Foto: Nguyen Trung Dung 2019
Heimfahrt im Mittelmeer auf einem Libertyship
Sturm, kurze hohe Wellen, der „Badewanneneffekt““ im Mittelmeer
Am 5. Dezember 1953 in der Dakota beim Anflug auf die Piste von Dien Bien Phu fotografiert. Wir mussten dreimal zur Landung ansetzen, weil die Sicht sehr schlecht war: Dunst. Dabei waren wir der vietnamesischen Luftabwehr ausgesetzt. Nach uns konnte kein Flugzeug mehr landen. Die Piste und alle Maschinen am Boden waren zerstört.
Foto: Dietrich Stahlbaum 1953
Dietrich Stahlbaum als Dispatcher des 1. BEP (1. Bataillon der französischen Fremdenlegion) bei einem Versorgungsflug in DBP

Mehr hierzu in meinem Roman »Der Ritt auf dem Ochsen oder Auch Moskitos töten wir nicht«:

Ich weiß nicht mehr, wann ich auf die Idee kam, diesen Roman zu schreiben. Nach meiner Rückkehr 1954 in Deutschland, dann während meines Aufenthaltes in Stockholm, wo ich in einer internationalen Buchhandlung gearbeitet habe, und bis zum Beginn meines Ruhestandes 1990 war ich neben meinen beruflichen Tätigkeiten politisch aktiv, so dass an eine Aufarbeitung meiner Vergangenheit nicht zu denken war. 1995 war ich dann soweit. Das Manuskript war 1999 fertig, 2 000 erschien die Printausgabe des Buches.
In Erinnerung geblieben waren die reißerischen, Legion und Legionäre diskriminierenden Berichte fast aller Medien der 50er Jahre und die dementsprechenden Reaktionen in der Bevölkerung. Auch heute wird jedes Mal, wenn einer von uns in Deutschland straffällig geworden ist, erwähnt, dass es sich um einen Ex-Legionär handelt. Deshalb habe ich die Thematik des Romans zeitdokumentarisch erweitert.
Das Ergebnis: ein Roman, subjektiv-autobiografisch im Kontext der historischen Ereignisse, mit großen Teilen, die ich selber so erlebt habe, wie beschrieben (besonders im 1. Teil). Anderes ist Fiktion.
Renard ist weitgehend identisch mit Dietrich Stahlbaum. Miroslav, mein „zweites Ich“, ist eine Kunstfigur (2. + 3. Teil). Alles, was hier erzählt wird, ist damals – irgendwo in Indochina – passiert. Nur die Roman-Handlung ist komponiert und komprimiert worden. Der 3. Teil wird von einer dritten Person erzählt. Dies entspricht der buddhistischen Lehre vom Ich-losen Selbst.
Zum Titel: Der Ritt auf dem Ochsen, das ist die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst. Der Ochse ist sein ICH, das Ego. Der 2. Teil des Titels meint den buddhistischen Pazifismus, der alles Leben einbezieht.

Der Roman besteht aus einer Fülle von Ereignissen, Fakten und Gedanken, Fiction and Non Fiction. Er ist vielfältig und komplex. Er ist ganzheitlich konzipiert. Alles in diesem Roman hängt von und miteinander zusammen. Die Printausgabe ist vergriffen, eine eBook-Ausgabe gibt es seit 2012.

http://www.bookrix.de/_ebook-dietrich-stahlbaum-der-ritt…/

Fotos: © Dietrich Stahlbaum 1954

Tiens, bien fou! Zum Jahrestag der Schlacht von Dien Bien Phu vor 65 Jahren

Als wir hier [mit unseren Fallschirmen, dst.] gelandet waren und uns versammelten, da drüben am Fluss, ging einer von uns auf den kleinen Hügel und schaute sich um. Er kam zurück und sagte: „Tiens, bien fou!“ Seitdem heißt dieses Plateau nicht mehr Điện Biên Phủ.

Der Capitaine [des 1. Bataillons der französischen Fremdenlegion] hat keine Miene verzogen, als Yang bei einem Befehlsempfang statt Điện Biên Phủ ´Tiens, bien fou!` sagte. Er hat den kleinen Unterschied in der Aussprache wahrscheinlich gar nicht bemerkt.

(„Tiens, bien fou!“ − die Aussprache ist, bis auf das `T`, dieselbe − bedeutet, aus dem Französischen übersetzt: „Sieh da − ganz schön verrückt!“)

Vom 20. bis 23. November landeten 2200 französische Fallschirmjäger in Điện Biên Phủ. Sie sollten die Việt Minh, die Truppen der vietnamesischen Liga für die Unabhängigkeit Vietnams, in dieses Tal, 300 km Luftlinie westlich von Hanoi, locken und in einer den Indochinakrieg entscheidenden Schlacht vernichten.

Der Legionär hatte die Aussichtslosigkeit dieses Unternehmens sofort erkannt und ironisch kommentiert. Die französische Militärführung unter General Navarre hingegen hatte die Intelligenz und die strategischen Fähigkeiten des ehemaligen Lehrers Võ Nguyên Giáp völlig unterschätzt. Die Schlacht endete am 7. Mai 1954 mit einem Desaster und führte noch im selben Jahr zur Aufgabe der französischen Kolonialherrschaft in Ostasien. [Nach Wikipedia: Die Schlacht um Dien Bien Phu, französischen und vietnamesischen Quellen, sowie Berichten von Legionären und Offizieren der Legion]

Ich war als Dispatcher in der Stabskompanie des 1. BEP mitgeflogen und am 5. und 6. Dezember 1953 bei der Truppe.

Die Schlacht – sie begann am 13. März 1954 mit Artilleriefeuer der Vietminh – habe ich nicht mehr miterlebt, weil meine Dienstzeit in Vietnam am 15. März 54 abgelaufen war. Mehr hierzu und Kapitel aus meinem zeitdokumentarischen, autobiografischen Roman »Der Ritt auf dem Ochsen oder Auch Moskitos töten wir nicht« →  https://stahlbaumszeitfragenblog.wordpress.com/2015/11/15/7-mai-1954-dien-bien-phu-die-schlacht-die-zur-beendigung-der-franzoesischen-kolonialherrschaft-in-ostasien-gefuehrt-hat/

Die Printausgabe des Buches (Aachen 2000) ist vergriffen, Neuauflage seit I/2012 als eBook →  http://www.bookrix.de/_ebook-dietrich-stahlbaum-der-ritt-auf-dem-ochsen-oder-auch-moskitos-toeten-wir-nicht/

 

Zwei Legionäre in einem „Freudenhaus“

Sétif, Algerien 1950. Die Sonne ist hinter dem Berg weggetaucht, und ein kühler Wind weht herüber, vermischt sich mit der Backofenwärme, ausgestrahlt von den Hauswänden, den Steinplatten des Bürgersteigs und der Asphaltstraße. Die Gleichzeitigkeit von heiß und kalt. Später werden wir in einem Araberdorf mit glühendem Gesicht vor offenem Feuer sitzen, während uns die Nachtkälte den Rücken heraufkriecht.

Wir [Reinhard und Miros] bezahlen unseren Kaffee und gehen ins Bordell. Ein altes, graues Gebäude, mehrgeschossig, in einer schmalen Seitenstraße. Eine große Holztür, gefertigt vor vielen Generationen, mit Klappfenster und Klopfer. Der Lack ist rissig, teilweise abgeplatzt, am Klopfer und am Türgriff abgenutzt.

Miros hat es wohl eiliger als ich und betätigt den Klopfer. Das Türfenster wird aufgeklappt. Es erscheint ein breites, ältliches Gesicht. Es ist maskenhaft geschminkt. Eine Araberin. Sie mustert uns wie ein Unteroffizier beim Abendappell. Das Fenster klappt  wieder zu. Jetzt wird die Tür geöffnet, und wir dürfen eintreten.

Vor uns ein langer, hoher Korridor mit kahlen, weißgekalkten Wänden und vielen Türen. An jeder Tür… Da werden wir von der alten Araberin, die auf einem Rohrstuhl an einem kleinen Tisch sitzt, mit einer Handbewegung auf einen Blechteller aufmerksam gemacht. Sie nennt einen Betrag, den ich vergessen habe. Wir blättern ein paar Scheine hin und wollen schnurstracks in den Korridor.

„Messieurs, ici!“ Ihre Hand weist auf die nächste Tür, die erste gleich hinter ihr. Diese öffnen wir und identifizieren, noch bevor wir eingetreten sind, den scharfen Geruch eines Desinfektionsmittels als denselben Stoff, mit dem wir die Latrinen gesäubert haben.

An einem Holztisch, roh gezimmert und blankgescheuert, steht ein Mensch in weißem Kittel und herrscht uns an: „Schwänze raus! Vorhaut, wenn vorhanden, hochziehen!“

Wir folgen diesem Befehl, ohne an eine andere Möglichkeit überhaupt zu denken; und der Mensch, ein Sanitäter unseres Regiments, betrachtet die beiden Penisse, nickt zustimmend, taucht einen Holzspachtel in einen großen, weißen Keramiktopf, schmiert uns eine Salbe auf den Zeigefinger und befiehlt: „Einreiben!“

Als dies geschehen, langt er in einen hohen Pappkarton voller Präservative und entläßt uns jeden mit einem dieser Gummi und den Worten: „So, jetzt könnt ihr feuern! Oder seid ihr katholisch?“ Sein Grinsen verrät uns, daß diese Frage nicht ernst gemeint ist.

Bei vollem Bewußtsein sind wir erst wieder auf dem Korridor, wo an jeder Tür eine Frau steht oder auf dem Boden hockt: Araberinnen, ein paar Europäerinnen, fast jeden Alters, Dunkelhäutige, Hellhäutige, alle sehr sparsam bekleidet, einige in schwarzen, andere in dunkelroten Dessous, dazwischen in weiße, durchsichtige Schleier Gehüllte, behängt mit Fuß- und Armreifen und silbernen Ketten um Stirn und Hals, daran münzenartige Plättchen, die bei jeder Bewegung klimpern.

Wir gehen an erwartungsvollen, einladenden Blicken vorbei und lassen uns schließlich von zwei Europäerinnen hineinziehen in ihre Kammer. Auch hier der uns bekannte Geruch, mit dem wir es zehn Tage lang zu tun hatten, oder nur die Erinnerung daran, und auf der Haut der beiden Frauen ein offenbar billiges Veilchenparfüm.

Die Lust ist uns vergangen, noch bevor wir uns ausgezogen haben. Dies wird uns, nachdem wir es erklärt haben, nicht übel genommen: „Das kommt hier öfters vor.“

Gemeinsam trinken wir eine Tasse arabischen Tee und erzählen uns unsere Geschichten, bis an die Kammertür geklopft und an die Zeit erinnert wird.

Die beiden Frauen, wie alle Europäerinnen in algerischen Bordellen natürlich „aus wohlhabenden Familien“, waren bei einem Afrikatrip hier gelandet und besaßen nichts mehr als ihre Haut. Nun sparen sie für ein anderes und besseres Leben, das wohl ein Traum bleiben wird; es sei denn, ein alter, ausgedienter Legionär holt sie hier heraus und tut sich mit ihnen zusammen.

[Aus: Der Ritt auf dem Ochsen oder auch Moskitos töten wir nicht, Aachen 2000 und eBook 2012]

Klinkenputzer in der Drückerkolonne oder Als Reinhard Mohn begann, einen der mächtigsten Medienkonzerne aufzubauen

1954, als ich aus der Fremdenlegion nach Deutschland zurückgekehrt war, suchte ich einen Job. Das war dank der deutschen Presse, die uns Veteranen samt der Legion in Verruf gebracht hatte, eine fast aussichtslose Unternehmung. Man nannte uns abschätzig Söldner, ohne daran zu denken, dass jeder Soldat Sold empfängt und kein Gehalt und dass der englische Begriff soldier lautet. Und wer als ein solcher in fremden Diensten stand oder gestanden hat, galt bei deutschen Unternehmern, Kaufleuten oder Handwerksmeistern, die nun niemanden mehr hatten, vor dem sie stramm stehen konnten, als vaterlandsloser Geselle.

Mein Erspartes war fast aufgebraucht und ich schlenderte rat-, ziel- und wohnungslos durch die Straßen einer Großstadt. Vielleicht war es Zufall, vielleicht Absicht: Neben mir hielt ein nagelneuer VW Bulli, zehn bis zwölf junge Menschen stiegen aus und verteilten sich straßenweise auf das Viertel; jeder trug die gleiche kleine Aktentasche unterm Arm. Einer der Insassen des Busses saß noch am Steuer. Er winkte mich zu sich heran und fragte, ob ich aus dieser Gegend sei. Ich war es nicht, und ihm schien dies Recht, denn er wollte mich, wie man so schön sagt, von der Straße weg engagieren. Er habe einen lukrativen Job anzubieten. Wenn ich fleißig wäre und geschickt, könne ich binnen kurzem ein Vermögen machen.

„Wir verkaufen eine Idee“, sagte er, „nicht irgendeine Ware. Sondern eine Idee! Wenn Sie mitmachen wollen, kommen Sie heute Abend in das Lokal »Zum lustigen Seemann« in der …straße.“ (Den Namen habe ich vergessen) „Wir beginnen um 19 Uhr 30. Eine kleine Verköstigung ist dabei.“

Pünktlich um 19 Uhr 30 stellte sich ein Herr in grauem Straßenanzug den etwa 25 Zuhörern als Beauftragter der Firma Bertelsmann vor und hielt einen Vortrag über den Verkauf einer Idee und die großen Erfolge bei der Umsetzung derselben. Nach einer halben Stunde meldeten sich acht der Zuhörer, die sich entschlossen hatten, beim Verkauf dieser Idee mitzuwirken. Und schon wurden wir acht eingeladen, an einer kurzen Schulung teilzunehmen. Dabei erfuhren wir von dem Herrn im grauen Straßenanzug, dass der Boss vor kurzem von einer Managertagung aus den USA zurückgekehrt sei und eine neue Verkaufsmethode eingeführt habe, und wir erfuhren, wie diese Methode angewendet wird. Wer es sich zutraue, „möchte sich bitte in die Liste eintragen!“

Ich habe mich ohne besseres Wissen ebenfalls in „die Liste“ eingetragen und am nächsten Morgen an der Ecke eines anderen Stadtviertels mit anderen Klinkenputzern getroffen. Zu zweit sind wir losgegangen, treppauf treppab, von Wohnung zu Wohnung, jeder mit der gleichen kleinen Aktentasche unterm Arm. Das Sprüchlein, das wir alle gemeinsam eingeübt und dann vor jeder Wohnungstür, die geöffnet wurde, einzeln aufgesagt haben, lautete:

»Guten Tag, Herr.. (oder Frau…) ! Ich komme im Zuge einer allgemeinen Meinungserforschung zu Ihnen. Wir möchten Sie nicht belästigen, aber sicherlich können Sie einige Fragen beantworten, die von großem Interesse sind. Erlauben Sie, dass wir hereinkommen?«

Die meisten der Hausfrauen haben es uns erlaubt, so dass wir eine Mappe auf ihren Küchen- oder Wohnzimmertisch legen und fortfahren konnten:

»Haben Sie Kinder? (oder Enkelkinder?) Dann haben Sie doch sicherlich die entsetzliche Geschichte von dem Jungen gehört, der einen anderen Jungen gehängt hat, weil er einmal sehen wollte, wie das ist, wenn einer aufgehängt wird. Der Junge, das haben wir inzwischen erfahren, hat lauter Schundliteratur gelesen, diese Zehnpfennig-Heftchen, wissen Sie?«

Wir schlugen die Mappe auf und zeigten die Zeitungsberichte über diesen Fall.

»Nun unsere Frage: Sollte man den Kindern nicht bessere Bücher geben, Bücher, die noch viel spannender sind und die nicht zu solchen schrecklichen Taten verführen?«

Die Antwort war jedes Mal eindeutig, so dass wir geradezu auf das Ziel zusteuern konnten:

»Das können wir Ihnen bieten…«

Wir blätterten die Seiten der Mappe mit den Kinderbüchern auf und fragten nach dem Alter der Kinder.

»Sehen Sie, dies zum Beispiel…«

Oder, wenn es keine Kinder oder Enkelkinder gab, wurde die Mappe mit den Erwachsenenbüchern aufgeschlagen:

»Da haben wir auch etwas für Sie! Schauen Sie!«

So haben wir Haus für Haus, Wohnung für Wohnung abgeklappert, uns den Mund fusselig geredet und „die allgemeine Meinung erforscht“. Wahrlich, eine grandiose Idee.

Immerhin, die wenigen Vertragsabschlüsse für ein Abonnement des Bertelsmann-Leseringes, die wir abends abgeliefert haben, verhalfen in der Summe dem Kolonnenführer, zu überleben, und dem Verlag, in deutschen Haushalten Fuß zu fassen. Ich aber hatte nicht die Absicht, mit solchen kleinen, fiesen Tricks groß zu werden, und schlenderte drei Tage später wieder rat-, ziel- und wohnungslos durch die Straßen.

(2002)

Araberinnen

Im März 1951, vor unserer Einschiffung für die Überfahrt nach Vietnam, in Oran, einer algerischen Hafenstadt, saßen ein Legionskamerad und ich auf der Strandpromenade, als zwei Araberinnen vorbeikamen, verhüllt. Sie trugen eine Burka. Sie blickten kurz zu uns herüber und kicherten. Dann blieben sie stehen, drehten sich noch einmal um, lüfteten ihren Gesichtsschleier und lächelten. Wir winkten ihnen zu. Sie liefen lachend davon.

Fotoserie «Bilder aus Vietnam 1951-54»

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Hanoi 1951 – 54

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Französische Stellungen in Dien Bien Phu im Dezember 1953                  (Fotos: © Dietrich Stahlbaum)

Bilder aus Vietnam 1951-54
Teil I: Menschen, Landschaften
Teil II. Der Krieg
http://www.mx-action.de/dietrich/Einleitung_und_Themen/Bilder_aus_Vietnam_1951_-_1954/bilder_aus_vietnam_1951_-_1954.html

Startseite der Homepage ZEITFRAGENFORUM → http://www.dietrichstahlbaum.de

 

 

 

Menschenrechtsverletzungen bei der Fremdenlegion. Leserbrief eines Ex-Legionärs

…an das Medienhaus Bauer, Marl, zu „Schikane-Fotos aus der Fremdenlegion“ vom 24. Februar 2009:

Ich kann bestätigen, dass in der französischen Fremdenlegion Schikanen, die als Menschenrechtsverletzungen bezeichnet werden müssen, üblich waren. Das habe ich 1949/50 selber erlebt und in meinem autobiografischen Roman Der Ritt auf dem Ochsen oder Auch Moskitos töten wir nicht beschrieben. Ausschnitte daraus:

(Ich habe den Originaltext für den Leserbrief gekürzt. Der volle Text hier am Schluss. *)

Heute muss sich der Legionär verpflichten, die Menschenrechte stets und überall zu achten und seinen Auftrag „im Respekt der Gesetze, Kriegsgebräuche, internationalen Abmachungen und wenn nötig, im Einsatz seines Lebens“ auszuführen.

Im RZ-Bericht heißt es: „Jeder Rekrut erhält für die Dauer seiner Dienstzeit eine neue Identität.“ Das suggeriert, Legionäre seien durchweg Kriminelle und benutzen diese Truppe, um unterzutauchen. Laut Webseiten der Legion wird der Rekrut „eventuell mit einer neuen Identität ausgestattet“ und „kann der Legionär baldmöglichst unter seiner reellen Identität (…) dienen. Sie kann nach einem Dienstjahr (…) beantragt werden. “

Ich selber habe von Anfang an –  1949 bis 54 –  unter meinem richtigen Namen gedient, wurde in Vietnam Pazifist und rate von jeglichem Militärdienst ab.

Am 26.02.09 mit dem Romantext in den Zeitungen des Medienhauses Bauer, Marl, erschienen.

Führungszeugnis
Führungszeugnis

* Miros und ich hatten Brieffreundinnen in der Bretagne, und so arglos, wie wir waren, ließen wir uns ihre Post an die Adresse dieser Familie in Sétif senden und am Kasernentor abgeben.

Eines Mittags wurden wir in das Büro des Sicherheitsoffiziers befohlen. Mit knurrenden Mägen mußten wir fast zwei Stunden lang auf dem Korridor warten, stehend, bis wir nicht mehr konnten und uns auf den Boden hockten. Es war siesta, Mittagspause, und erst als diese zu Ende war, wurden wir hereingerufen. Auf dem Tisch des Offiziers lagen zwei Briefe, geöffnet, harmlose Briefe, wie wir fanden, als sie uns ausgehändigt worden waren. »Warum haben Sie diese Briefe an eine Privatadresse und nicht hierher schicken lassen? Wissen Sie nicht, daß dies verboten ist?«
Ich kann mich nur noch daran erinnern, daß Miros geantwortet hat: »Die Post ist wochenlang unterwegs, bis sie uns hier in der Kaserne erreicht. Was wir über diese Privatadresse bekommen, das ist in wenigen Tagen da.«

Wir wurden bis zum späten Abend verhört, am nächsten Tag zu zehn Tagen Arrest verurteilt, kahlgeschoren und in einem Keller eingeschlossen. Wir haben nie erfahren, ob eine zivile Briefkastenadresse wirklich verboten war.

Morgens gegen fünf, die Nacht war noch nicht gewichen, und auf dem Kasernenhof regte sich nichts, hörten wir nebenan eine Stimme und das Geräusch eines Riegels, der auf- und wieder zugeschoben wurde. Wir traten ans Fenster, es war vergittert, und hörten das Schnauben eines Igels. So hörte es sich an. Dann sahen wir drei Legionäre. Sie robbten an uns vorbei. Ihnen war ein mit schwerem, sperrigem Inhalt gefüllter Rucksack auf den Rücken geschnallt. Wir hörten wieder die Stimme, eine gedämpfte Kommandostimme, und sahen die massive Gestalt eines Sergent-Chefs. Er trieb die Robbenden an und hatte offenbar keine Skrupel, da und dort auch mit einer Stiefelspitze nachzuhelfen. Bald lagen die drei platt am Boden und keuchten. Konnte uns das nicht passieren? Wir hatten Angst.

Als zum Wecken geblasen wurde, waren die drei wieder in ihrer Zelle. Von älteren Legionären erfuhren wir: es waren Ziegelsteine, die in den Rucksäcken für kaputte Rücken sorgten; dieser Sergent-Chef sei ein gefürchteter »Spezialist für Schikanen«, und die Offiziere »sehen weg«, das heißt, sie schliefen noch, wenn er sich, besonders an jungen Soldaten, abreagierte.

Alle Gefangenen mußten nun antreten, und wir beide durften bekotzte und beschissene Latrinen säubern, zehn Tage lang. Wir waren in etwa zwei Stunden damit fertig, denn wir hatten keine Lust, diese Tätigkeit zu verlangsamen, wie dies andere bei anderen Tätigkeiten taten, zum Beispiel beim Küchendienst. Wir wurden wieder eingeschlossen. [S. 17. f.]

Am nächsten Tag, beim Mittagsappell, steht der Sergent-Chef wie immer breitbeinig in dem kleinen, runden Schatten einer Palme und verliest Befehle. Er hat sein Käppi halb über das Gesicht gezogen. Uns hingegen schießen die heißen Sonnenstrahlen ins Gesicht. Es fällt uns schwer, still und stramm zu stehen. Wer sich bewegt, wird herausgerufen, muß sein Käppi abnehmen, dicht an die Hauswand treten, das Käppi neben sich auf den Boden legen, sich umdrehen und mit der Nase die Wand berühren. Ihm wird ein Bogen Papier vor die Nase geschoben, und es wird »Festhalten!« befohlen. »Hände auf den Rücken! Füße zusammen!« Mit der Nase wird das Papier an die Hauswand gedrückt. Unendlich lang wird hierbei die Zeit.
Wer schwarz zu sehen beginnt und schließlich das Bewußtsein verliert, wacht bestenfalls wie aus dem Wasser gezogen wieder auf, manchmal erst in der Krankenstube. Man hat ihm einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen.

Auf dem Kasernenhof gab es kein Thermometer. Aber es gab auch niemanden, bei dem wir uns hätten mit Erfolg beschweren können. Dem Einfallsreichtum der Ausbilder beim Bemühen, uns, wie es in einer Bataillonsorder hieß, »den Erfordernissen einer Elitetruppe anzupassen«, waren keine Grenzen gesetzt.

*

Vor unserer Einschiffung nach Indochina sollen wir »scharfgemacht« werden. So sagte es der Sergent-Chef, als er beim nächsten Mittagsappell ein Manöver, an dem mehrere Bataillone, auch Legionäre anderer Garnisonen, algerische und marokkanische Infanteristen, sowie eine französische Panzereinheit teilnehmen sollen, ankündigt. Mit dem Fallschirm springen wir über dem Atlasgebirge ab. Tagelange Märsche durch Halbwüsten und Steppen bei extremer Hitze und kalten Nächten. Wir schleppen uns, unsere Waffen und unsere Verpflegung über einen hohen, nackten Berg, der ein weites Tal umschließt: das letzte Ziel des Manövers. Vulkangestein und Staub. Aus allen Richtungen schlängeln sich gleich Herden nahezu erschöpfter Schafe die Kolonnen talwärts, vorbei an den Felsen und Falten des Berges. Wer zusammenbricht und liegenbleibt, wird am Schluß der Kolonne aufgelesen und auf einen Mulikarren geladen.

Auf unserem ist kein Platz mehr. Wir sind am Ende unserer Kräfte, ausgedörrt wie diese Landschaft. Die Wassersäcke sind leer. Die Hitze müßte sich im nächsten Augenblick mit einer gewaltigen Explosion entladen.

In der Talsohle, dort endet eine asphaltierte Straße, soll ein Heerlager eingerichtet werden und am Abend eine Feldparade stattfinden.
Vorn an der Spitze des Bataillons tippelt der kleine, agile Capitaine, unser Kommandeur. Damit er nicht allein unten ankommt, laufen rechts und links neben unserer Kolonne aufgeregte Unteroffiziere hin und her und treiben die zähe Masse fast erschöpfter Menschen an. Ich ziehe den Kopf ein, so gut es geht, um nicht aufzufallen, und stolpere über die eigenen Füße. Sie wollen mir nicht mehr gehorchen. Der Sergent-Chef hat es gesehen. Vielleicht nimmt er mir das Maschinengewehr ab und läßt einen anderen die schwere Waffe tragen oder trägt sie selbst. Das ist alles, was ich noch denken kann. Aber er nimmt meinem Nebenmann den Sack voller Brote von der Schulter und hängt ihn mir um. Das letzte, was ich sehe, ist sein Grinsen. Ich falle in ein schwarzes Nichts, wache, auf dem Rücken liegend, kurz auf, und in dieser Minute äußerster Wachheit sage ich zu mir: Wenn du jetzt nicht aufstehst, stehst du nie mehr auf!

Ehe sich das Herz ganz zusammenzieht, bin ich wieder auf den Beinen, taumele wie ein angeschossenes Tier im Kreis, gehe ein paar Schritte, spüre, wie der Kreislauf sich reguliert, und sehe, daß Miros den Brotsack vom Boden aufhebt und sich umhängt und auch mein Maschinengewehr schultert. Der Sergent-Chef hat dies scheinbar unberührt mit angesehen, sagt dann aber: »Das war wohl zu viel.«

In der Einsamkeit dieses beinahe tödlichen Augenblicks wurde mir bewußt: In solchen Momenten gibt es niemanden, der dir helfen kann, keinen Menschen und keinen Gott. Du mußt dich selber aus dem Sumpf herausziehen.

Der Himmel explodierte, und es ergossen sich gewaltige Wassermassen ins Tal. Sie verwandelten sich in Ströme von Schlamm und Gestein. Wir hatten das Tal erreicht, standen bis zu den Knien in der Pampe und sollten hier unsere Zelte aufbauen. Irgendwie haben wir das dann auch geschafft.
Am Abend fand die Parade statt. Allerdings brauchten wir nicht zu laufen. Wir wurden auf Lastwagen, die unsere Seesäcke mit den Paradeuniformen und den weißgestrichenen Gamaschen mitgebracht hatten, an einem General und seinen Stabsoffizieren vorbeigefahren, in eben diesen Paradeuniformen mit den weißen Gamaschen und einem frischbezogenen Képi blanc. Vorher wurde uns beim Umkleiden im LKW Akrobatik abverlangt: an der Felduniform und an unseren Händen klebte halbgetrockneter Schlamm.

Es spielte keine Kapelle. Diese war im Schlamm steckengeblieben, mit allen Panzerfahrzeugen, die sie begleitet hatten, und man wartete, etwa fünfzehn Kilometer von uns entfernt, auf Bergungsfahrzeuge. General und Stabsoffiziere standen auf einer Tribüne aus rohem Holz. Sie und wir sahen voneinander nicht viel mehr als Umrisse. Denn längst war die Nacht hereingebrochen, und es begann, als der Regen schlagartig, wie er gekommen war, aufhörte, aus allem Gestein, das nicht vom Schlamm überzogen war, zu dampfen.

Da wir beide gelernt hatten, beim Exerzieren auf dem Kasernenhof aus voller Kehle Befehle zu erteilen, wurden Miros und ich nach unserer Ausbildung zum Caporal befördert. [Printausgabe S. 21 ff.]

Der Ritt auf dem Ochsen oder Auch Moskitos töten wir nicht, Aachen 2000, Printausgabe vergriffen, jetzt als eBook → http://www.bookrix.de/_ebook-dietrich-stahlbaum-der-ritt-auf-dem-ochsen-oder-auch-moskitos-toeten-wir-nicht/

Von blog.de (25. 02. 2009) übernommen.
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Stürme über dem Mittelmeer. Der „Badewanneneffekt“

Ich habe ihn zwei Mal erlebt: bei einer Schiffsfahrt von Algier
nach Port Said (Suezkanal) im März 1951. (Weiter ging`s nach Nordvietnam):

«Jetzt sitzen wir in langen Reihen auf unseren Seesäcken vor
dem Bauch eines dicken Schiffes, das in Algier an der Mole vor
Anker liegt, und frösteln. Es ist die Pasteur, 30450 BRT.

Unser verdünntes Blut soll uns die Anpassung an das Tropenklima
erleichtern. Hier aber weht eine kühle, steife Brise vom Meer
herüber. Salzige Brecher klatschen auf die Mole und hinterlassen
weiße Ränder an der Mauer und auf dem Pflaster.

Bei so vielen Menschen, ich schätze achthundert bis tausend,
die auf ihre Einschiffung warten, ist immer jemand dabei, der
Bescheid weiß; und so erfahren wir, daß ein schwerer
Wintersturm acht Tage lang das Mittelmeer aufgewühlt und sich
inzwischen gelegt hat. Was wir sehen, sei der „Badewanneneffekt“:
hohe, spitze Wellen noch viele Tage nach dem Sturm. Sie erzeugen
auch den Wind, der uns frösteln macht.

Es wird Abend. Das Schiff ist hell erleuchtet. Ich weiß nicht,
wie viele Kabinenfenster und Bullaugen es sind. Überall brennt
Licht, als seien die Fahrgäste, die an Bord erwartet werden,
verwöhnte Touristen, betuchte Weltenbummler mit zwanzig
Koffern und nicht frisch ausgebildete Legionäre und Soldaten
der Kolonialtruppe mit kleinem Sold, ihre Unteroffiziere und
Offiziere, diese allerdings mit großen Holzkisten, die eben an
Bord getragen werden. Der Mann neben mir, ein älterer
Legionär, der bereits drei Jahre lang in Indochina war, sagt mit
todernster Stimme: „Die haben ihre Särge immer dabei. Ich
habe einmal in Oran löschen geholfen und mich gewundert,
daß die Särge der Offiziere viel schwerer sind als die anderen.
Es waren ja alle Zinksärge, und die sahen alle gleich aus.“

Obwohl wir neugierig zuhören, bricht er das Gespräch ohne
weitere Erklärungen ab und unterhält sich mit einem Sergent.
Es kommt Bewegung in die auf ihren Seesäcken sitzenden
Soldaten. Kommandos. Unsere Einschiffung beginnt.
Es ist Nacht geworden. Die Pasteur soll in aller Frühe ablegen.
Im Unterdeck, in einem der großen Schlafsäle, wird uns ein
Platz für die nächsten einundzwanzig Nächte zugewiesen. Hier
unten ist es mollig warm. Die meisten von uns fallen erschöpft
auf die harten Pritschen. Schon hat uns der Schlaf übermannt.
In das leise Summen der Schiffsaggregate mischen sich
menschliche Geräusche: das Atmen, Schnarchen und Furzen
von Hunderten, die nun nach Ostasien transportiert werden, als
Kanonenfutter einer Kolonialmacht.

Aber solche Gedanken lagen uns damals noch fern. Miros, der
Philosophie studieren wollte, konnte, ebenso wie ich, nicht
erkennen, daß Philosophie etwas mit dem täglichen Leben zu
tun haben könnte und sollte und daß andererseits das tägliche
Leben, also auch unseres hier, etwas mit Philosophie zu tun
haben könnte und sollte. Für uns waren es zwei Welten, eine
konkrete und eine abstrakte, die Sinnen- und die Gedankenwelt.
Und zwischen diesen beiden Welten konnten wir hin- und
herpendeln, so daß wir uns entweder auf dem einen oder auf
dem anderen Ufer befanden.

Jetzt befanden wir uns an Bord eines großen Schiffes und
ahnten noch nicht, daß es ein sehr schwankender Boden sein
sollte.

Als ich aufwachte, zitterte das Schiff am ganzen Leibe.
Mahlende Geräusche, die Getriebe der Maschinen. Sie treiben
die beiden Schrauben an, die sich durch das Wasser winden und
das Schiff bewegen. Das Vibrieren des Schiffskörpers überträgt
sich auf unsere Körper. Wir sind zu einem Teil des Schiffes
geworden.

Wir legen ab, schieben uns seitwärts. Das Zittern hört auf, und
nun geht die Fahrt aus dem Hafenbecken heraus aufs offene
Meer. Ich bin an Deck gelaufen und stehe jetzt an der Reling.
Die Sonne steigt glühend rot aus dem Meer. Vom Minarett der
großen Moschee ruft der Muezzin zum Gebet. Es ist wie ein
Klagegesang. Wie ein Abschied und eine Begrüßung zugleich.
So empfinde ich es.

Die Wellen türmen sich hoch auf, überschlagen sich, vergischen,
und schon wächst aus dem Wellental die nächste Woge. Am Bug
wälzen sich Brecher über das Deck. Ein rotes Seil,
querüberdeckgezogen, soll uns daran hindern, daß wir nach
vorn unsere Neugier befriedigen gehen. Wir sollen nicht auf
diese Weise unser Leben riskieren.

„Ein über Bord gegangener Legionär ist auch für den
französischen Staat nichts wert“, meint einer, der mit bleichem
Gesicht neben mir steht, sich erbrechen will und nichts im
Magen hat.

Jetzt sehe ich, das Schiff schiebt sich nicht nur nach vorn,
sondern es neigt sich auch gemächlich zur Seite, erst zur einen,
dann zur anderen und wieder zurück. Ich spüre es nicht, aber
ich sehe es am Horizont, an der Linie, die, ebenso wie das
„Auftauchen“ der Sonne aus dem Meer, eine optische
Täuschung ist. Selbst der Augenschein trügt! Keiner stolpert
darüber, daß wir die Sonne vergolden, sie auf- und untergehen
lassen.

Geht nicht vielmehr die Erde auf und unter und nimmt uns
dabei mit? Und dieses Schiff? Ist nicht das einzige, was hier und
jetzt sichere Gewißheit ist, sein ruhiges und beständiges
Wanken? Das Schiff, das uns trägt, es wird selber getragen. Es
schiebt sich durch das bewegte Wasser, teilt es und verdrängt
gewaltige Mengen dieser flüssigen Masse; eine Wunde, die sich
hinter uns immer wieder schließt. Und auf der uns gegenüberliegenden
Seite der Erdkugel hängen die Menschen mit ihren Köpfen nach unten?
Sie bemerken es nicht.

Was ist oben und was ist unten? Du kannst dich allenfalls an
dieser Reling festhalten, an einem Stück Eisen, das immer
wieder von neuem mit Ölfarbe überstrichen worden ist, weil
immer wieder die Ölfarbe abblättert und uns daran erinnert,
aß nichts Bestand hat außer dieser Erkenntnis. Denn eines
Tages wird auch das Eisen, aus dem die Reling besteht,
verrostet und verschwunden sein, und dann hast du nichts
mehr, woran du dich festhalten kannst.

Zum Glück lenkt mich der Hunger von solchen abstrusen
Gedanken ab. Ich gehe in den Speisesaal und sehe, daß es nur
wenige sind, die ebenfalls Hunger haben. Jetzt kann ich mich
einmal sattessen! denke ich und will über einen der langen, für
etwa hundert Soldaten gedeckten Tischen herfallen, da legt sich
der Speisesaal auf die Seite, und alles, was auf den Tischen ist:
Teller, Tassen, Bestecke, Kaffeekannen, baguettes und
Marmeladengläser… rutscht mit großem Schwung zu Boden, aufs Parkett.
Es scheppert. Die Tische richten sich langsam wieder auf und
sind  – leer. Dennoch wird gefrühstückt, wenn auch ohne Kaffee. Es ist ja,
ausnahmsweise, mehr als genug da.

Im Schlafsaal finde ich Miros in einem erbärmlichen Zustand.
Er windet sich auf seiner Pritsche. Aber wie soll ich hier einer
Landratte helfen? In diesem Mief wird ja selbst einem Seemann
schlecht. Ich rede auf ihn ein: „Wenn du hier liegen bleibst,
wirst du ersticken. Komm mit hoch an die frische Luft! Die
wird dir helfen. Da verschwindet deine Übelkeit. Du warst ja
wohl noch nie auf See.“

Ich greife ihm wie einem Betrunkenen unter die Arme. Wir
gelangen an Deck, und ich veranlasse ihn, tief und kräftig aus
und die frische, salzige Luft einzuatmen. Wenn Leichenblässe
keine Farbe ist, dann hat sein Gesicht nun wieder Farbe
bekommen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir in Port Said vor Anker
lagen. Es waren einige Stunden, denn hier am Eingang des
Suezkanals stauten sich die Schiffe. Die 16o km lange
Wasserstraße darf mit höchstens 14 km/h befahren werden.

Das sind etwa zwölf Stunden von einem Ende bis zum anderen.
Ich weiß auch nicht mehr, wie viele Tage die Pasteur von Algier
bis Port Said gebraucht hat.

Die schwere See war hinter uns, der Appetit kam wieder, und
die Köche hatten voll zu tun. Der Speiseplan war auf leichte
Kost umgestellt worden. Es wurden kleinere Mengen serviert
und dementsprechend kleinere Mengen an die Fische verfüttert.
Selbst die leichte Kost war vielen zu viel.»

[Aus: Dietrich Stahlbaum: Der Ritt auf dem Ochsen oder Auch Moskitos töten wir nicht Ein Roman, Aachen 2000 S. 24 ff. Printausgabe vergriffen, jetzt als eBook → http://www.bookrix.de/_ebook-dietrich-stahlbaum-der-ritt-auf-dem-ochsen-oder-auch-moskitos-toeten-wir-nicht/ ]

Und auf der Rückfahrt März/April 1954 auf einem Liberty Ship:
Und auf der Rückfahrt März/April 1954 auf einem Liberty Ship:

http://de.wikipedia.org/wiki/Liberty_Ship .

Einem Vetter von mir, ehemals Kapitän zur See der Reichsmarine, ist nach dem 2. Weltkrieg das Kommando über solch eine Nussschale angeboten worden. Er hat abgelehnt. Er hatte erfahren, dass nicht nur 196 Liberty-Schiffe im Verlauf des Krieges durch Feindeinwirkung verloren gegangen waren, sondern dass etliche bei der Überfahrt von Amerika zur Normandie (Invasion) einfach auseinander gebrochen waren. Er hat mir davon erzählt –1957!

Ein Militärpfarrer

In Frankreich ist 1905 die Trennung von Kirche und Staat gesetzlich verankert und konsequent durchgeführt worden. Die Französische Republik ist demnach ein laizistischer Staat. Trotzdem bedient sich dieser Staat der Kirche. Das haben wir selber erfahren, ein Freund und ich:

Ein Militärpfarrer

Indochinakrieg, 1953

Soldauszahlung in Dien Bien Phu (Nordvietnam) 1953. Dritter von links sitzend der Autor.
Soldauszahlung in Dien Bien Phu (Nordvietnam). Dezember 1953. Dritter von links sitzend der Autor.

Fünfzehn Tage lang an der Spitze der Vorhut, war Miros jeden Augenblick darauf gefasst, auf eine Mine zu treten, oder, als wir den Dschungel durchquerten, in eine Fallgrube zu stürzen und aufgespießt zu werden. Er weigerte sich, wie sonst üblich, diesen gefährlichen Job abwechselnd anderen zu überlassen.
„Hier kann ich wenigstens nicht in einen Hinterhalt geraten“, sagte er nicht ohne Ironie. „Du in der Mitte, beim Stab, bist viel mehr gefährdet als ich da vorn. Und ich habe sogar einen geistlichen Beistand. Der Pfarrer war ein paar Mal vorn bei mir, um, wie er sagte, nach dem Rechten zu sehen. Ein Geistlicher müsse überall präsent sein. Ich habe ihn gefragt, ob es nicht genüge, dass der liebe Gott allgegenwärtig ist. Le bon Dieu, habe ich gesagt.“
„Der gute Gott.“
„Ja. Der Pfarrer hat meine Ironie nicht bemerkt, vielleicht auch nicht bemerken wollen, denn er hat darauf geantwortet: Die meisten von euch wissen das nicht oder denken nicht daran, und ich muss bezeugen, dass niemand vor ihm verloren ist.
Ja was meinst du, was ich dann gesehen habe? Wir machten gerade Pause, und der Pfarrer ging pinkeln. Er öffnete seine Jacke und schob sie weit nach hinten, damit sie nicht bepinkelt werden konnte, und was kam da zum Vorschein? Eine Pistole. Er trägt sie an einem Halfter unter seiner Jacke. Ich habe ihn darauf angesprochen: Sie tragen eine Waffe, Herr Pfarrer?! habe ich erstaunt gesagt. Zuerst schien er überrascht, ich weiß nicht, ob darüber, dass ich es gesehen habe, oder über meine Frage. Dann lächelte er wie gesalbt und sagte: Du bist wohl noch nicht lange in Indochina. Die Viets, diese gottlosen Kommunisten, verstehen keine andere Sprache…
…als die der Waffen.
Ja. Wir sind hier, um dieses Land von ihnen zu befreien. Sie sollten es wissen, Caporal!
Und das ist auch Ihre Aufgabe, Herr Pfarrer?
Unsere, Caporal! Es ist unsere Mission.
Am Ende der Kreuzzüge war alles verloren, Herr Pfarrer, habe ich zu ihm gesagt.

Auf einmal hatte er es sehr eilig, zu verschwinden. Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen.“
„Was soll man dazu sagen, Miros? Ich weiß es nicht. Für dich kann ich nur hoffen, dass der Pfarrer deine defaitistischen Bemerkungen als ein Beichtgeheimnis hütet. Sonst machen sie dir die Hölle heiß.“
„E r hat etwas zu verbergen, nicht ich, Renard.“

[Aus meinem zeitdokumentarischen Roman Der Ritt auf dem Ochsen oder Auch Moskitos töten wir nicht,  Aachen 2000, S. 137]

Die Printausgabe ist vergriffen. Der Roman kann jetzt als eBook auf Ihren Computer oder ein Lesegerät hier heruntergeladen werden.
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Mehr über den Roman: Vita, Leseproben, Rezensionen, Interviews und Fotoserien auf meiner Homepage → http://www.dietrichstahlbaum.de