Noam Chomsky: »Rebellion oder Untergang!: Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation«. Rezension

Noam Chomsky (Jahrgang 1928) ist Sprachwissenschaftler und Philosoph. Und er ist seit den 1960er Jahren einer der schärfsten Kritiker der US-amerikanischen Politik und des globalen Kapitalismus. Er sieht die Welt seit dem 6. August 1945, seit Hiroshima, am Rande eines Abgrunds, infolge der wachsenden Gefahr eines Atomkriegs und der drohenden Umweltkrise – „die beiden Hauptgefahren für unser Überleben“.

Er beruft sich dabei auf Dokumente, die zum Teil 40 Jahre lang geheim gehalten worden sind, und auf Berichte investigativer Publizisten. Danach sind es US-amerikanische Regierungen, die unter dem Diktat US-amerikanischer Konzerne, durch atomare Aufrüstung, Kriege, soziale Ungleichheit, Aushöhlung der Demokratie, durch eine rücksichtlose Umweltpolitik und eine me first-Mentalität die Weltherrschaft anstreben. Ein Moloch. *

Beispiele:

Am 6. August 1945 warf ein US-amerikanisches Kampfflugzeug eine Atombombe auf Hiroschima und am 9. August ein anderes eine zweite Atombombe auf Nagasaki. Dies waren die bisher einzigen Einsätze von Atomwaffen in einem Krieg. Damit begann ein nuklearer Rüstungswettlauf, der unsere Zivilisation und die Menschheit zu vernichten droht und sich nur aufhalten lässt, wenn es gelingt, das andere, friedliche Amerika zu mobilisieren, das mit der Anti-Atombewegung der 68er Jahre das Ende der Atomkraft und der Nutzung fossiler Brennstoffe eingeleitet hat.

Nötig sei, durch „zivilen Ungehorsam“ „andere zur Anerkennung der Tatsache“ zu bringen, „dass es Dinge gibt, die so wichtig sind, dass manche Leute ihretwegen zu allen möglichen Risiken bereit sind und wenn er sie dazu bringt, darüber nachzudenken und dann vielleicht selbst etwas zu tun.“ (Noam Chomsky in »Rebellion oder Untergang«)

Am 6. August „wurde klar, dass die menschliche Intelligenz die Mittel ersonnen hatte, dem 200 000 Jahre alten menschlichen Experiment ein Ende zu machen. Dabei stand von Anfang an nicht ernstlich in Zweifel, dass diese Fähigkeit zur Zerstörung der Welt immer größer werden bald auch in andere Hände übergehen und so die Gefahr einer Selbstvernichtung noch steigern würde.

General Dwight D. Eisenhower berichtete, die Entscheidung zum Einsatz der beiden Atombomben habe am 16. Juli bereits festgestanden. Er hatte Truman davon abgeraten, weil die Japaner schon Kapitulationsbereitschaft signalisiert hätten und die Vereinigten Staaten solche Waffen nicht als erste einsetzen sollten.

Unter den Dokumenten, die Chomsky fand, waren Berichte über nukleare Beinahe-Katastrophen. Chomsky hat sie öffentlich gemacht und damit dazu beigetragen, dass 51 Staaten das Atomwaffenverbot, dessen Vertrag in der UN-Generalversammlung von 122 der 193 Mitgliedsstaaten unterzeichnet wurde, ratifiziert haben – außer Deutschland und alle anderen Nuklearmächte, sie sich den Verträgen verweigern, um sich die Option zu einem nuklearen Erstschlag, zu einem Präventivschlag der NATO offenzuhalten und die Entwicklung immer neuer, immer effektiverer, immer gefährlicherer Waffensysteme zu fördern, Systeme, die sich der Kontrolle entziehen und selbständig agieren können.

 Im Oktober 1962, während der „sogenannten Kubakrise“, wie auch in den 1980er Jahren während der US-amerikanischen »Operation Able Arche« verhinderten US-Offiziere und Offiziere der Sowjetunion, die sich nicht an Vorschriften und Befehle gehalten haben, einen Atomkrieg, der verheerende Folgen gehabt hätte.

Einer von ihnen war Leonard Perroots, ein hoher Offizier der US-Luftwaffe, ein anderer Stanislav Petrov, ein russischer Offizier.

 Und Wassili Archipow, ein russischer U-Boot-Kommandeur, hat sich 1962 während eines der gefährlichsten Momente der kubanischen Raketenkrise als Einziger einem Befehl zum Angriff mit atombestückten Torpedos widersetzt, den zwei seiner Offizierskollegen in einem von US-Einheiten eingekreisten U-Boot erteilen wollten und der wahrscheinlich ebenfalls zu einem tödlichen Atomkrieg eskaliert wäre. (Noam Chomsky)

Chomsky sieht „die Gefahr der atomaren Katastrophe wieder so hoch wie zu Anfang der 1980er-Jahre, als die Regierung unter Reagan die russischen Verteidigungssysteme durch die Simulation von Angriffen einschließlich Nuklearangriffen getestet werden sollten. Damals wurden in Deutschland Pershing-II-Raketen, aufgestellt, die innerhalb von zehn Minuten.“

„Heute steht der Zeiger der Weltuntergangsuhr wieder genau wie zu der Zeit von »Able Archer« auf drei Minuten vor Mitternacht. Grund dafür sind die wachsende Gefahr eines Atomkriegs und die drohende Umweltkrise – die beiden Hauptgefahren für unser Überleben.

Russland und die USA betreiben eine gefährliche Aufrüstung, führen hochgradig provokative Aktionen durch und bauen ihre militärischen Arsenale in raschem Tempo aus. (…)

In Russland und auch sonst überall weiß man, dass das, was hier als »Raketenabwehr« bezeichnet wird, eine Erstschlagwaffe ist. Diese Kriegsgefahr ist zum großen Teil Resultat der NATO-Erweiterung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 25 Jahren, während der Amtszeit von Bush dem Ersten und seinem Außenminister James Baker und, in Russland, von Michail Gorbatschow.

Gorbatschow forderte die Auflösung aller Militärbündnisse, was ja im Fall des Warschauer Paktes auch geschah. Sie sollten durch ein eurasisches Sicherheitssystem ersetzt werden, das sowohl die ehemalige Sowjetunion als auch Westeuropa einbinden sollte. Aber Bush und Baker hatten einen anderen Plan: Die NATO sollte expandieren, während die Sowjetunion zusammenbrach.

Gorbatschow stimmte einer Wiedervereinigung Deutschlands und sogar dem Beitritt Deutschlands zum feindlichen Militärbündnis NATO zu, obwohl Deutschland Russland gleich zweimal in Schutt und Asche gelegt hat.“ (Noam Chomsky)

Prof. Joshua Itzkowitz Shifrinson hat nachgewiesen, „dass Bush und Baker Gorbatschow mit ihren Zusagen bewusst irreführen wollten, um den USA zu ermöglichen, ihre Vorherrschaft nach Osten auszudehnen.“

„Unter Clinton expandierte die NATO noch weiter nach Osten, und zwar bis direkt an die russische Grenze. 2008 und dann noch einmal als Versuchsballon 2013 unter Obama bot die NATO die Mitgliedschaft sogar der Ukraine an, dem geopolitischen Herzen Russlands, das mit diesem durch weit zurückreichende kulturelle Traditionen verbunden ist. Das war ein äußerst provozierender Schritt. (…)

Die Menschheit ist heute mit den entscheidendsten Fragen ihrer gesamten Geschichte konfrontiert, Fragen, die weder umgangen noch aufgeschoben werden können, wenn es eine Hoffnung auf den Erhalt – oder sogar eine Verbesserung – der organisierten Formen menschlichen Lebens auf der Erde geben soll.“ (Noam Chomsky)

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* So hat Karlheinz Deschner die USA genannt. Er hat die Geschichte der USA von ihren Anfängen bis zum 2. Krieg am Golf (1991) kompromisslos dargestellt. Sein Buch DER MOLOCH erschien 1993, die 4., überarbeitete Auflage 2002.

Die eBook-Fassung des Buches, die mir vorliegt, besteht aus Interviews und Passagen aus Chomskys Reden und Vorträgen. Fragen beantwortet er auf verblüffende Weise: relativistisch, in ganzheitlichen Zusammenhängen, mit Scharfsinn und genau. Immer trifft er den Nagel auf den Kopf. Immer hat er – aus seinem jeweiligen Blickwinkel – Recht. Es stimmt, was er sagt. Dennoch ist er bei aller schonungslosen Kritik empathisch und einfühlsam.

Nach der Bedeutung der Linguistik gefragt, sagt Noam Chomsky: Eine der dringlichsten Aufgabe „ist die Erforschung der Sprache, des Geistes, unserer geistigen Aktivitäten. (…) Der Philosoph David Hume (hat) das Studium der menschlichen Natur als die höchste Form der Wissenschaft bezeichnet. Die anderen Wissenschaften sollten dem untergeordnet sein.

Und das ist eine lange Tradition, die bis zum vorsokratischen Orakel von Delphi zurückgeht. Die Botschaft der Priesterin war: Erkenne dich selbst. (…) Erkenne und begreife, was für ein Wesen du bist; alles andere ist daraus nur abgeleitet,

Ich denke, dass diese Botschaft von vor 2 500 Jahren auch für uns wichtig sein sollte.“

Noam Chomsky: »Rebellion oder Untergang!: Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation« Westend Verlag Frankfurt am Main 2021, Taschenbuch 15.00 €, eBook 11.99 €

Heidi Beutin/Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Rezension von Hartmut Henicke

   Dieses Werk des Ehepaares Beutin ist die wichtigste Publikation zum Themenjahr 2018 „Weltkriegsende/Novemberrevolution“. Die Autoren haben es ihren nahestehenden, insbesondere verstorbenen wissenschaftliche Weggefährten gewidmet. Diese Geste bewegt, wenn man das Buch gelesen hat.

    Die Autoren bekennen ausdrücklich, sich dem Thema als Literatur- und Kunsthistoriker anzunähern. Sie tun das auf höchstem theoretisch-methodischem Niveau und gleichzeitig mit faszinierend souveräner literarischer Leichtigkeit. Dieses Buch liest sich so weg. Und es ist anregend, weil so gut nichts offen bleibt. Auch dort, wo wichtige Fragen „nur“ ansatzweise beantwortet oder tangiert werden, hallen als sie dem konzentrierten Leser wie die Reststrahlung des Urknalls als Denkimpulse nach. Auch darin reflektiert sich Kompetenz und Meisterschaft, wie in den souverän das Quellenmaterial tief durchdenkenden Antworten und Urteilen. Ihrer Absicht, die deutschen Intellektuellen im Kontext der Novemberrevolution zu zeichnen werden die Autoren virtuos gerecht. Dieses „Who‘s Who?“ der deuschen Novemberrevolution lässt keine soziale, politische und ideologische Richtung der Kategorie Intelligenz aus. Mit ihren umfangreichen Personendossiers haben Heidi und Wolfgang Beutin einen entscheidenden Teil des historischen Subjekts dieser Revolution und Gegenrevolution definiert, klassifiziert, teilweise meisterhaft psychologisiert, in soziale, politische und kulturelle Zusammenhänge gestellt. Ihre Arbeit hat hohen Quellenwert. Die Auswahl des Zitierten ist treffend wie die Wertung. Das Spannende dieser Studie ist die breite, logisch klassifizierte Differenzierung zwischen Revolution und Konterrevolution aber auch innerhalb der politischen Lager bzw. ideologischen Richtungen. Mit ihren Persönlichkeitscharakteristiken präsentieren die Autoren nicht nur ein breites Spektrum von Ansichten, die den Erkenntnisprozess eines historischen Umbruchs reflektieren, sondern auch Erfahrungen, spontane Gefühle reflektieren. Die Begegnung Rosa Luxemburgs und Tilla Darieux – eine marginale Sekunde im Epochenwechsel während des Innehaltens und doch so bezeichnend für das, was geschah. An dieser Stelle versteht der Leser den Titel des Buches.

   Er hört die „Fanfaren einer neuen Freiheit“ im Hintergrund. Die Beutins vermessen ihren Forschungsgegenstand, die Intelligenz, nicht im Entferntesten mit den ideologischen Rastern, die sich aus der ideologischen Versteinerung nach den Weltkriegsrevolutionen insbesondere seit dem Ende der 1920er Jahre ergaben.

Dieses Buch ist das Elektrokardiogramm der Geisteshaltung im Deutschland des verlorenen Weltkrieges in aller psychologischen und ideologischen Sensibilität und Genauigkeit. Es spiegelt die subjektive Verfasstheit der Menschen dieses Landes, die den Aufbruch in die neueste Moderne antraten, die realen subjektiven Rahmenbedingungen der Erneuerungsalternative. Als Leser getraut man sich nicht einmal den überheblichen Gedanken, die Intellektuellen von den proletarisierten verelendeten Klassen abzuheben, zumal die Autoren eben auch die politisch ahnungslosen Intellektuellen, Künstler, Literaten meisterhaft zeichnen. Andererseits: Diejenigen namhaften bekannten, ach heute wieder vergessenen Persönlichkeiten, die in Beutins Buch den größten Epochenkonflikt des neuen Jahrhunderts reflektieren, waren allesamt keine Durchschnittsmenschen, sondern Denker, Künstler, Moralisten, Literaten, Journalisten, Politiker, Parteifunktionäre, einschließlich der politisch hochgebildeten Arbeiterbewegung, Reagierer auf die spontane Revolte qualifizierter kriegsmüder Matrosen, Soldaten und Proletarier. Diese Literaten, Philosophen, Wissenschaftler und Politiker aller Klassen mussten nicht nur das Geschehen interpretieren, sondern persönliche Entscheidungen treffen. Sie standen vor der epochalen praktischen Gestaltungsaufgabe, aus dem Regimezusammenbruch und der spontanen sich zur Revolution ausbreitenden Revolte eine historische tragfähige Zukunftsalternative zu denken und zu entwickeln, deren Parameter zum einen durch die Siegermächte vorgegeben waren und zum anderen von den Räten der Matrosen, Soldaten und Arbeiter, die gleichermaßen der intellektuellen Führung Deutschlands Angebote machten. Ihnen standen die gegenüber, die mit der alten zusammengebrochenen Welt unterzugehen drohten. Das waren jene unter den gebildet und erfahren Denkenden, die nicht über den Schatten ihrer Werte und Ansichten der Vergangenheit springen konnten. Zwischen Hoffnungen und Ängsten, Humanismus und Hass, Einsicht und Tradition schwankten die großen Geister der Nation, auch der elitären Klassen und Schichten. Harry Graf Kessler, Walter Rathenau, die Gebrüder Thomas und Heinrich Mann, Epochengestalten. Die Autoren benötigen nur Absätze, um dies deutlich zu machen.

   Beutins Arbeitsergebnis zeigt, an einem ungewöhnlich breiten Personenkreis, wie dieser dachte und agierte. Was die Autoren diesbezüglich präsentieren und kommentieren, hat erstrangige Bedeutung für das Verständnis des Missverhältnisses zwischen historisch materialistischer Analytik der kausalen gesellschaftlichen Zusammenhänge und der subjektiv differenzierten in der logischen Konsequenz dahinter zurückbleibenden Wahrnehmung und sich daraus ergebender Handlungsweise. Die Autoren reflektieren bis in die marxistische Linke hinein de facto die Folgen der im wilhelminischen Kaiserreich in den Köpfen seiner intellektuellen Elite gebrochenen Geistesgeschichte. Und auch im marxistisch linken Lager erkennen und benennen die Autoren deren Grenzen. Diese Abschnitte sind so stark, dass darauf näher eingegangen werden muss, auch wenn alle in diesem Buch behandelten theoretisch-methodischen Aspekte eine rezeptive Diskussion verdienen, was in diesem Rahmen nicht möglich ist und deshalb aber anempfohlen wird. Die Jahrhundertjubiläen sind noch nicht vorbei und die Rezeptionsthemen findet man in Beutins „Fanfaren“.

   Die Autoren spiegeln in erster Linie und mit Sympathie die Rationalisten, Idealisten, Illusionisten, Pazifisten und Linken. Und sie sehen diese mit anderen Augen als Volker Weidemann in seinem Buch „Träumer“ nicht als Spinner und konzeptionslose vom Volk zeitweilig geliebte Narren, sondern eben als moralischen Werten und einer humanistischen Ethik verpflichteten Literaten, von denen ohne politisches Herrschaftswissen und ökonomische Analytik nichts anderes verlangt werden kann als Charisma, selbstloses leidenschaftliches Engagement bis zur Hingabe, auch Fehler und Konzeptionslosigkeit. Politik, insbesondere in revolutionären Krisensituationen ist bis zur geordneten arbeitsteiligen Kooperation von neuen Führungskräften und Strukturen eine spontane sich allmählich organisierende vor allem emotionale Aktion. Aus dieser Aktion entwickelt sich aus der Leidenschaft auf der einen und der lähmenden Paralyse auf der anderen Seite erst allmählich die kühl, auch machiavellistisch kalkulierte strategisch-taktische Konzeption auf den sich polarisierenden ideologischen und Interessen gesteuerten Flügeln der Revolution. Den Autoren ist dies klar und wegen dieses Standpunktes bewerten sie die Revolutionsliteraten höher als der Autor der „Träumer“. Worin aber der darüber hinausgehende Wert dieses Buches besteht, ist die sehr akzentuierte Differenzierung der marxistischen Linken. Die Autoren stützend sich dabei auf die Biografie-, und Sachthemen-Experten, wie die Bezugnahmen im Anmerkungsapparat erkennbar machen. Aber in der Kernaussage darf von der Eigenleistung der Autoren ausgegangen werden. Die Charakterisierung der Erkenntnisgrenzen Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs gehört, wie schon zuvor im Falle Kessler, Rathenau, Manns u.a. zu den stärksten erkenntnistheoretischen Leistungen, auch wenn Rosa Luxemburg betreffend, der Rezensent Einwände geltend macht, die sich vor allem auf die bei Eberhard Kolb zitierten „Grundannahmen in der sozialistischen Lehre“ beziehen. Auch wenn Rosa Luxemburg gleichfalls diesen Grundannahmen aufsaß, war ihre Geschichtsauffassung keinesfalls diesem eher Kautskyanischen und russischen Gesellschaftsphilosophieverständnis als dem Labriolas Philosophie der Praxis im Sinne der Feuerbachthesen näher. Wie schwer der Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie, politischer Ökonomie und Politik in der Aktion im Krisenmoment wirkt, erfährt die Menschheit in jedem neuen Konflikt. Dass selbst die theoretisch weitsichtigsten Köpfe in den Momenten versagten, in denen sie sich den Sternen so nahe wähnten, ist vielleicht ein Grund, neu über theoretisch begründeten Pragmatismus oder Machiavellismus nachzudenken. Dass die Gegenrevolution, die in diesem Buch in dieser Hinsicht unterbelichtet ist, was dem keinen wirklichen Abbruch tut, aber immerhin daran gemahnt, dass Lassalle als erster das Problem erkannt hatte, sei hier angemerkt. In diesem Zusammenhang sollen von den vielen theoretisch-methodisch anregenden Fragen nur noch vier aufgegriffen werden sollen.

   Erstens: Problematisch mit Blick auf die faschistische Diktatur, wenn auch nicht ganz abwegig im Hinblick auf die frühzeitige parallele Konterrevolution ist die revolutionstheoretische Interpretation des Staatsrechtlers Hugo Preuß durch die Autoren im Hinblick auf den engeren nationalen Revolutionszyklus in Anlehnung an die Französische Revolution und dessen missverständlicher Hinweis auf die Militärdiktatur als notwendige Zurückführung der radikalen Revolution auf ihr objektives Maß. (S. 35) Im Kontext mit dem nachfolgenden Abschnitt, der „Die Konterrevolution“ thematisiert, ist das einst von Friedrich Engels als allgemeingültig gezeichnetes Revolutionsschema falsch. Denn es gab in der deutschen Novemberrevolution kein radikal verfolgtes utopistisches Ziel, dass durch zeitweilig überhöhte Radikalität durch einen Thermidor auf das objektive Revolutionsziel zurückgeführt werden musste. Im Gegenteil: Selbst Spartakus verfolgte sozioökonomisch wie staatspolitisch mit der Rätedemokratie allein ein konsequent radikaldemokratisches Ziel. Und auch die Rätemacht war keinesfalls a priori eine kommunistische Machtstruktur. Sie wurde von Anfang an, weil situationsbedingt, partiell selbst im bürgerlichen Lager adaptiert. Die Soldatenräte prägten wegen ihrer sozial heterogenen Zusammensetzung ohnehin den klein- und bürgerlichen Charakter der Revolution und mehr noch die rechtskonservative nationale Bürgerrätebewegung eben den nichtproletarischen. Doch allein die verschwindende Minderheit der rätekommunistischen Linken als marginalen Ausdruck revolutionärer Radikalität zu bagatellisieren und damit deren Überbewertung durch die konservative Rechte zur Begründung gegenrevolutionärer Brutalität als hinterhältige Meinungsmanipulation zu bewerten, ist wissenschaftlich nicht korrekt. Von der Spartakusgruppe bis in die USPD hinein und auch über diesen Parteirahmen hinaus, wie die Beutins u.a. mit dem Beispiel Rathenaus zeigen, wurden die „bolschewistischen“ Sowjets tatsächlich als Vorbild bzw. Modernisierungsvariante verstanden. Bremen und Bayern bewiesen, den radikalrevolutionären Charakter des Rätegedankens, wie die Autoren kenntlich machen. Vom Gegenrevolutionären Standpunkt war die Bekämpfung des „Bolschewismus“ deshalb logisch konsequent. Daran ändert die Selbstentmachtung des Zentralrates der Arbeiter und Soldatenräte gar nichts. Auch wenn die deutschen Rätevorwiegend als basisdemokratischer Ansatz bewertet werden, enthalten sie wie die Autoren unter Berufung auf die seinerzeitigen Akteure zeigen, systemveränderndes Potenzial, wie auch die Räterepubliken aber auch der Rätekommunismus im Gegensatz zum Parteikommunismus beweisen. Leider fokussieren sich die Autoren ideologieanalytisch allein auf den Antisemitismus und Rassismus der Rechten. Das Wesentliche war aber die Adaption des Sozialismus in seiner nationalen Mutation.

   Nationalsozialismus ist war der offensive Ausdruck der historischen Defensive. Obgleich der Name Eduard Stadtler auf der Seite der Konterrevolution viermal erwähnt wird, bleibt diese Person als einer der wichtigsten ideologischen Repräsentanten und Aktivisten der Rechten unterbelichtet. Stadtler der Initiator, Agitator und Organisator des Präfaschismus schaffte es nicht zuletzt mit seinen Erfahrungen im revolutionären Russland, den Spitzen der deutschen Wirtschaft 500 Mio Reichsmark für die Kriegskasse der Gegenrevolution abzunehmen. Seine Vorträge und Schriften verdienen als historische Quelle Aufmerksamkeit. Als Inspirator des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hat er wohl die treffendste Charakteristik der von rechts wahrgenommenen Gefährlichkeit der intellektuellen linken Führungskräfte und damit auch des Kräfteverhältnisses von Revolution und Konterrevolution gegeben.

   Zweitens: Die Auseinandersetzung der Autoren mit dem Verratsvorwurf gegen die regierende Führung der Mehrheitssozialdemokratie, denen schon von linken Zeitgenossen ein bürgerlicher Standpunkt zugeschrieben wird, von dem aus sie gar keinen Verrat begehen konnten, scheint in diesem Sinne zwar argumentativ plausibel, ist aber logisch nur eine andere Lesart des Verratsvorwurfs. Denn es war nun einmal die Sozialdemokratische Führung, die ihre eigene programmatisch erklärte „soziale Revolution“ verriet. Theoretisch scheinen auch 100 Jahre danach wichtige Probleme immer noch unklar zu sein, was keinesfalls den Autoren Beutin angelastet werden kann. Berücksichtigt man allerdings das marxistisch induzierte Erfurter Parteiprogramm steht staatsrechtlich dahinter nichts anderes als eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie mit sozialem Charakter, auch sehr weitgehenden Sofortforderungen, die noch nie erfüllt wurden. Dieses Ziel hat die MSPD-Führung ebenso wenig verraten, wie der Parteivorsitzende Ebert, der seinen Parteifreund Scheidemann dafür wütend rüffelte, weil dieser mit der Ausrufung der Republik der Nationalversammlung zuvorkam. Eberts tradiert stures weltfremdes Demokratieverständnis verkannte, dass die elementaren tatsächlichen systemischen Veränderungen von der revolutionären Aktion und nicht von den parlamentarischen Gremien hervorgebracht werden. Die deutsche Revolution war von Anfang an mit dem Defizit einer unglaublichen Leichtgläubigkeit und Illusion gegenüber der Gegenrevolution belastet. Das zeigte sich sowohl in der Delegierung der revolutionären Beseitigung der materiellen Grundlagen des preußischen Ancien régimes (Großgrundbesitz, Beamten- und Militärapparat) vom Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte an die Nationalversammlung wie an der Rückgabe des beschlagnahmten Büros der Antibolschewistischen Liga durch die revolutionären Matrosen. Und das Sozialisierungsprojekt war de facto mit dem Stinnes-Legien-Pakt erledigt.

   Drittens: Eduard Bernstein prognostizierte 1899 in seiner theoretischen Grundlegung des Reformismus den Marx’schen Begriff „Diktatur des Proletariats“ als Charakterisierung des künftigen Staatstyps mit folgendem bedenkenswerten knappen Absatz: „Die Diktatur des Proletariats heißt, wo die Arbeiterklasse nicht schon starke eigene Organisationen wirtschaftlichen Charakters besitzt und durch Schulung und Selbstverwaltungsköper einen hohen Grad von geistiger Selbständigkeit erreicht hat, die Diktatur von Klubrednern und Literaten. Ich möchte denjenigen, die die Unterdrückung und Schikanierung der Arbeiterorganisationen und Ausschluss der Arbeiter aus der Gesetzgebung und Verwaltung den Gipfel der Regierungskunst erblicken, nicht wünschen, einmal den Unterschied in der Praxis zu erfahren. Ebenso wenig würde ich es für die Arbeiterbewegung selbst wünschen.“ (Bernstein, Voraussetzungen des Sozialismus… Dietz Berlin 1991 [1899], S.206 f.) dieses Resümé, ob als Vorwegnahme einer vorgeblich im proletarischen Interesse mit revolutionärem Terror durchgesetzten parteirichtungsideologischen Minderheitenrevolution und ihrer verheerenden Folgen oder als blanquistische Fehlinterpretation der Marx/Engels‘schen Schlussfolgerungen aus Pariser Kommune, entspricht de facto der Luxemburgschen Kritik an der Russischen Revolution zwei Jahrzehnte später.

    Viertens: Die Autoren haben mit ihren „Fanfaren der Freiheit einen bemerkenswerten Ansatz für die Bewältigung der Vereinigung von revolutionärer Spontaneität und intellektuellem Potential im Zusammenbruchsaugenblick gewählt und gefunden. Und sie machen sich die Darstellung des Problems nicht mit den Stereotypen des Klassenstandpunktes leicht, die den Intellektuellen nach leninistischer Lesart in den Pro- und Konterrevolutionär teilen. Sie stellen aber am Ende trotz ihres wichtigen Rückgriffs auf frühere Geschichtsepochen bis zurück in die Antike dennoch nicht die Gretchenfrage, mit der das Problem der Spaltungen sowohl in der modernen Kapital- und Lohnarbeitsgesellschaft, der Intelligenz aber auch innerhalb des sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Lagers sowie speziell der intellektuellen Linken im engeren Sinne erklärt werden kann: nämlich die erkenntnistheoretische und damit philosophische Frage nach der historische materiellen Determiniertheit und wechselseitigen Beeinflussung aller Gesellschaftserscheinungen und dem daraus resultierenden permanenten konkret-praxisorientierten Erkenntnis- und fortwährendem Theorieentwicklungsprozess im Gegensatz zum ideellen, von humanistischen und bürgerlichen Freiheitswerten bestimmten. Umso höher ist die marginale Bezugnahme der Autoren auf diesen Aspekt in der Einleitung (S. 15 unten) zu bewerten, die beweist, dass die Autoren sich dessen bewusst sind!

   In den weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Gegenwart, in der mehr denn je pluralistisch fragmentarische Unverbindlichkeit gegen mystische und populistische Manipulation wirkungslos verteidigt wird, geht es in Wirklichkeit um einen wissenschaftlichen Blick auf die Geschichte. Die enorme Schwierigkeit dessen ist historisch erklärbar. Erkenntnistheoretisch musste von der Liquidierung des heidnisch materialistischen Denkens seit der Zerstörung der Bibliothek von Alexandria bis zur Neuentdeckung des Materialismus durch die intelligentesten Köpfe des aufklärerischen und klassischen Bürgertums, vor allem durch die Hegelsche dialektische Veredelung des Materialismus Feuerbachs nicht nur eine eineinhalb Jahrtausende platonische Denktradition überwunden werden, um die wissenschaftliche Kontinuität zum antiken Denken wieder herzustellen. Zugleich musste die im Gefolge der Rezeption dieser dialektisch-historisch-materialistischen Denkrevolution durch permanente Weiterentwicklung gegen deren Vulgarisierung und bürgerliche Revision angegangen werden. Für diesen Kraftakt fehlten schlicht die fähigen intellektuellen Köpfe nicht zuletzt wegen der fehlenden strukturellen Bildungsvoraussetzungen. Für den Kapitalismus, ob in seiner aktiengesellschaftlichen oder kommunistisch drapierten staatskapitalistischen Variante ist wissenschaftliche Gesellschaftserkenntnis eine existenzielle Bedrohung.

Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die NovemberrevolutionVerlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) (1. August 2018)
• Gebundene Ausgabe: 308 Seiten, EUR 49,95
• ISBN-10: 3534270452
• ISBN-13: 978-3534270453

Wilhelm Neurohr: „Schweigt die Friedensbewegung zur privaten „Münchener Sicherheitskonferenz?“

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, zur Berichterstattung über die Münchener Sicherheitskonferenz:

„Schweigt die Friedensbewegung zur privaten „Münchener Sicherheitskonferenz?“

Die Berichte über die so genannte „Münchener Sicherheitskonferenz“ (früher hieß sie ehrlicherweise „Wehrkundetagung“ der Militärexperten und Rüstungslobby) und zuvor über den „Weltwirtschaftsgipfel von Davos“ offenbaren  uns eine äußerst bedenkliche Tendenz, die alle Demokraten eigentlich wachrütteln sollte: Nicht mehr die dafür eigentlich zuständigen und demokratisch legitimierten Gremien etwa der UN oder der EU organisieren offiziell den internationalen politischen Dialog über globale Wirtschafts- oder Friedensfragen. Sondern zunehmend sind es privat organisierte inoffizielle Großveranstaltungen auf Initiative von Wirtschafts- und Rüstungslobbyisten, die den erlauchten Teilnehmerkreis und die Themen bestimmen.  Stolz brüsten sie sich damit, diese Privatkonferenzen zu den „bedeutendsten informellen Foren“ der „Eliten“ aufgewertet zu haben, mit denen sie die offiziellen Gipfelkonferenzen der Staats- und Regierungschefs in den Schatten stellen.

Und sie bestimmen auch, welche ausgewählten Politiker – diesmal Einhundert an der Zahl – bedeutend genug sind, um von Ihnen exklusiv und selektiv eingeladen und als Redner auserkoren zu werden, nebst der Überzahl der diesmal 400 selbst ernannten zahlreichen Teilnehmern aus Wirtschaft, Lobbyverbänden, Militär und sogar Geheimdiensten. Die so geschmeichelten Politiker geben sich dort gerne die Klinke in die Hand auf den illustren Treffen, so dass auch die Medien meist unkritisch diese von staatlichen Sicherheitskräften bewachten jährlichen privaten Großveranstaltungen wie offizielle internationale Staatskonferenzen oder Wirtschaftsgipfel behandeln. Damit gehen sie alle den Interessengruppen auf den Leim und belegen die enge Verquickung zwischen Politik, Wirtschaft und Militär sowie Medienschaffenden. Nicht zuletzt geben sie damit sogar den „Verschwörungstheoretikern“ neue Nahrung, denn deren Behauptung, dass die eigentlichen politischen Entscheidungen in solchen hochkarätigen „informellen“ Zirkeln vorbereitet werden statt in den gewählten Parlamenten oder durch das Volk als Souverän, erscheint plötzlich nicht so abwegig. Nickt der Bundestag nur noch die ausgetauschten Militär-Strategien der privaten „Sicherheitskonferenz“ ab und akzeptiert die neue teure Rüstungsspirale?

Gerade die letzten drei Münchener Sicherheitskonferenzen von 2016 und 2018 haben ohne begleitende Parlamentsdebatten oder öffentlichen Diskurs bedenkliche Militär- und rüstungspolitische Vorentscheidungen als Paradigmenwechsel politisch unwidersprochen präjudiziert. Die derzeit nur geschäftsführende Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, im Vorjahr in München flankiert vom damaligen Außenminister Steinmeier und Bundespräsidenten Gauck, legt sich  in München erneut auf deutsche Auf- und Nachrüstungsverpflichtungen in nie dagewesener Höhe mit haushaltspolitischer Priorität fest. Zugleich definiert sie mit markigen Worten, am Grundgesetz meines Erachtens vorbei,  eine ganz neue militärische Rolle Deutschlands und Europas. Wen interessiert es, dass Umfragen zufolge über 70% der Deutschen sich gegen eine weitere Aufrüstung und Erhöhung des Verteidigungsetats aussprechen?

Mit einer europäischen Armee neben der NATO in einer „europäischen Militärunion“, wie kürzlich von der EU-Exekutive (am Bundestag vorbei) beschlossen,  wird die Militarisierung der Europapolitik vorangetrieben statt eine neue Abrüstungsinitiative zu starten oder Entspannungspolitik mit dem Osten. Stattdessen das Motto der 1950-er Jahre: „Wenn die Russen kommen…“. Alles läuft auf einen neuen „kalten Krieg“ hinaus, wie schon in der „Sicherheitspolitischen Agenda“ der Bertelsmann-Stiftung im Auftrag der EU vor Jahren entwickelt und empfohlen.  Demgemäß der markige Originalton von der Leyen in München: „Deutschland braucht mehr militärisches Gewicht und darf sich nicht hinter seiner Geschichte verstecken, sondern muss akzeptieren, dass unsere Soldatinnen und Soldaten auch tatsächlich eingesetzt werden, um für Sicherheit und Freiheit zu kämpfen.“ Erschreckend ist das Schweigen der Zivilgesellschaft und der kaum noch existenten Friedenbewegung dazu.                                                                                            

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: „EUROPÄISCHE VERTEIDIGUNGSUNION EIN VERKAPPTES RÜSTUNGSPROJEKT?“

Leserbrief an die Recklinghäuser Zeitung. Betr:. Bericht über die Europäische Verteidigungsunion (EU-Gipfel)

 „EUROPÄISCHE VERTEIDIGUNGSUNION

EIN VERKAPPTES RÜSTUNGSPROJEKT?“

Ohne vorherigen öffentlichen Diskurs wurde auf dem letzten EU-Gipfel in diesem Jahr mit  aktuellem Verweis auf Trump und Putin die „Europäische Verteidigungsunion“ von 24 EU-Staaten aus der Taufe gehoben  – wohl auch in der Hoffnung, mit dem gemeinsamen militärischen Engagement als Klammer einem weiteren Auseinanderdriften der EU-Nationalstaaten vorzubeugen.

In Wirklichkeit ist die Idee zu diesem Vorhaben schon Jahrzehnte alt und seither mit eigenen schnellen EU-Eingreifruppen neben der NATO längst vorbereitet worden. Zwar erklärt man eine europäische Armee zum Tabu, weil man keine Doppelstrukturen mit der NATO will, aber die Anzahl und Größe schneller EU-Eingreiftruppen soll erheblich wachsen.

Vor allem wird der  Öffentlichkeit verschwiegen, dass dies mit einer verbindlichen und kostenträchtigen  Aufrüstungsverpflichtung einhergeht sowie mit gleichzeitigem Abschied von jedweden Abrüstungsbemühungen – beginnend mit einem europäischen Verteidigungsfond von 5 Mrd. € und späteren Aufstockungen  aus nationalen Mitteln.

Deutlich mehr Geld für Militär und Rüstung ist deshalb aktuell ein zentrales Thema in der EU (als Friedensnobelpreisträger 2012), das in der öffentlichen Debatte leider untergeht.

Das kommt vor allem der deutschen Rüstungsindustrie zugute, die laut aktueller Veröffentlichung des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes (Sipri) erhebliche Umsatzsteigerungen verzeichnet, allein 13% Plus bei Krauss-Maffai und Rheinmetall. Bekanntlich sind sowohl der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Jung (CDU) als auch  der ehemalige Entwicklungshilfeminister Niebel (FDP) als Seitenwechsler nunmehr Lobbyisten bei Rheinmetall.

Schon derzeit geben die europäischen Nato-Länder mit 250 Mrd. € oder 237 Mrd. Dollar ein Vielfaches fürs Militär aus als Russland, wo die Militärausgaben nur 69 Mrd. Dollar betragen bzw. 75 Mrd. Dollar in der gesamten russischen Föderation in Osteuropa. Allein die beiden EU-Länder Deutschland und Frankreich wenden zusammen 97 Mrd. € fürs Militär auf, also deutlich mehr als Russland mit 61 Mrd. €, das seine Rüstungsausgaben sogar kürzt (alles Stand 2016, Statistik-Portal „Statista“ und FAZ vom 24.03.2017). Die EU dreht also kräftig an der Rüstungsspirale.

Auf ihrem Jubiläumsgipfel in Rom, anlässlich des 60-jährigen Bestehens der kriselnden EU, hat deshalb die EU-Spitze vierZiele für die nächsten Jahre beschlossen, darunter das wohl wichtigste Ziel: „Ein stärkeres Europa in der Welt mit internationalen Partnerschaften, das dazu beiträgt, eine stärker wettbewerbsfähige und integrierte Verteidigungsindustrie zu schaffen.“ Ist also die „Europäische Verteidigungsunion“ in Wirklichkeit ein verkapptes Rüstungsprojekt gigantischen Ausmaßes?

Schon der Art. 42 des gültigen Lissabonner EU-Grundlagenvertrages von 2009 sieht jährliche Aufrüstungsverpflichtungen und deren Kontrolle durch die europäische Verteidigungsagentur (EDA) vor. Jüngst wurde von den meisten EU-Staaten einschließlich Deutschland folglich auch die Unterzeichnung des UN-Atomwaffenverbotsvertrages verweigert, der von 122 Staaten weltweit unterstützt wird. (Die zivilgesellschaftlichen Initiatoren erhielten dafür gerade den Friedennobelpreis). Ein gültiger, aber nie umgesetzter Beschluss des deutschen Bundestages von 2010 für den Abzug der letzten US-Atomwaffen in Deutschland (Büchel in der Pfalz)  wurde von der großen Koalitionsregierung einfach unter den Tisch gekehrt.

Warum wird das nicht Thema der Koalitions-Sondierungen zwischen SPD und CDU? Schließlich war die SPD mal die Partei des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt, der um Abrüstung und Entspannung bemüht war und den kalten Krieg mit dem Osten beendete, der jetzt wieder auflebt…

Wilhelm Neurohr (Haltern am See)

Uri Avnery: Eine Geschichte der Idiotie

ICH BIN wütend. Und ich habe gute Gründe, wütend zu sein.

 Ich war im Begriff, einen Artikel über ein Thema zu schreiben, über das ich seit langer Zeit nachgedacht habe.

 In dieser Woche öffnete ich die New York Times und siehe da, mein noch ungeschriebener Artikel erscheint auf ihrer Meinungsseite im Ganzen, ein Argument nach dem anderen.

 Wie kommt es dazu? Ich habe nur eine Erklärung: der Autor – ich habe den Namen vergessen – hat die Ideen mit einem magisches Mittel, das gewiss als kriminell bezeichnet werden muss, aus meinem Kopf gestohlen. Eine Person versuchte, einmal, mich deswegen umzubringen.

 Doch habe ich mich trotz allem entschieden, diesen Artikel zu schreiben.

DAS THEMA ist Idiotie. Speziell die Rolle der Idiotie in der Geschichte.

Je älter ich werde, umso überzeugter werde ich, dass reine Idiotie eine größere Rolle in der Geschichte der Nationen spielt.

Große Denker, verglichen mit denen ich nur ein intellektueller Zwerg bin, haben andere Faktoren verfolgt, um zu erklären, wie die Geschichte in ein Schlamassel verwandelt wurde. Karl Marx klagte die Wirtschaft an. Die Wirtschaft hat die Menschheit von Anfang an begleitet.

Andere klagen Gott an. Die Religion hat schreckliche Kriege verursacht und tut es noch immer. Schauen wir uns die Kreuzzüge an, die fast zweihundert Jahre in meinem Land gewütet haben. Schauen wir auf den 30jährigen Krieg, der Deutschland verwüstet hat. Kein Ende in Sicht.

Einige klagen die Rasse an. Weiße gegen die Indianer. Arier gegen Untermenschen. Nazis gegen Juden. Schrecklich.

Oder Geopolitik. Die Bürde des Weißen Mannes. Der Drang nach Osten.

Seit vielen Generationen haben große Denker nach einer tiefsinnigen Erklärung gesucht, der den Krieg verursacht. Es muss solch eine Erklärung geben. Schließlich können schreckliche Ereignisse sich nicht nur ereignen. Da muss es etwas Unerklärliches geben, etwas Unheimliches, das all dieses unerhörte Elend verursacht. Etwas, das die menschliche Rasse von Anfang an begleitet und das unser Schicksal leitet.

ICH HABE die meisten dieser Theorien meiner Zeit akzeptiert. Viele von ihnen beeindruckten mich sehr. Große Denker. Tiefsinnige Gedanken. Ich las viele dicke Bände. Aber am Ende ließen sie mich unbefriedigt.

Am Ende hat es mich getroffen. Es gibt tatsächlich eine allgemeine Kraft, die all diese historischen Ereignisse verursacht hat: die Idiotie, die Torheit.

Ich weiß, dass dies unglaubwürdig klingt. Idiotie? All diese Tausenden von Kriege? All diese Hunderte von Millionen von Opfern? All diese Tausenden Herrscher, Könige, Staatsmänner, Strategen? Alle Toren?

Vor kurzem wurde ich um ein Beispiel gebeten. „Zeige mir, wie das funktioniert,“ fragte ein ungläubiger Zuhörer.

Ich erwähnte den Ausbruch des ersten Weltkrieges, ein Ereignis, das das Gesicht Europas und der Welt für immer veränderte und der nur fünf Jahre, bevor ich geboren wurde, endete. Meine früheste Kindheit wurde im Schatten der Katastrophe verbracht.

Es geschah folgendermaßen:

Ein österreichischer Erzherzog wurde in der Stadt Sarajewo von einem serbischen Anarchisten getötet. Es geschah fast durch Zufall. Der geplante Versuch scheiterte, aber der Terrorist stieß zufällig später noch einmal auf den Herzog und tötete ihn.

Und nun? Der Herzog war eine ganz unbedeutende Person. Tausende solchef Aktionen haben sich vorher und danach ereignet. Aber dieses Mal dachten österreichische Staatsmänner, dass dies eine gute Gelegenheit wäre, den Serben eine Lektion zu lehren. Sie nahm die Form eines Ultimatums an.

Keine große Sache. So etwas geschieht immer wieder. Aber das mächtige russische Reich war mit Serbien verbündet, deshalb hat der Zar eine Warnung erlassen: er befahl, die Mobilisierung seiner Armee, nur um seine Ansicht durchzusetzen.

In Deutschland gingen alle roten Lichter an. Deutschland liegt in der Mitte Europas und hat keine unüberwindlichen Grenzen, keine Meere, kein hohes Gebirge. Es war umgeben von zwei großen Militärmächten, Russland und Frankreich. Jahrelang hatten deutsche Generäle darüber nachgedacht, wie das Vaterland gerettet werden kann, wenn es von beiden Seiten gleichzeitig angegriffen wird.

Ein Meisterplan entwickelte sich. Russland war ein riesiges Land, und es würde mehrere Wochen dauern, bis die russische Armee mobilisiert war. Diese Wochen müssen ausgenützt werden, um Frankreich zu zerschlagen, die Armee umzudrehen und die Russen anzuhalten.

Es war ein brillanter Plan, der bis ins kleinste Detail von brillanten militärischen Planern ausgearbeitet war. Aber die deutsche Armee wurde vor den Toren von Paris angehalten. Die Briten intervenierten und halfen Frankreich. Die Folge war ein Krieg von vier Jahren, in denen sich wirklich nichts bewegte, außer dass Abermillionen menschlicher Wesen hingeschlachtet oder zum Krüppel gemacht wurden.

Am Ende wurde ein Frieden geschlossen, ein Frieden, der so dumm war, dass er einen zweiten Weltkrieg unvermeidbar machte. Dieser brach kaum 21 Jahre später aus mit einer viel größeren Anzahl von Todesfällen/ Gefallenen.

VIELE BÜCHER sind über den „Juli 1914“ geschrieben worden, den entscheidendsten Monat, in dem der 1. Weltkrieg unvermeidbar wurde.

Wie viele Leute waren in die Entscheidungsfindung in Europa involviert? Wie viele Herrscher, Könige, Minister, Parlamentarier. Generäle – ganz abgesehen von Akademikern, Journalisten, Schriftstellern und anderen?

Waren sie alle dumm? Waren sie alle blind gegenüber dem, was sich in ihrem Lande und auf ihrem Kontinent zutrug?

Unmöglich, man ist versucht, aufzuschreien. Viele von ihnen waren äußerst kompetente, intelligente Leute, Leute, die die Geschichte kannten. Sie wussten alles über die früheren Kriege, die während Jahrhunderten in Europa gewütet haben.

Aber all diese Leute spielten ihre Rolle, den schrecklichsten Krieg in den Annalen der Geschichte zu verursachen. Ein Akt reinster Idiotie-

Der menschliche Verstand kann solch eine Wahrheit nicht akzeptieren. Da muss es andere Gründe geben. Tiefsinnige Gründe. Sie schrieben unzählige Bücher, um zu erklären, warum dies logisch war, warum es geschehen war, welches die „hintergründigen“ Ursachen waren.

Die meisten dieser Theorien sind sicherlich plausibel. Aber verglichen mit den Auswirkungen, sind sie kümmerlich. Millionen Menschen marschierten hinaus, um geschlachtet zu werden, singend und fast tanzend vertrauten sie ihrem Herrscher, König, Präsident, Oberkommandeur. Und kehrten nie zurück.

Konnten all diese Führer Idioten sein? Sicherlich konnten sie und sie waren es.

ICH BRAUCHE nicht die Beispiele von tausenden ausländischer Kriege und Konflikte zu nennen, weil ich mitten in solch einem gerade jetzt lebe.

Es ist egal, wie er zustande kam. Die gegenwärtige Situation ist die, dass in dem Land, das gewöhnlich Palästina genannt wird, zwei Völker von verschiedenen Ursprüngen, Kulturen, Geschichte, Religion, Sprachen, Lebensstandard u.a. m. leben. Sie sind jetzt von mehr oder weniger gleichem Umfang.

Zwischen diesen beiden Völkern hat sich seit mehr als einem Jahrhundert ein Konflikt abgespielt.

Theoretisch gibt es nur zwei vernünftige Lösungen: entweder sollen die beiden Völker zusammen als gleiche Bürger in einem Staat leben oder sie sollen Seite an Seite in zwei Staaten leben.

Die dritte Möglichkeit ist keine Lösung – ein ewiger Konflikt, ein ewiger Krieg.

Dies ist offensichtlich so einfach, sie zu leugnen, ist reine Idiotie.

In einem Staat zusammen zu leben, klingt logisch, ist es aber nicht. Es wäre ein Rezept für einen ständigen Konflikt und internen Krieg. Es bleibt also nur, was „Zwei-Staaten für zwei Völker“ genannt wird.

Als ich direkt nach dem 1948er-Krieg, in dem Israel gegründet wurde, darauf hinwies, war ich mehr oder weniger allein. Jetzt ist es ein weltweiter Konsens, überall – außer in Israel.

Gibt es eine Alternative? Es gibt keine. Man macht mit der gegenwärtigen Situation weiter: ein kolonialer Staat, in dem 7Millionen israelische Juden 7 Millionen palästinensische Araber unterdrücken. Die Logik sagt, dass dies eine Situation ist, die so auf Dauer nicht bestehen kann. Früher oder später wird sie zusammenbrechen.

Was sagen unsere Führer dazu? Nichts. Sie geben vor, sich dieser Wahrheit nicht bewusst zu sein.

An der Spitze der Pyramide haben wir einen Führer, der intelligent aussieht, der gut spricht, der kompetent erscheint. Tatsächlich ist Benjamin Netanjahu ein mittelmäßiger Politiker, ohne Vision, ohne Tiefe. Er gibt nicht einmal vor, dass er eine andere Lösung hat. Auch seine Kollegen und möglichen Erben haben keine Lösung.

Was ist das also? Es tut mir leid, dies zu sagen: es gibt dafür keine andere Definition als dass dies die Herrschaft der Idiotie ist.

Uri Avnery vertritt seit 1948 die Idee des israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: des Staates Israel und des Staates Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Uri Avnery schuf eine Weltsensation, als er mitten im Libanonkrieg (1982) die Front überquerte und sich als erster Israeli mit Jassir Arafat traf.

Uri Avnery und Arafat
Uri Avnery trifft Jassir Arafat – Foto Uri Avnery 1982

Er stellte schon 1974 die ersten geheimen Kontakte mit der PLO-Führung her. 1993 begründete er mit Freunden die israelische Friedensinitiative Gusch Schalom , erhielt 1997 den Aachener Friedenspreis , 2008 die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte und viele andere Auszeichnungen.

Der 1923 in Beckum geborene jüdische Politiker, Schriftsteller und Journalist war als Kind mit seinen Eltern aus dem Münsterland nach Israel ausgewandert und zehn Jahre lang Abgeordneter der Knesset.

[Uri Avnery-Texte, 18. November 2017., dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert]

Neuerscheinung: »Verschiedene Ansichten. Neue zeitkritische Beiträge« von Dietrich Stahlbaum

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Klappentext:

Auch für den 90-Jährigen ist es eine „Selbstverständlichkeit, das Zeitgeschehen kritisch zu begleiten und im Netz mitzudebattieren.“ Dies ist nun sein 10. eBook, Fortsetzung des neunten mit Beiträgen des letzten Jahres (2016) zu den gleichen Themen (aktuelle Politik, Globalisierung, Kolonialismus, Krieg und Pazifismus, Flüchtlinge, Fluchtursachen, alte und Neue Rechte, ihr Rassismus, ihre Ängste; philosophische Betrachtungen…) Dazu: Die Arier.  Der folgenschwere Missbrauch eines Begriffes durch Rassisten, Verschwörungstheorien; Entwicklungshelfer – ein Afrika-Fest in Bild und Text, Wer war Martin Luther?… – Rezension eines außergewöhnlichen Buches und ein Zeitungsbericht zu Stahlbaums 90.

Der Autor: geboren 1926, aufgewachsen in einem völkisch deutsch-nationalen Milieu, militaristisch erzogen, faschistisch indoktriniert. „Hitlerjugend“, Militär, I944-45 an zerbröckelnden Fronten, 1949-54 bei der Fallschirmtruppe der französischen Legion in Algerien und Vietnam. Heimkehr als Kriegsgegner. Engagement in Bürgerinitiativen und in der Friedens- und Ökologiebewegung. Berufe: u. a. Fabrikarbeiter, Buchhändler, Verlagsangestellter, Bibliothekar. Publikationen: Prosa, Lyrik, Essays, Reportagen etc. Ein Roman, ein „Lesebuch“, Print- und eBooks.

INHALT:

Verschiedene Ansichten – – Warum feiert heute der Nationalkonservatismus Urständ in Europa? – – Gesamtkultur, Menschheitskultur – – „Fremde“ Kulturen und Verhaltensweisen – – Historische Fluchtursachen – – Deutsche Auswanderer, deutsche Kolonialherrschaft – – PEGIDA, AfD und CO. verbreiteten verschwörungstheoretische Übertreibungen – – „Völkisch“ – – Muslimvereine – – Araberinnen – – Die Arier. Der folgenschwere Missbrauch eines Begriffes durch Rassisten – – Verschwörungstheorien. Eine WDR-Sendung und kritische Anmerkungen – – Multi-ethnischer Staat in Syrien? – – Zur Klimaerwärmung – – Afrika-Fest am 11.Juni 2016 auf dem Schulbauernhof in Recklinghausen (Bild und Text) – – Pazifisten – – Raus aus der NATO? Die Friedensbewegung im „Kalten Krieg“. Wortprotokoll einer Diskussion (1983) – – Der Gewalt (in uns) ein Ende setzen – – Das zurück gegebene Schwert. Eine vietnamesische Legende – – Barack Obama – – Herz und Hirn – – Frauen, die für Gleichberechtigung kämpfen – – Der SPD ist die soziale Kompetenz verloren gegangen – – Wer war Martin Luther? Was hat er gelehrt? Was hat er gewollt? Rezension – –  90 Jahre mitten im Strom der Zeit. Ein Lebensbericht

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Dietrich Stahlbaum:  »Verschiedene Ansichten- Neue zeitkritische Beiträge«                   BookRix-eBook  2017, 11658 Wörter, € 3,99, ISBN: 978-3-7396-9350-7

Das eBook kann für € 3,99 auf Ihren Computer oder ein Lesegerät heruntergeladen werden.

Aufruf: „Die Spirale der Gewalt beenden – für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik jetzt!“

Aufruf: „Die Spirale der Gewalt beenden – für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik jetzt!

Immer mehr setzen die NATO und Russland auf Abschreckung durch Aufrüstung und Drohungen gegeneinander statt auf gemeinsame Sicherheit durch vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Sie missachten damit auch ihre Verpflichtungen zum Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung, zur Stärkung der Vereinten Nationen und zur friedlichen Beilegung von Streitfällen mit einer obligatorischen Schlichtung durch eine Drittpartei, die die Staatschefs Europas und Nordamerikas vor 25 Jahren in der “Charta von Paris”*) feierlich unterschrieben haben. Seitdem ist mühsam aufgebautes Vertrauen zerstört, und die friedliche Lösung der Krisen und Konflikte erschwert worden.

Ohne Zusammenarbeit mit Russland drohen weitere Konfrontation und ein neues Wettrüsten, die Eskalation des Ukraine-Konflikts, und noch mehr Terror und Kriege im Nahen Osten, die Millionen Menschen in die Flucht treiben. Europäische Sicherheit wird – trotz aller politischen Differenzen über die Einschätzung des jeweils anderen inneren Regimes – nicht ohne oder gar gegen, sondern nur gemeinsam mit Russland möglich sein.

Das ist die zentrale Lehre aus den Erfahrungen mit der Entspannungspolitik seit den 60er Jahren, namentlich der westdeutschen Bundesregierung unter Willy Brandt. Er erhielt dafür 1971 den Friedensnobelpreis mit der Begründung des Nobelkomitees, er habe „die Hand zur Versöhnung zwischen alten Feindländern ausgestreckt“. Niemand konnte damals wissen, dass kaum zwanzig Jahre später der friedliche Fall der Berliner Mauer und des „Eisernen Vorhangs“ in Europa einen Neuanfang ermöglichen würden, nicht zuletzt ein Ergebnis der von Willy Brandt durchgesetzten und danach fortgesetzten Entspannungspolitik!

Der Ausweg aus der Sackgasse der Konfrontation führt auch heute nur über Kooperation, durch Verständigung mit vermeintlichen „Feindländern“!

Anfang 2009, zum Amtsantritt von Präsident Obama, mahnte der „Architekt der Entspannungspolitik“, Egon Bahr, gemeinsam mit Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker und Hans Dietrich Genscher, in einem Appell für eine atomwaffenfreie Welt: „Das Schlüsselwort unseres Jahrhunderts heißt Zusammenarbeit. Kein globales Problem ist durch Konfrontation oder durch den Einsatz militärischer Macht zu lösen“.

Ähnliche Aufrufe von „Elder Statesmen“ gab es in anderen Ländern. Im Bundestag einigten sich im März 2010 Union, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf einen gemeinsamen Antrag (17/1159), der unter anderem den „Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland“ forderte. Angesichts der Eskalation der Ukraine-Krise und zur Unterstützung von „Minsk 2“ wuchs Anfang 2015 auch in den Parteien die Forderung nach einer „neuen Entspannungspolitik“.

Egon Bahr und andere machten immer wieder Vorschläge zur Entschärfung bzw. Lösung der aktuellen Konflikte mit Methoden der Entspannungspolitik. Zahlreiche, teils prominente Bürgerinnen und Bürger engagierten sich mit Erklärungen und Aufrufen. In einer gemeinsamen Erklärung fordern VertreterInnen aus Kirchen, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft „eine neue Friedens- und Entspannungspolitik jetzt!“. Aber diese Aufrufe verhallten nahezu ungehört.

Heute ist die breite gesellschaftliche und parteiübergreifende Debatte über Entspannungspolitik notwendiger denn je, um zu helfen, die Konfrontation in Europa zu beenden und die europäischen Krisen zu bewältigen und – mit Nutzen für die ganze Welt – eine Zone gesamteuropäischer “gemeinsamer Sicherheit“ durch Zusammenarbeit aller Staaten von Vancouver bis Wladiwostok durchzusetzen.

Unterstützen Sie den Aufruf mit dem folgenden Formular –  das erleichtert uns die Erfassung – ODER senden Sie eine E-Mail an Burkhard Zimmermann.

Mehr hierzu →  http://neue-entspannungspolitik.berlin/de/aufruf/

Friedrich Gehring: Gesucht: kollektive Sicherheit

Leserbrief zu: „EU regt Rüstungsfonds an“, FR-Politik vom 1. Dezember 2016

Jean-Claude Junckers Ruf nach europäischen Rüstungsprojekten in der Hoffnung, damit „unsere kollektive Sicherheit zu garantieren“, verrät den militärisch verengten Blickwinkel der EU-Kommission. Wie viel Kriegsleid muss noch geschehen, bis unsere europäischen Verantwortlichen Abstand gewinnen von militärisch gestützter „kollektiver Sicherheit“.

Dieser Begriff aus der Friedensbewegung wurde bereits auf den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 als Absage an militärische Konfliktlösungen geprägt und hat als solcher 1949 Eingang gefunden in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 24 Abs. 2). Nahezu alle Völkerrechtsgelehrten sehen in Systemen kollektiver Sicherheit den Versuch, die Sicherheit aller möglichen Konfliktpartner miteinzubeziehen. Solches Bemühen steht im krassen Gegensatz zu Verteidigungsbündnissen wie etwa der Nato, die Gegner auf der Basis des Faustrechts unterwerfen wollen. Insofern ist Trumps angekündigter US-Rückzug aus militärischen Sicherheitsgarantien eine Chance für ein Umdenken.

Wer den baltischen Staaten oder Polen oder der Ukraine militärisch Sicherheit verschaffen will vor russischem militärischem Machtstreben, sollte jetzt in den Nahen Osten schauen. G. W. Bushs Irakkrieg gegen das Böse hat die Bosheit in Gestalt des IS noch größer gemacht, weil die Sicherheitsinteressen der nach Hussein entmachteten Sunniten von der neuen Regierung grob missachtet wurden. Die Aufrüstung der Assad-Gegner hat einen multilateralen Stellvertreterkrieg in Syrien verstärkt und das furchtbare Leid in Städten wie Aleppo verschärft. Der Kardinalfehler war, dass nach Ende des Kalten Kriegs der westliche Triumphalismus verhindert hat, auch Russland in ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ nach Art. 24 (2) GG einzubinden.

Insbesondere die deutsche Politik ist jetzt herausgefordert, den Vorgaben der eigenen Verfassung gemäß einen US-Rückzug als Chance zu begreifen und in Europa für nichtmilitärische kollektive Sicherheit zu sorgen. Dazu brauchen wir keinen Rüstungsfonds, sondern einen Friedensfonds.

Friedrich Gehring, Backnang

[Frankfurter Rundschau vom 12.12.2016]

Wir befinden uns in einem asymmetrischen Dritten Weltkrieg. Was tun?

Bis jetzt sind wir davongekommen, verschont geblieben im asymmetrischen Dritten Weltkrieg, der selbst gutwillige Politiker/innen ratlos macht. Total verfahrene Situationen. Heraushelfen könnte wohl nur eine allseitige Generalamnestie, denn fast alle Regierenden, Superreichen und sonstigen Machthaber oder Macht Anstrebenden haben Dreck am Stecken und an den Händen Blut.

Friedensfahne in Rom am 12.4.2003
Friedensfahne in Rom am 12. 4. 2003

Mit gegenseitigen Schuldzuweisungen lässt sich kein allseitiger Konsens erreichen. Ein solcher ist aber nötig, um gerechte und friedliche Verhältnisse schaffen zu können. Gefragt ist ein von allen Dogmen und Doktrinen freier, aufs Ganze gerichteter sozialer und Frieden stiftender Pragmatismus.

Raus aus der NATO? Die Friedensbewegung im „Kalten Krieg.“ Eine Diskussion aus dem Jahre 1983 – im Wesentlichen immer noch aktuell!

Raketen
Collage mit dem Holzschnitt „Die Mutter“ von Käthe Kollwitz

Am 7. Dezember 1983 diskutierten in Recklinghausen Vertreter/innen von Parteien (DKP, SPD, DIE GRÜNEN), Friedensgruppen, ein junger evangelischer Pfarrer und zwei Redakteure einer Alternativzeitung über die NATO und Protestaktionen in Deutschland. Ich habe hier die Positionen der GRÜNEN, die auch meine eigenen waren, eingebracht. Ausschnitte aus dem Tonbandprotokoll:

Redakteur der Alternativzeitung: Wie soll es nach der Stationierung der Pershing II-Raketen mit der Friedensbewegung weitergehen? Was sind nun die Hauptforderungen? Müssen die Methoden und Formen der Arbeit verändert werden? Radikalisierung?

Dietrich Stahlbaum: Stichwort inhaltliche Diskussion. Zunächst einmal zur Analyse: Den Eindruck, den ich auch in Gesprächen gewonnen habe und den ich aus meinen Erfahrungen, was die Buchausleihe in der Bücherei betrifft, bestätigt finde, ist der, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Stationierung einerseits ablehnt, andererseits aber zum großen Teil resigniert und sich obrigkeitsfixiert in die Dinge fügt: „Wir können nichts tun, die machen ja doch, was sie wollen.“

Das ist ein Punkt, über den wir uns klar werden müssen, der auch zur inhaltlichen Diskussion gehört… Zunächst einmal, meine ich, müssen wir uns – alle Initiativen und Gruppen, die dieser Gesamtfriedensinitiative angehören in Recklinghausen – über die Inhalte einig werden, die wir durch unsere weitere Friedensarbeit, durch unsere Aktionen, vermitteln wollen. Ich glaube, es genügt nicht, wenn wir auf der militärisch-rüstungstechnischen Ebene stehen bleiben und nur die Rüstungspolitik und die Militärpolitik, die Strategien und dergleichen kritisieren. Wir müssen positive Elemente hineinbringen. Wir müssen die militärische und rüstungstechnische Ebene verbinden mit der wirtschaftlichen, mit der sozialen, mit der psychologischen und mit der ökologischen Ebene. Da besteht ein ganz enger Zusammenhang, da greift eins ins andere.

Das ist eine sehr komplexe Angelegenheit, die Friedenspolitik. Ich meine, wir sollten versuchen, Friedenspolitik nicht nur von der Negation her zu verstehen, sondern auch vom Positiven her. Das heißt, etwas muss in unseren Köpfen geschehen, etwas muss psychologisch weiter, etwas muss auch in unserem Bauch passieren; und wir müssen nicht nur Nein sagen zu den Raketen, zu der Rüstungspolitik, sondern auch das Aggressionspotential ansprechen, das sich in unserer Gesellschaft angestaut hat, bedingt vor allem durch die sozialen Verhältnisse, durch die soziale Krise, durch die Arbeitslosigkeit, durch den unmittelbaren Druck, unter dem der größte Teil der Bevölkerung steht.

Wie kann dieses Aggressionspotential, das manipuliert und gesteuert werden kann – durch Feindbildprojektion – abgebaut und umgesetzt werden in aktives Verhalten, in friedenspolitisch aktives Verhalten, auch individuell?

Unter Friedenspolitik verstehe ich mehr als antimilitaristische Politik. Ich verstehe darunter auch eine Art von Friedenspädagogik oder Friedenspsychologie. Es gibt da ein hervorragendes Buch von Hans-Eberhard Richter, mit dem man sehr gut arbeiten kann: Zur Psychologie des Friedens (Rowohlt, Reinbek 1984).

Das sind Dinge, die wir aufarbeiten müssen, um dann praktisch damit arbeiten zu können. Es geht darum, Ängste abzubauen, falsche, irrationale Ängste. Es gibt auch reale, gesunde Ängste: Ängste vor der realen Bedrohung durch die Hochrüstung, das Hochschrauben der Rüstungsspirale, was sich jetzt wieder durch das Stationieren von SS 21 zeigt. Die Bevölkerung muss befähigt werden, die realen Ängste zu erkennen und aktiv zu werden, um die Ursachen dieser Bedrohung zu beseitigen. Das heißt also: die militärisch- rüstungstechnische Ebene verbinden mit der politischen, mit der sozialen, mit der wirtschaftlichen, mit der psychologischen Ebene, um dadurch der Friedensbewegung (FB) eine neue Qualität zu geben, mittel- und langfristig. Wir haben ja gesehen, wie lange es dauert, bis sich Bewusstsein so weit entfaltet, dass die Leute sagen: „Nein, ich bin dagegen!“ – wie lange es dauert, bis die Leute aktiv werden.

Wir müssen also auch mittel- und langfristig denken. Denn ich gehe davon aus, dass der Abbau der Raketen, abgesehen von einem Abbau der atomaren, biologischen und chemischen Rüstung, erst mittel- oder vielleicht auch langfristig zu erreichen ist, ganz abgesehen von den konventionellen Waffen.

Noch ein Punkt, der eingebracht werden muss und der zu den positiven Aspekten der FB gehört: die Alternativen zur gegenwärtigen Abschreckungspolitik, militärisch gesehen; soziale Verteidigung als Stichwort.

Zu den Widerstandsformen ganz kurz: Das sind Dinge, die, glaube ich, wohl kaum insgesamt von der ganzen FB getragen werden können; geschweige denn, dass jeder einzelne dem zustimmt, was in dem Rosa-Block-Papier (?) gefordert wird oder in anderen Papieren vor allem der Autonomen: Aufkündigung der Loyalität gegenüber dem Staat oder ziviler Ungehorsam.

Das sind Dinge, die wohl in der Verantwortung jedes Einzelnen liegen
müssen, bzw. in der Verantwortung von Gruppen, die bereit sind, solche Widerstandsformen zu praktizieren.

[…]

D. St.: Ich glaube, wir sind in der Diskussion eigentlich schon einen Schritt zu weit gegangen. Wir überlegen uns, wie es möglich ist, die Bevölkerung anzusprechen, aufzuklären, zu aktivieren. Ich sehe, dass in der Bevölkerung immer noch eine sicherlich nicht unbegründete Angst vor der Sowjetunion besteht. Das wird als Antikommunismus bezeichnet oder als Antisowjetismus.

Das ist in diesem Falle eine ganz reale Angst. Bei Großteilen der Bevölkerung, überwiegend bei den Älteren, die den Krieg erlebt haben und vielleicht auch in der Sowjetunion gekämpft haben, oder denjenigen, die jetzt den Kalten Krieg der Nachkriegszeit erleben, und auch bei den Jüngeren ist eine Angst vorhanden, die sie jetzt wieder bestätigt finden durch die Nachrüstungsmaßnahmen der Sowjetunion.

Sowohl der Westen als auch der Osten betreiben eine höchstgefährliche Politik. Ein Teil der Bevölkerung mag sich immer noch geschützt fühlen durch die NATO, durch die USA, durch den „atomaren Schutzschild“. Das kann aber abbröckeln. Andererseits gibt es die Frage: „Ja, und die Sowjetunion? Die rüstet ja auch. Also müssen wir ebenfalls rüsten.“ Daher liegt den Duisburger Beschlüssen der Grünen die Forderung nach einer blockübergreifenden Friedenspolitik von unten zugrunde.

Das heißt also: nicht mehr systemimmanent argumentieren, indem nur die Rüstungspolitik des Westens aufs Korn genommen wird, sondern genauso die Rüstungspolitik des Ostens kritisieren. Wir fordern eine einseitige Abrüstung. Wir fordern aber ebenso, dass die Sowjetunion jetzt nicht ihrerseits die Rüstungsspirale weiter hochdreht, sondern Wege sucht, um dieses gegenseitige Hochschaukeln der militärischen Bedrohung abzustoppen.

Ich meine, eine Möglichkeit wäre gewesen, die geplante Stationierung der
Kurzstreckenraketen in der DDR und in der CSSR – die ja nur 3 Minuten brauchen, um hier zu sein, die Pershing braucht 5-6, um Moskau zu erreichen – nicht durchzuführen. Die Sowjetunion müsste aufgefordert werden, ihrerseits die militärische Bedrohung nicht noch weiter zu verschärfen. Denn da zeigt sich die Fragwürdigkeit der Friedenspolitik auch des Ostens.

Das ist ein Punkt auf der militärischen Ebene, auf den wir sicherlich immer wieder in den Gesprächen mit der Bevölkerung angesprochen werden. Die werden uns sagen: „Ja Gott, seht ihr, es geht ja weiter.“ Die Friedensbereitschaft ist nirgends vorhanden. Wie gefährlich die ganze Sache geworden ist, allein durch die Stationierung der Pershing, zeigt sich einmal darin, dass (Bundeskanzler) Kohl in seiner Rede gesagt hat, es müsse jetzt versucht werden, politisch und wirtschaftlich mit dem Osten zu kooperieren. Offenbar ist es denen heiß unterm Hintern geworden.

Ein anderer Punkt ist der, dass nach einer kleinen Notiz der Frankfurter Rundschau vom Freitag der US-Senat angeregt hat, eine atomare Alarmzentrale einzurichten, zusammengesetzt aus Vertretern der UdSSR und der USA. Dies deutet darauf hin, dass sie damit zugeben, es könne auch durch technisches Versagen oder andere Dinge ungewollt ein Atomkrieg ausgelöst werden. Das ist ein Punkt, glaube ich, den wir in unserer Argumentation sehr deutlich machen müssen. Dadurch allein sind die Bundestagsabgeordneten – die 268 –, die der Stationierung zugestimmt haben, im Grunde schon widerlegt.

Wenn man die Reden einmal verfolgt, die da vom Stapel gelassen wurden – dieser Versuch, die Bedrohung herunterzuspielen! Auch typisch die Sprachverschleierung durch Fernsehen und Presse. Die Dinge werden nicht mehr beim Namen genannt, sondern es werden harmlose Begriffe dafür eingeführt. Das ist ein Punkt, über den wir auch praktisch sehr viel Aufklärungsarbeit betreiben müssen, um den Leuten mal klar zu machen, wie hier die Gefahr, in der wir stehen, verschleiert wird.

[…]

D. St.: Ich glaube, G. (die Vertreterin der SPD)  hat auch einmal davon geträumt, dass die SPD sich geschlossen gegen die Stationierung ausspricht, und das ist eingetroffen. Das heißt, es ist ganz wichtig, dass man Utopien hat, die dann eines Tages auch Wirklichkeit werden. Und eine der Utopien, die wir haben, ist tatsächlich der Austritt aus der NATO, eine Auflösung der Blöcke. Eine gesamteuropäische Friedenspolitik, Sozial- und Ökologiepolitik und darüber hinaus eine globale Friedenspolitik.

Aber etwas anderes will ich einbringen aus eigenen Erfahrungen:  G. (die Vertreterin der SPD) sagte ganz richtig, dass diese Zahl 71% (Ablehnung weiterer Stationierung von US-Raketen in Europa, lt. Meinungsumfragen) keine abgesegnete Zahl ist. Es sind ja mehr Stimmungen, die sich hier ausdrücken, als ein klares Bewusstsein der Gefahren, in denen wir stehen, das durch Wissen fundiert ist. Wer hat sich denn mit den militärstrategischen Rüstungsfragen befasst? Das wird mehr gefühlsmäßig abgelehnt. Das ist keine im Bewusstsein der Bevölkerung abgesicherte Haltung.

Was jetzt möglicherweise in Gang kommt, ist ein ähnlicher Prozess, wie ich ihn als Kind im Zweiten Weltkrieg erlebt habe. Nämlich das, was ich als 15-, 16-jähriger erlebt habe: die Militarisierung der Köpfe bzw. Herzen. Das hat eine Bereitschaft in der Bevölkerung bewirkt nach dem Motto: „Lieber frei sein, als tot sein!“ Also Freiheit oder Untergang in der Parallele zu „Lieber tot als rot“.

Ich will das nicht mit dem Begriff der Todessehnsucht beschreiben; aber es gibt Beispiele wie etwa Massenselbstmord, so vor einigen Jahren in Amerika. Es ist denkbar, dass die Masse der Menschen auch weit über Europa hinaus das Gefühl bekommt, die Uhr des Menschen ist abgelaufen, es geht zu Ende.

Es kann also ein psychischer Mechanismus in Gang kommen – Todestrieb, das ist der Begriff aus der Psychoanalyse –, der die Menschen von einem gewissen Trieb her dahin führt. Wir haben historische Beispiele dafür, dass ganze Völker untergegangen sind, sich in die Schlacht gestürzt haben, bis zum letzten Mann gekämpft haben. So etwas ist denkbar, eine Hypothese.

Wenn so etwas möglich sein sollte, in der Resignation vieler zeigt es sich ja, dass diese negative Einstellung zum Leben sich durchsetzt, müssen wir dem etwas Positives entgegensetzen.

G. (SPD): Sie ist noch nicht einmal überzeugt davon, dass eine Volksbefragung über die geplante Stationierung weiterer Raketen ein taugliches Mittel ist… Wir treten mit dem Anspruch auf, die Mehrheit zu beweisen, von der wir behaupten, dass wir sie hätten. Wir laufen Gefahr zu beweisen, dass wir die Mehrheit nicht haben… Um bei der nächsten Wahl an allen 90 Wahllokalen in Recklinghausen eine Volksbefragung durchführen zu können, brauchen wir 360 Leute rein organisatorisch, die den ganzen Tag bereit sind, dort zu stehen. Hier kriegen wir die Leute vielleicht noch, glaubt ihr denn, im Sauerland, in jedem Dorf kriegt die Friedensbewegung die Leute, in Bayern auf dem Land…? Wenn die Volksbefragung schiefgeht, gibt es nämlich eine Sache, die für uns schädlicher ist, als wenn wir die Volksbefragung lassen…

Ich träume genau den Traum der Grünen „Raus aus der NATO!“ mit. Ich träume genau den Traum mit, dass es in Europa zu einer Ordnung kommt, wie sie 1958 etwa angestrebt war mit dem Rapacki-Plan, dass ganz Europa zu einer atomwaffenfreien Zone wird… Das Problem, das ich bei der Forderung jetzt habe, ist, dass die Bevölkerung soweit noch nicht ist. Also, die 71,8% haben sicher kein Verständnis dafür, wie wir das meinen. Sondern die glauben, wenn es jetzt heißt „Raus aus der NATO!“, geben wir unseren Schutz weg und machen uns erpressbar… Deswegen ist es für mich eine Frage, ob das, was ich erreichen will, nicht so formuliert werden kann, dass „Raus aus der NATO!“ irgendwann mal die notwendige und sinnvolle Konsequenz ist.

Aber dass ich das etwa jetzt laut sage als Forderung der FB, kommt mir nicht klug vor, weil ich damit einem großen Teil der 71,8%, die jetzt vielleicht emotional auf unserer Seite stehen, vor den Kopf stoße und wieder zurücktreibe zu den anderen. Deswegen bin ich damit als konkrete, aktuelle Forderung sehr vorsichtig.

D. St.: Ich sehe das auch nur als mittelfristigen Prozess. Das müsste jetzt noch umgesetzt werden in den Köpfen der Menschen. Vitus Lersch meint, bei einer Volksbefragung käme die Aussagekraft auch zustande, wenn nicht jedes einzelne Wahllokal erreicht wird. Wir müssen uns nur genau überlegen, welche weitergehenden Ziele wir damit verbinden. Wenn da „nur“ ein NEIN zur Stationierung herauskommt, wäre das sicherlich etwas zu wenig. Eine mögliche Perspektive der Volksbefragung wäre es gerade auch, wenn sie am Tage der Europawahlen stattfindet, in der vorhergehenden Diskussion zu verbinden mit der Frage eines atomwaffenfreien Europas. Das ist natürlich einerseits ein Traum, andererseits jedoch nicht so weit weg. Hier muss man auch ein bisschen die Prioritäten sehen, wenn man die Forderung atomfreies Europa mit der Forderung Austritt aus der NATO vergleicht. Ich denke, wenn wir realistisch sind, dann müssen wir sagen, dass der Schritt eher so ist, dass sich eine atomwaffenfreie Zone in Europa – egal wie groß sie ist – nur durch Verhandlungen zwischen den beiden Militärblöcken herstellen lässt. Erst danach könnte man langfristig überhaupt als reale Möglichkeit eine Auflösung der Militärblöcke ins Auge fassen. Andersrum würde man den zweiten Schritt vor dem ersten tun…

Bei der Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten am 10. Oktober 1981  (Foto © Dietrich Stahlbaum 1981)
Bei der Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten am 10. Oktober 1981
(Foto © Dietrich Stahlbaum 1981)

Der Pfarrer: Stichwort Todestrieb. Also für mich gibt es keinen Todestrieb an sich, sondern einen Todestrieb in einem Kontext. Das ist eine Ohnmachtserfahrung, die letztendlich in so eine Art Fatalismus endet. Der individuelle oder der kollektive Suizid, eigene Vorwegnahme der Vernichtung, ist dann doch im Grunde der letzte souveräne Akt. Für mich wäre es wichtig, diesen Ablauf, der sicher stattfinden kann, zumindest, dass er im Fatalismus endet, aufzuhalten… Im Folgenden über den Vorschlag Volksbefragung.

D. St.: Unser (grüner) Antrag zur Volksbefragung ist ja abgeschmettert worden im Bundestag. Wir hatten das… so abzusichern versucht, dass Manipulationen weit möglichst ausgeschaltet werden können. Ein allgemeines Problem für uns ist, dass über die Friedensbewegung kaum inhaltlich berichtet wird. Unsere Forderungen und unsere Argumente werden weitgehend totgeschwiegen. Es werden nur Umstände beschrieben nach dem Motto „Sind schon Steine geschmissen worden? Hat es Verletzte gegeben? Hat die Polizei eingegriffen?“

Oder was unsere Bundesversammlung anbetrifft: „Wie viele Hunde laufen dort herum? Wie viele Babys sind im Saal? Wie viel Schmutz bleibt übrig, wenn die Grünen nach Hause gehen?“

Inhaltlich wird kaum etwas vermittelt und wenn, dann nur das, womit man meint, uns madig machen zu können. Das geht der Friedensbewegung genauso. Deshalb hatten wir in unserem Antrag auch gefordert, dass die Friedensinitiativen entsprechenden Zugang zu den Medien haben und zwar ohne Zensur. Uns war natürlich klar, dass dies nicht durchgeht; aber es war notwendig, das einzubringen.

Wenn eine Volksbefragung jetzt von uns aus in Gang gebracht wird, dann stellt sich eben das Problem der Öffentlichkeit. Wie weit gelingt es uns, eine eigene, eine Gegenöffentlichkeit herzustellen gegen die Medien.. Denn wir müssen wieder damit rechnen, dass – ganz abgesehen von unserer Lokalpresse hier – auch Fernsehen und überregionale Presse versuchen werden, die Volksgemüter ihrerseits zu beeinflussen.

Auch durch die Bundesregierung wird eine Militarisierung der Köpfe stattfinden. Sie wird versuchen, die Mehrheit auf ihrer Seite zu behalten oder auf ihre Seite zu ziehen. Das scheint für mich gerade auch bei Versuchen, eine Volksbefragung hier in Recklinghausen durchzuführen, ein ganz großes Problem zu sein.

D. (DKP): Für mich ist es eine wichtige Frage, inwieweit die Organisationseinheit, die sich hier in Recklinghausen herausgebildet hat, die Zusammenarbeit der Friedenskräfte, inwieweit diese Organisationseinheit erhalten werden soll und unter welchen Bedingungen sie überhaupt zu erhalten ist…

(Die DKP hat befürchtet, ihren Einfluss in der Friedensbewegung zu verlieren. Diesen Einfluss verdankte sie vor allem den organisatorischen Erfahrungen der Kommunisten und ihrem persönlichen Einsatz, sowie ihrer dialektischen Schulung. Da sie die Aktivsten waren, befand sich nahezu der gesamte organisatorische Bereich in ihren Händen. Ihr inhaltlicher, ideologischer Einfluss hingegen ist umstritten und wird sicherlich überbewertet. Kommunisten haben es zwar immer verstanden, Wasser auf ihre Mühlen zu lenken, aber die Partei hat nach 1968 wohl kaum davon profitiert. Anmerkung D. St., 1996)

Nach dem Statemant des Pfarrers meint G. (SPD), dass wir, „die hier am Tisch sitzen, wieder eine Organisationseinheit finden können. Wenn das in die Richtung geht, dass wir sagen, wir müssen jetzt nicht weiter fordern: ´Die Waffen weg!`, das ist klar, also darauf dürfen wir uns nicht festreiten. Sondern das militärische Denken, das dahinter steht, ist das, was eigentlich weg muss. Nämlich das Gleichgewicht des Schreckens hat ausgedient, und zweitens müssen wir deutlich machen, welche Verbindungen es zwischen Problemen im sozialen Bereich und in der Dritten Welt und der Rüstung gibt. Drittens als konkrete Forderung müssen wir versuchen, daraufhin zu kämpfen, dass der (Olaf) Palme-Vorschlag mehr Resonanz in der Bevölkerung findet, bekannt wird und als real angehbares Ziel begriffen wird.“

Allgemeine Zustimmung zum weiteren Ausbau der Friedensinitiativen in Recklinghausen.

D. St.: Ein Punkt ist der, den ich als Feindbildpsychose bezeichnen möchte in der Bevölkerung. Wir müssen, verbunden mit einem Sicherheitsbedürfnis, versuchen, diese Feindbildprojektionen in der Bevölkerung abzubauen. Diese Feindbildprojektionen, die sich zu einer Psychose, zu einem Bedrohungssyndrom verstärkt haben.

Nicht nur gegenüber der Bundesrepublik im Osten, sondern auch umgekehrt dem Osten gegenüber in der BRD. Nicht nur international, sondern auch innernational, in der Gesellschaft, beispielsweise in der Bundesrepublik. Ich denke da an die Angst vor den Ausländern. Das ist Angst, die sich zeigt als Forderung: „Ausländer raus!“ zum Beispiel. Eine soziale Angst der Bevölkerung, die ausgenutzt wird und verstärkt wird mit politischen Parolen, die älter sind als der Faschismus selbst…

Es gibt reichlich andere Bereiche, in denen dieses Feindbild auch
innergesellschaftlich vorhanden ist gegenüber allen möglichen Minderheiten. Wir müssen damit rechnen, dass dieses Feindbild jetzt auf die FB projiziert wird, noch mehr als bisher. Wenn nämlich in der FB Aktionen des zivilen Ungehorsams in Gang kommen, Aktionen so nach dem Motto: „Wir sind nicht aufzuhalten durch die Straßenverkehrsordnung“ und dergleichen. Wir müssen damit rechnen, dass man uns nicht nur kriminalisiert, sondern uns regelrecht zum Feind der Gesellschaft macht, also nicht nur zum Feind des Staates. Zum Verfassungsfeind kann man uns noch nicht machen. Auch das wird man möglicherweise versuchen. Aber man wird zumindest versuchen, uns in einen Gegensatz zur Gesellschaft zu bringen. Das, meine ich, sollten wir verhindern.

Einen Punkt dem entgegensetzen, einen emanzipatorischen Prozess in der Bevölkerung, in der Gesellschaft in Gang setzen, den Leuten Mut machen, ihre Interessen selber wahrzunehmen und zwar in allen Bereichen, nicht nur innerhalb der Friedensaktionen und der FB, sondern auch im sozialen Bereich für die 35-Stunden-Woche zu kämpfen.

Den Leuten Mut machen auf allen Gebieten, in allen Bereichen aktiv zu werden und sich nicht einlullen zu lassen und beschwichtigen zu lassen durch falsche Informationen, durch falsche Ansätze. Das, was ich als Alternative zu dieser Feindbildprojektion nennen möchte, sind Partnerschaft und Kooperation auf allen Ebenen innerhalb der Gesellschaft. Das heißt jetzt nicht prokapitalistisch; das System an sich muss in Frage gestellt werden, das kapitalistische Gesellschaftssystem, das selbst die zerstörerischen Kräfte mobilisiert und selbst gesellschaftsfeindlich ist. Sondern natürlich Kritik am kapitalistischen System; denn es ist eine Frage des Systems in der BRD, in Westeuropa, wie übrigens auch in Osteuropa. Auch das osteuropäische System muss sich ändern, muss weiterentwickelt werden, muss emanzipatorische Entwicklungen vorantreiben, die mir sehr blockiert scheinen in Augenblick.

Das heißt, wir müssen auch hier die emanzipatorischen Bedürfnisse der Menschen ansprechen und versuchen, sie zu entwickeln, umzusetzen in Aktivität. Wir müssen gegen – man nennt das – kompensatorische Interessen arbeiten. Ein Ausweichen vor Problemen. Ich erlebe dies in der Bücherei. Ich sehe das an dem, was die Leute lesen, womit sie sich befassen. Ich möchte den Leuten sagen: „Schmeißen Sie den Dreck weg! Lassen Sie den Dreck stehen! Wir müssen ganz was anderes heute lesen!“

Ich deute das oft an, ganz praktisch, nicht so pauschal. Anhand von Büchern. Ich gebe ihnen etwas anderes an die Hand. Ich meine, in dieser Richtung müssen wir arbeiten.

Noch ganz kurz zu der Friedensarbeit auch hier in Recklinghausen. Ich meine, der Pluralismus der Friedensbewegung muss bewahrt bleiben. Das heißt, die verschiedenen Positionen innerhalb der Friedensgruppen in RE müssen zum Ausdruck gebracht werden können, aber als Position der jeweiligen Gruppe und Initiative. Sie können natürlich nicht als Positionen der Gesamtinitiative dargestellt werden.

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