Angela Merkel – 16 Jahre Bundeskanzlerin. Eine Bilanz

„Regiere den großen Staat, wie man kleine Fische brät.“

Laotse: Tao Te King. Seidentexte von Mawangdui

Angela Merkel regiert seit 16 Jahren die Bundesrepublik Deutschland. Wie ist es möglich, den Staat durch solche Turbulenzen zu lenken, wie wir sie erlebt haben, ohne zu straucheln? Regiert sie, „wie man kleine Fische brät“? „Weise, gemäß dem Dao“: so, dass „sich die Kräfte ohne Reibungsverlust und ohne verzehrende Spannung“ „entfalten“ können?

Die Wirklichkeit ist prosaisch: Ihr wird Opportunismus vorgeworfen. Sie nutze alle Privilegien, die sie seit ihrer Jugend als Kulturbeauftragte“ (A. Merkel) in der sozialistischen Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) hatte. Es sei „normal“ gewesen, „viele Jahre in der FDJ Mitglied gewesen zu sein.“

Merkel: „Ich habe mir ein Leben als Wissenschaftlerin ausgesucht. Ich habe mir ein Studium ausgesucht, damit ich nicht so viele Kompromisse eingehen musste.“

„Doch welche Kompromisse“, fragen Kritiker, „ging sie in ihrer Vergangenheit dann tatsächlich ein? Erledigte sie für die Staatssicherheit vielleicht doch die ein oder andere Gefälligkeit im Gegenzug für ihren beruflichen Aufstieg und die Sicherheit vom Staatsapparat in Ruhe gelassen zu werden?“

[Quelle: Welt am Sonntag, 19. Juni 2005]

Angela Merkel hat ihre Sozialisation in der DDR erfahren und wurde vom Elternhaus, von der Gesellschaft und vom politischen System geprägt. Dementsprechend war sie angepasst und ging, karrierebewusst, schon damals den Weg des geringsten Widerstandes.

Das kann ich nachvollziehen: Ich war als Pimpf, dann als „Hitlerjunge“ (HJ), immer in Führungspositionen, habe eine Offizierskarriere angestrebt und wurde erst dezidierter Pazifist, nachdem ich an zwei Kriegen teilgenommen hatte, von Juli bis 45 am Zweiten Weltkrieg und von 1951 bis 1954 als Parachutist in der französischen Fremdenlegion am Indochinakrieg.

Ihr Politikstil wird im Wesentlichen von ihrem naturwissenschaftlichen Beruf bestimmt. Sie ist Physikerin, da zählen Zahlen, Daten und Fakten – die exakte Analyse. Eine Grundvoraussetzung für alle Entscheidungen. Die andere: sich von einem Team kompetenter Berater*innen aus allen wichtigen Ressorts und aus den unterschiedlichsten politischen Lagern zu umgeben.

Drei Beispiele:

Peter Altmaier, katholisch-konservativ, seit dem 14. März 2018 Bundesminister für Wirtschaft und Energie, ein in vielen innen- und außenpolitischen Funktionen erfahrener Beamter.

Maja Göpel, eine junge (* 1976) Transformationsforscherin, Politökonomin, Nachhaltigkeitswissenschaftlerin und Hochschullehrerin.

Sie hat ein immenses Wissen, denkt systemisch und ökologisch. Sie hinterfragt die weltweiten Krisen in Umwelt und Gesellschaft: „Sie offenbaren, wie wir mit uns und dem Planeten umgehen, auf dem wir leben.“ Wenn wir diese Krisen meistern wollen, schreibt sie, „müssen wir uns die Regeln bewusst machen, nach denen wir unser Wirtschaftssystem aufgebaut haben. Erst wenn wir sie erkennen, können wir sie auch verändern – und unsere Freiheit zurückgewinnen.“

Mehr über sie und ihr Buch „Unsere Welt neu denken: Eine Einladung„ im Zeitfragenblock unter 

https://stahlbaumszeitfragenblog.wordpress.com/?s=Maja+G%C3%B6pel

Christian Drosten, Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie ,„der nichts beschönigt und nichts dramatisiert. Der abwägt und korrigiert, der sagt, wenn er etwas nicht weiß oder am Vortag zu kurz gedacht hat. [Der Stern am 17. März 2020]

Die Kanzlerin hat die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, zu erkennen, was andere Menschen fühlen und denken.  (Empathie) Und sie hat Mitgefühl.

Dies zeigt sich in den Talkrunden und bei der Videoschalte mit Bürger*innen, die mit den Corona-Beschränkungen große Probleme haben, auch als sie seit 1915 rund 800 000 Flüchtlinge in der BRD aufnahm; die meisten von ihnen waren Syrier.

Sie hat einen ganzheitlichen Ansatz, aber sie überschreitet nicht die Grenzen des Systems, dem sie verhaftet bleibt. Sie will den Kapitalismus zwar reformieren und kontrollieren, menschlicher gestalten und scheitert daran, denn im Kapitalismus zählt allein der Profit, und der geht über Leichen.

Das beweisen die deutschen Waffenexporte in alle Welt, in Kriegs- und Krisengebiete. „Die hemmungslose Lieferung von Waffen in Spannungs- und Kriegsgebiete zeigt, dass nicht einmal die immer wieder viel beschworene Kontrolle von Rüstungsexporten funktioniert. Denn „während die UNO zum weltweiten Waffenstillstand aufruft, um die Coronavirus-Pandemie zu bekämpfen, gießt die Bundesregierung mit ihren Kriegswaffen in Krisengebiete weiter Öl ins Feuer“, erklärt Sevim Dagdelen.´Wir brauchen einen sofortigen Waffenexportstopp und eine Umstellung der Rüstungsindustrie auf zivile Güter wie beispielsweise medizinische Geräte. Es ist Zeit, für das Leben statt für den Tod zu produzieren. Ziel muss es sein, dass in Zukunft kein Arbeitsplatz in Deutschland mehr vom Export von Kriegswaffen und Rüstungsgütern abhängig ist.`“ [Geschäft mit Kriegswaffen boomt. Nachricht von Sevim Dagdelen, MdB DIE LINKE am 16. Juli 2020]

Hier fehlt der Bundeskanzlerin der Mut und – ich vermute – auch der Wille, sich gegen Parteigenossen, die für die Rüstungslobby arbeiten, durchzusetzen und auf Parteispenden der Rüstungsindustrie zu verzichten.

Rüstungslobby im Bundestag

Einige Mitglieder des Verteidigungsausschusses des Bundestags sind auch im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik (DWT). Bis vor kurzem gaben das aber nicht alle an, wie die Neue Westfälische Zeitung berichtet.

In dem Verein, der als Lobbyorganisation der Rüstungsindustrie gilt, seien neben anderen Mitgliedern des Verteidigungsausschusses auch (…) Wolfgang Hellmich (SPD). Im Gegensatz zu den anderen hat (…) Hellmich das aber bis vor kurzem nicht angegeben. Dass Abgeordnete ihre Nebentätigkeiten verschweigen, ist der Neuen Westfälischen zufolge nichts Neues. Bereits 2009 habe ein ähnlicher Fall für Empörung gesorgt. Damals hätten sogar fünf Abgeordnete ihre Nebentätigkeit in Vereinen, die der Rüstungsindustrie nahestehen, verschwiegen

.Abgeordnete für Rüstungs-Lobby aktiv, [nw-news.de, 16.08.2014]

Die Politik wird in allen kapitalistischen Staaten von zum Teil transnationalen Konzernen beherrscht. Sie sind einzig und allein profitorientiert und entscheiden je nach Lage der Dinge über Krieg und Frieden, Wohlstand oder Elend, Wahrung oder Missachtung der Menschenrechte, mehr oder weniger Demokratie. 

Von ihnen werden auch in Deutschland Regierungsparteien und einzelne Regierungsmitglieder, Abgeordnete und Beamte, mit gestückelten Großspenden gekauft, damit und ihrer Regierung helfen, sich die Option zu einem nuklearen Erstschlag, zu einem Präventivschlag der NATO offenzuhalten und die Entwicklung immer neuer, immer effektiverer Waffensysteme zu fördern, die sich der Kontrolle entziehen und selbständig agieren.

Die CDU ist kein monolithischer Blog. Es gibt erhebliche Widerstände gegen Merkels Politik, links und rechts.

Die Kanzlerin bemüht sich, die Widersprüche der Partei aufzufangen, sie „auszusitzen“ und eine Spaltung zu verhindern.

Sie war auf dem richtigen Weg. Sie ist dann aber im Korruptionssumpf stecken geblieben.

Maja Göpel: „Unsere Welt neu denken: Eine Einladung“ (Rezension)

Lb-Mhs. Bauer, Marl, Corona-Pandemie-Kritik, 07.04.2020
Am 7. April 2020 in den Zeitungen des Medienhauses Bauer, Marl

Rezension Maja Göpel ´Unsere Welt neu denken` beim Mhs, Bauer, Marl, 09.04,2020
Gebundene Ausgabe € 17,99,  E-Book € 16,99

Cover Maja Göpel

Klappentext: Maja Göpel ´Unsere Welt neu denkern`- Klappentext
Klappentext

Die Ereignisse überschlagen sich derart, dass Maja Göpels Buch überholt zu sein scheint. Als sie es schrieb – es erschien am 28. Februar 2020 –, war die Corona-Pandemie noch nicht ausgebrochen.

Nach heutiger Kenntnis ist das Virus erstmals Ende Dezember 2019 in einer chinesischen Großstadt von Fledermäusen und beim Handel mit lebenden Tieren auf Menschen übertragen worden. Es hat sich rapide zu einer Pandemie entwickelt und sich weltweit ausgebreitet.

Maja Göpels Buch ist dennoch hochaktuell. Die junge (* 1976) Transformationsforscherin, Politökonomin, Nachhaltigkeitswissenschaftlerin und Hochschullehrerin hat ein immenses Wissen, denkt systemisch und ökologisch. Sie hinterfragt die weltweiten Krisen in Umwelt und Gesellschaft: „Sie offenbaren, wie wir mit uns und dem Planeten umgehen, auf dem wir leben.“ Wenn wir diese Krisen meistern wollen, schreibt sie, „müssen wir uns die Regeln bewusst machen, nach denen wir unser Wirtschaftssystem aufgebaut haben. Erst wenn wir sie erkennen, können wir sie auch verändern – und unsere Freiheit zurückgewinnen.“

Maja Göpel ist weltweit vernetzt und in vielen internationalen wissenschaftlichen und politischen Gremien und auf Kongressen aktiv. Sie hat sich der von Greta Thunberg gegründeten Klimaschutzbewegung „ Fridays for Future“ angeschlossen und scheut sich nicht, auch auf der Straße, in Berlin vor dem Bundestag und in Washington vor dem Weißen Haus  zu demonstrieren.

Ihr Buch hat mir viele neue Erkenntnisse gebracht und lauter Aha-Erlebnisse.

Ihr Scharfsinn und ihr kritischer Blick, ihre ganzheitliche Sicht, ihre Fähigkeit, so zu schreiben, dass nahezu alle, die lesen können, sie verstehen, sogar Teenager, sind unübertroffen. Nur so können möglichst viele Menschen erreicht und motiviert werden.

Der Versand des Buches hatte sich durch die Corona-Kontaktsperre verzögert. Ich kenne die berechtigte Kritik an dem Konzern. Aber betrifft das nicht das gesamte kapitalistische System? Die Digitalisierung („KI“) könnte – das hält auch Maja Göpel*) für möglich – den Kapitalismus vollkommen transformieren und völlig neue Verhältnisse schaffen, demokratische.

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->  https://de.wikipedia.org/wiki/Maja_G%C3%B6pel

[Unsere Welt neu denken: Eine Einladung, Berlin 2020]

 

 

Wilhelm Neurohr: „Die abstruse Auffassung von sozialer Gerechtigkeit“

Kommentar zur aktuellen politischen Debatte pro und kontra Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger:

Bei der politischen Debatte Pro und Contra Aufhebung der umstrittenen Hartz-IV-Sanktionen bringen die hartnäckigen Sanktionsbefürworter (auch aus Reihen der Gewerkschaftsführung und Sozialdemokraten) haarsträubende Begründungen vor: Die Steuerzahler als Finanzierer der Sozialleistungen hätten „aus Gerechtigkeitsgründen“ ein Anrecht darauf, dass Arbeitslose sich den erzieherischen Sanktionsregeln gefälligst unterwerfen. (Wohlgemerkt: Wir reden hierbei über Maßregelungen für mündige Menschen im Erwachsenenalter mittels Kürzungen ihres menschenrechtlich zustehenden Existenzminimums bei Regelverletzungen, die wir uns für sie als unerbittlichen Anpassungszwang ausgedacht haben).

Als Steuerzahler finanzieren die Sanktionsbefürworter aber nicht nur die knapp bemessene Sozialhilfe für Bedürftige, sondern auch die üppigen Diäten und Gehälter für Berufspolitiker und die überdurchschnittlichen Pensionszahlungen für Beamte sowie die Gehälter der obersten kirchlichen Würdenträger, (auch als Nicht-Kirchenmitglieder). Und sie finanzieren vor allem die fragwürdigen Subventionen für Unternehmen und deren großzügigen Steuernachlässe sowie die Steuergeschenke für die Superreichen (durch staatlichen Verzicht auf angemessene Vermögens- und Erbschaftssteuer und unzureichende Kontrolle der Steuerflüchtigen).

Welche Forderungen „aus Gerechtigkeitsgründen“ und zur Kontrolle ihrer Steuergelder müssten also die Sanktionsbefürworter deshalb in erster Linie für diese teuren Leistungsempfänger erheben statt für die Sozialhilfeempfänger? Zumindest müssten sie konsequenterweise auch Sanktionen verlangen etwa für Abgeordnete, die ihre Plenarsitzungen häufig schwänzen, lukrativen Nebentätigkeiten nachgehen oder ihrer Berichts- und Transparenzpflicht gegenüber den Wählern nicht nachkommen. (Wehe dagegen dem Sozialhilfe-Empfänger, der heimliche minimale Nebeneinkünfte nicht korrekt angibt zwecks Abzugs). Und von den Beamten müssten sie neben zeitnaher Bearbeitung von Bürgeranträgen angemessene Rentenbeitragszahlungen für deren späteren überdurchschnittlichen Spitzenpensionen einfordern, von denen Arbeitnehmer nur träumen können.

Die in Zukunft steigenden Pensionslasten der Beamten einschließlich Beihilfen kosten den Steuerzahler insgesamt 650 Mrd. € (Quelle: Handelsblatt+Wirtschaftswoche). Und 25 Mrd. € gibt der Bund jährlich für Subventionen aus, das sind 300 €, die jeder Bürger dafür im Jahr zahlt.(Quelle. Bundesrechnungshof und Steuerzahlerbund). Dagegen belaufen sich laut amtlichen Quellen die Kosten für Hartz IV auf jährlich ca. 21 Mrd. € zuzüglich 6,5 Mrd. € Unterkunftskosten, bzw. die Sozialhilfekosten insgesamt auf 25 Mrd. € Bruttokosten im Jahr.

Welche Kosten bereiten den Sanktionsbefürwortern nach ihrem Gerechtigkeitsverständnis die meisten Bauchschmerzen? Ihre Sanktionsforderungen beschränken sich auf Zuwendungskürzung und Bestrafung nur für diejenigen am untersten Existenzminium und Rand der Gesellschaft. Indem staatliche Politik unter dem Beifall der Medien dem stattgibt und damit von den eigentlichen sozialen und steuerlichen Ungerechtigkeiten in diesem einstigen „Sozialstaat“ geschickt ablenkt, haben deren neoliberalen Steigbügelhalter ihr vorläufiges Ziel erreicht. Damit haben sie aber auch Wasser auf die Mühlen der AfD-Wähler gegossen. Ob sie das nicht bemerken oder billigend im Kauf nehmen unter Vergießen von Krokodils-Tränen?

Wilhelm Neurohr

 

Zwei Lebensläufe

Zwei Lebensläufe, zwei Auffassungen, zwei Ansichten, zwei Denkweisen, zwei (Welt-) Anschauungen, zwei Lebensweisen –  da zeigt sich, wie Ereignisse, Menschen, Zufälle, wie das, was wir erfahren haben und was uns widerfahren ist, uns tief beeinflusst hat, prägt. Unsere Erinnerungen mögen verblassen; manches scheint vergessen zu sein, nicht mehr rückholbar und ist ins Unbewusste verdrängt worden, weil wir es als bedrohlich, als peinlich oder auch als unwichtig empfunden haben. Dennoch ist die Vergangenheit, die wir erlebt und erfahren haben und die teilweise nicht mehr in unserm Gedächtnis ist, vorhanden. Sozusagen in der Cloud, und uns fehlt das Passwort, der Schlüssel, um Einzelheiten abzurufen, und wir bilden uns Ereignisse und Dinge ein, die es nicht gab oder die anders waren.

Du schreibst, lieber . . .:  „Aus mir ist ein Familienvater mit 3 Kindern geworden, der sich den gesellschaftlichen Konventionen angepasst hat und gut bürgerlich sein Leben gelebt hat.“ Aus mir ist ein Familienvater mit 3 Kindern geworden, der sich den gesellschaftlichen Konventionen nicht angepasst hat und das Bürgertum, seine Herkunft, seine Geschichte und sein Wirken erforscht und kritisch hinterfragt hat.

Gesellschaftskritik ist einer meiner Schwerpunkte, auch heute. Dabei habe ich mir nicht nur Zustimmung eingehandelt, sondern zum Teil auch erhebliche Nachteile, in den 70er Jahren sogar eine rechtswidrige Kündigung durch einen nationalkonservativen Bürger und Unternehmer, dem meine gewerkschaftlichen Aktivitäten nicht gepasst haben, darunter Aufklärung der Belegschaft über ihre Rechte und Ermunterung, ihre miserablen und ihre Gesundheit gefährdenden Arbeitsbedingungen nicht unterwürfig hinzunehmen.

Aktiv im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, entstand damals diese realsatirische Geschichte: »Ein Schuss vor den Bauch. Alte Geschichte, wieder aufgetaucht« →  https://stahlbaumszeitfragenblog.wordpress.com/?s=Ein+Schuss+vor+den+Bauch

Seitdem habe ich Foto- /Text-Reportagen über politisch und ökologisch relevante Ereignisse in Deutschland und Frankreich veröffentlicht (Vorträge, Ausstellungen).

Woher meine kritische, mitunter skeptische Einstellung kommt? Sie entstand bereits, als ich in der Nazizeit den Konfirmandenunterricht verweigerte und, indoktrinierter Pimpf, dem Pfarrer sagte, Jesus sei Jude gewesen, und er, ich vermute, ein Deutscher Christ (DC), darauf  geantwortet hat: „Jesus  war blond wie du. Er war kein Jude.“  Das war in Friedland.

Dieter als Pimpf
Dietrich Stahlbaum als Pimpf

Ich war hell-, nicht dunkelblond und machte mir die Haare nass, um älter auszusehen.

Karlheinz Deschner PKarte

Später habe ich fast die gesamte Religions- und kirchenkritische Literatur gelesen (u. a. Voltaire, Ludwig Feuerbach, Kant, Marx, Sigmund Freud, Karlheinz Deschner, arabische und israelische Historiker und Archäologen…) und bin Agnostiker und Atheist geworden.

In Vietnam (1951-54) begegnete ich Buddhist*innen und las später buddh. Literatur, z.B. die überlieferten (Pali-) Urschriften der Reden und Lehren des Gautama Buddha. Auch er war Agnostiker und lehnte den Gottesglauben und den hinduistischen Glauben an eine „Ewige Seele“ ab.

Die Begegnungen mit Buddhist*innen haben mich zum zeitdokumentarischen Roman »DER RITT AUF DEM OCHSEN oder AUCH MOSKITOS TÖTEN WIR NICHT« angeregt. →  https://www.bookrix.de/_ebook-dietrich-stahlbaum-der-ritt-auf-dem-ochsen-oder-auch-moskitos-toeten-wir-nicht/

Der Deserteur ist Miros, mein zweites Ich, eine Kunstfigur. Ich hätte nur zu den Vietminh desertieren können. Das wollte ich nicht. Ich war längst Pazifist und, wie Goethe, Dag Hammarskjöld, Camus, Bertrand Russell, Kosmopolit.

Soweit ein kleiner Ausschnitt aus meiner Vita. Mehr in meinen Schriften. Siehe E-Books.

Allen Leserinnen und Lesern meiner Webseiten diesseits und jenseits des Atlantiks und anderer Meere wünsche ich friedliche, besinnliche und erholsame Feiertage und viele positive Energien im kommenden Jahr!
Meilleurs vœux de Noël et de Nouvel An à toutes mes amies et à tous mes amis!
Merry Christmass and good wishes for the New Year!

 

 

Heidi Beutin/Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Rezension von Hartmut Henicke

   Dieses Werk des Ehepaares Beutin ist die wichtigste Publikation zum Themenjahr 2018 „Weltkriegsende/Novemberrevolution“. Die Autoren haben es ihren nahestehenden, insbesondere verstorbenen wissenschaftliche Weggefährten gewidmet. Diese Geste bewegt, wenn man das Buch gelesen hat.

    Die Autoren bekennen ausdrücklich, sich dem Thema als Literatur- und Kunsthistoriker anzunähern. Sie tun das auf höchstem theoretisch-methodischem Niveau und gleichzeitig mit faszinierend souveräner literarischer Leichtigkeit. Dieses Buch liest sich so weg. Und es ist anregend, weil so gut nichts offen bleibt. Auch dort, wo wichtige Fragen „nur“ ansatzweise beantwortet oder tangiert werden, hallen als sie dem konzentrierten Leser wie die Reststrahlung des Urknalls als Denkimpulse nach. Auch darin reflektiert sich Kompetenz und Meisterschaft, wie in den souverän das Quellenmaterial tief durchdenkenden Antworten und Urteilen. Ihrer Absicht, die deutschen Intellektuellen im Kontext der Novemberrevolution zu zeichnen werden die Autoren virtuos gerecht. Dieses „Who‘s Who?“ der deuschen Novemberrevolution lässt keine soziale, politische und ideologische Richtung der Kategorie Intelligenz aus. Mit ihren umfangreichen Personendossiers haben Heidi und Wolfgang Beutin einen entscheidenden Teil des historischen Subjekts dieser Revolution und Gegenrevolution definiert, klassifiziert, teilweise meisterhaft psychologisiert, in soziale, politische und kulturelle Zusammenhänge gestellt. Ihre Arbeit hat hohen Quellenwert. Die Auswahl des Zitierten ist treffend wie die Wertung. Das Spannende dieser Studie ist die breite, logisch klassifizierte Differenzierung zwischen Revolution und Konterrevolution aber auch innerhalb der politischen Lager bzw. ideologischen Richtungen. Mit ihren Persönlichkeitscharakteristiken präsentieren die Autoren nicht nur ein breites Spektrum von Ansichten, die den Erkenntnisprozess eines historischen Umbruchs reflektieren, sondern auch Erfahrungen, spontane Gefühle reflektieren. Die Begegnung Rosa Luxemburgs und Tilla Darieux – eine marginale Sekunde im Epochenwechsel während des Innehaltens und doch so bezeichnend für das, was geschah. An dieser Stelle versteht der Leser den Titel des Buches.

   Er hört die „Fanfaren einer neuen Freiheit“ im Hintergrund. Die Beutins vermessen ihren Forschungsgegenstand, die Intelligenz, nicht im Entferntesten mit den ideologischen Rastern, die sich aus der ideologischen Versteinerung nach den Weltkriegsrevolutionen insbesondere seit dem Ende der 1920er Jahre ergaben.

Dieses Buch ist das Elektrokardiogramm der Geisteshaltung im Deutschland des verlorenen Weltkrieges in aller psychologischen und ideologischen Sensibilität und Genauigkeit. Es spiegelt die subjektive Verfasstheit der Menschen dieses Landes, die den Aufbruch in die neueste Moderne antraten, die realen subjektiven Rahmenbedingungen der Erneuerungsalternative. Als Leser getraut man sich nicht einmal den überheblichen Gedanken, die Intellektuellen von den proletarisierten verelendeten Klassen abzuheben, zumal die Autoren eben auch die politisch ahnungslosen Intellektuellen, Künstler, Literaten meisterhaft zeichnen. Andererseits: Diejenigen namhaften bekannten, ach heute wieder vergessenen Persönlichkeiten, die in Beutins Buch den größten Epochenkonflikt des neuen Jahrhunderts reflektieren, waren allesamt keine Durchschnittsmenschen, sondern Denker, Künstler, Moralisten, Literaten, Journalisten, Politiker, Parteifunktionäre, einschließlich der politisch hochgebildeten Arbeiterbewegung, Reagierer auf die spontane Revolte qualifizierter kriegsmüder Matrosen, Soldaten und Proletarier. Diese Literaten, Philosophen, Wissenschaftler und Politiker aller Klassen mussten nicht nur das Geschehen interpretieren, sondern persönliche Entscheidungen treffen. Sie standen vor der epochalen praktischen Gestaltungsaufgabe, aus dem Regimezusammenbruch und der spontanen sich zur Revolution ausbreitenden Revolte eine historische tragfähige Zukunftsalternative zu denken und zu entwickeln, deren Parameter zum einen durch die Siegermächte vorgegeben waren und zum anderen von den Räten der Matrosen, Soldaten und Arbeiter, die gleichermaßen der intellektuellen Führung Deutschlands Angebote machten. Ihnen standen die gegenüber, die mit der alten zusammengebrochenen Welt unterzugehen drohten. Das waren jene unter den gebildet und erfahren Denkenden, die nicht über den Schatten ihrer Werte und Ansichten der Vergangenheit springen konnten. Zwischen Hoffnungen und Ängsten, Humanismus und Hass, Einsicht und Tradition schwankten die großen Geister der Nation, auch der elitären Klassen und Schichten. Harry Graf Kessler, Walter Rathenau, die Gebrüder Thomas und Heinrich Mann, Epochengestalten. Die Autoren benötigen nur Absätze, um dies deutlich zu machen.

   Beutins Arbeitsergebnis zeigt, an einem ungewöhnlich breiten Personenkreis, wie dieser dachte und agierte. Was die Autoren diesbezüglich präsentieren und kommentieren, hat erstrangige Bedeutung für das Verständnis des Missverhältnisses zwischen historisch materialistischer Analytik der kausalen gesellschaftlichen Zusammenhänge und der subjektiv differenzierten in der logischen Konsequenz dahinter zurückbleibenden Wahrnehmung und sich daraus ergebender Handlungsweise. Die Autoren reflektieren bis in die marxistische Linke hinein de facto die Folgen der im wilhelminischen Kaiserreich in den Köpfen seiner intellektuellen Elite gebrochenen Geistesgeschichte. Und auch im marxistisch linken Lager erkennen und benennen die Autoren deren Grenzen. Diese Abschnitte sind so stark, dass darauf näher eingegangen werden muss, auch wenn alle in diesem Buch behandelten theoretisch-methodischen Aspekte eine rezeptive Diskussion verdienen, was in diesem Rahmen nicht möglich ist und deshalb aber anempfohlen wird. Die Jahrhundertjubiläen sind noch nicht vorbei und die Rezeptionsthemen findet man in Beutins „Fanfaren“.

   Die Autoren spiegeln in erster Linie und mit Sympathie die Rationalisten, Idealisten, Illusionisten, Pazifisten und Linken. Und sie sehen diese mit anderen Augen als Volker Weidemann in seinem Buch „Träumer“ nicht als Spinner und konzeptionslose vom Volk zeitweilig geliebte Narren, sondern eben als moralischen Werten und einer humanistischen Ethik verpflichteten Literaten, von denen ohne politisches Herrschaftswissen und ökonomische Analytik nichts anderes verlangt werden kann als Charisma, selbstloses leidenschaftliches Engagement bis zur Hingabe, auch Fehler und Konzeptionslosigkeit. Politik, insbesondere in revolutionären Krisensituationen ist bis zur geordneten arbeitsteiligen Kooperation von neuen Führungskräften und Strukturen eine spontane sich allmählich organisierende vor allem emotionale Aktion. Aus dieser Aktion entwickelt sich aus der Leidenschaft auf der einen und der lähmenden Paralyse auf der anderen Seite erst allmählich die kühl, auch machiavellistisch kalkulierte strategisch-taktische Konzeption auf den sich polarisierenden ideologischen und Interessen gesteuerten Flügeln der Revolution. Den Autoren ist dies klar und wegen dieses Standpunktes bewerten sie die Revolutionsliteraten höher als der Autor der „Träumer“. Worin aber der darüber hinausgehende Wert dieses Buches besteht, ist die sehr akzentuierte Differenzierung der marxistischen Linken. Die Autoren stützend sich dabei auf die Biografie-, und Sachthemen-Experten, wie die Bezugnahmen im Anmerkungsapparat erkennbar machen. Aber in der Kernaussage darf von der Eigenleistung der Autoren ausgegangen werden. Die Charakterisierung der Erkenntnisgrenzen Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs gehört, wie schon zuvor im Falle Kessler, Rathenau, Manns u.a. zu den stärksten erkenntnistheoretischen Leistungen, auch wenn Rosa Luxemburg betreffend, der Rezensent Einwände geltend macht, die sich vor allem auf die bei Eberhard Kolb zitierten „Grundannahmen in der sozialistischen Lehre“ beziehen. Auch wenn Rosa Luxemburg gleichfalls diesen Grundannahmen aufsaß, war ihre Geschichtsauffassung keinesfalls diesem eher Kautskyanischen und russischen Gesellschaftsphilosophieverständnis als dem Labriolas Philosophie der Praxis im Sinne der Feuerbachthesen näher. Wie schwer der Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie, politischer Ökonomie und Politik in der Aktion im Krisenmoment wirkt, erfährt die Menschheit in jedem neuen Konflikt. Dass selbst die theoretisch weitsichtigsten Köpfe in den Momenten versagten, in denen sie sich den Sternen so nahe wähnten, ist vielleicht ein Grund, neu über theoretisch begründeten Pragmatismus oder Machiavellismus nachzudenken. Dass die Gegenrevolution, die in diesem Buch in dieser Hinsicht unterbelichtet ist, was dem keinen wirklichen Abbruch tut, aber immerhin daran gemahnt, dass Lassalle als erster das Problem erkannt hatte, sei hier angemerkt. In diesem Zusammenhang sollen von den vielen theoretisch-methodisch anregenden Fragen nur noch vier aufgegriffen werden sollen.

   Erstens: Problematisch mit Blick auf die faschistische Diktatur, wenn auch nicht ganz abwegig im Hinblick auf die frühzeitige parallele Konterrevolution ist die revolutionstheoretische Interpretation des Staatsrechtlers Hugo Preuß durch die Autoren im Hinblick auf den engeren nationalen Revolutionszyklus in Anlehnung an die Französische Revolution und dessen missverständlicher Hinweis auf die Militärdiktatur als notwendige Zurückführung der radikalen Revolution auf ihr objektives Maß. (S. 35) Im Kontext mit dem nachfolgenden Abschnitt, der „Die Konterrevolution“ thematisiert, ist das einst von Friedrich Engels als allgemeingültig gezeichnetes Revolutionsschema falsch. Denn es gab in der deutschen Novemberrevolution kein radikal verfolgtes utopistisches Ziel, dass durch zeitweilig überhöhte Radikalität durch einen Thermidor auf das objektive Revolutionsziel zurückgeführt werden musste. Im Gegenteil: Selbst Spartakus verfolgte sozioökonomisch wie staatspolitisch mit der Rätedemokratie allein ein konsequent radikaldemokratisches Ziel. Und auch die Rätemacht war keinesfalls a priori eine kommunistische Machtstruktur. Sie wurde von Anfang an, weil situationsbedingt, partiell selbst im bürgerlichen Lager adaptiert. Die Soldatenräte prägten wegen ihrer sozial heterogenen Zusammensetzung ohnehin den klein- und bürgerlichen Charakter der Revolution und mehr noch die rechtskonservative nationale Bürgerrätebewegung eben den nichtproletarischen. Doch allein die verschwindende Minderheit der rätekommunistischen Linken als marginalen Ausdruck revolutionärer Radikalität zu bagatellisieren und damit deren Überbewertung durch die konservative Rechte zur Begründung gegenrevolutionärer Brutalität als hinterhältige Meinungsmanipulation zu bewerten, ist wissenschaftlich nicht korrekt. Von der Spartakusgruppe bis in die USPD hinein und auch über diesen Parteirahmen hinaus, wie die Beutins u.a. mit dem Beispiel Rathenaus zeigen, wurden die „bolschewistischen“ Sowjets tatsächlich als Vorbild bzw. Modernisierungsvariante verstanden. Bremen und Bayern bewiesen, den radikalrevolutionären Charakter des Rätegedankens, wie die Autoren kenntlich machen. Vom Gegenrevolutionären Standpunkt war die Bekämpfung des „Bolschewismus“ deshalb logisch konsequent. Daran ändert die Selbstentmachtung des Zentralrates der Arbeiter und Soldatenräte gar nichts. Auch wenn die deutschen Rätevorwiegend als basisdemokratischer Ansatz bewertet werden, enthalten sie wie die Autoren unter Berufung auf die seinerzeitigen Akteure zeigen, systemveränderndes Potenzial, wie auch die Räterepubliken aber auch der Rätekommunismus im Gegensatz zum Parteikommunismus beweisen. Leider fokussieren sich die Autoren ideologieanalytisch allein auf den Antisemitismus und Rassismus der Rechten. Das Wesentliche war aber die Adaption des Sozialismus in seiner nationalen Mutation.

   Nationalsozialismus ist war der offensive Ausdruck der historischen Defensive. Obgleich der Name Eduard Stadtler auf der Seite der Konterrevolution viermal erwähnt wird, bleibt diese Person als einer der wichtigsten ideologischen Repräsentanten und Aktivisten der Rechten unterbelichtet. Stadtler der Initiator, Agitator und Organisator des Präfaschismus schaffte es nicht zuletzt mit seinen Erfahrungen im revolutionären Russland, den Spitzen der deutschen Wirtschaft 500 Mio Reichsmark für die Kriegskasse der Gegenrevolution abzunehmen. Seine Vorträge und Schriften verdienen als historische Quelle Aufmerksamkeit. Als Inspirator des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hat er wohl die treffendste Charakteristik der von rechts wahrgenommenen Gefährlichkeit der intellektuellen linken Führungskräfte und damit auch des Kräfteverhältnisses von Revolution und Konterrevolution gegeben.

   Zweitens: Die Auseinandersetzung der Autoren mit dem Verratsvorwurf gegen die regierende Führung der Mehrheitssozialdemokratie, denen schon von linken Zeitgenossen ein bürgerlicher Standpunkt zugeschrieben wird, von dem aus sie gar keinen Verrat begehen konnten, scheint in diesem Sinne zwar argumentativ plausibel, ist aber logisch nur eine andere Lesart des Verratsvorwurfs. Denn es war nun einmal die Sozialdemokratische Führung, die ihre eigene programmatisch erklärte „soziale Revolution“ verriet. Theoretisch scheinen auch 100 Jahre danach wichtige Probleme immer noch unklar zu sein, was keinesfalls den Autoren Beutin angelastet werden kann. Berücksichtigt man allerdings das marxistisch induzierte Erfurter Parteiprogramm steht staatsrechtlich dahinter nichts anderes als eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie mit sozialem Charakter, auch sehr weitgehenden Sofortforderungen, die noch nie erfüllt wurden. Dieses Ziel hat die MSPD-Führung ebenso wenig verraten, wie der Parteivorsitzende Ebert, der seinen Parteifreund Scheidemann dafür wütend rüffelte, weil dieser mit der Ausrufung der Republik der Nationalversammlung zuvorkam. Eberts tradiert stures weltfremdes Demokratieverständnis verkannte, dass die elementaren tatsächlichen systemischen Veränderungen von der revolutionären Aktion und nicht von den parlamentarischen Gremien hervorgebracht werden. Die deutsche Revolution war von Anfang an mit dem Defizit einer unglaublichen Leichtgläubigkeit und Illusion gegenüber der Gegenrevolution belastet. Das zeigte sich sowohl in der Delegierung der revolutionären Beseitigung der materiellen Grundlagen des preußischen Ancien régimes (Großgrundbesitz, Beamten- und Militärapparat) vom Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte an die Nationalversammlung wie an der Rückgabe des beschlagnahmten Büros der Antibolschewistischen Liga durch die revolutionären Matrosen. Und das Sozialisierungsprojekt war de facto mit dem Stinnes-Legien-Pakt erledigt.

   Drittens: Eduard Bernstein prognostizierte 1899 in seiner theoretischen Grundlegung des Reformismus den Marx’schen Begriff „Diktatur des Proletariats“ als Charakterisierung des künftigen Staatstyps mit folgendem bedenkenswerten knappen Absatz: „Die Diktatur des Proletariats heißt, wo die Arbeiterklasse nicht schon starke eigene Organisationen wirtschaftlichen Charakters besitzt und durch Schulung und Selbstverwaltungsköper einen hohen Grad von geistiger Selbständigkeit erreicht hat, die Diktatur von Klubrednern und Literaten. Ich möchte denjenigen, die die Unterdrückung und Schikanierung der Arbeiterorganisationen und Ausschluss der Arbeiter aus der Gesetzgebung und Verwaltung den Gipfel der Regierungskunst erblicken, nicht wünschen, einmal den Unterschied in der Praxis zu erfahren. Ebenso wenig würde ich es für die Arbeiterbewegung selbst wünschen.“ (Bernstein, Voraussetzungen des Sozialismus… Dietz Berlin 1991 [1899], S.206 f.) dieses Resümé, ob als Vorwegnahme einer vorgeblich im proletarischen Interesse mit revolutionärem Terror durchgesetzten parteirichtungsideologischen Minderheitenrevolution und ihrer verheerenden Folgen oder als blanquistische Fehlinterpretation der Marx/Engels‘schen Schlussfolgerungen aus Pariser Kommune, entspricht de facto der Luxemburgschen Kritik an der Russischen Revolution zwei Jahrzehnte später.

    Viertens: Die Autoren haben mit ihren „Fanfaren der Freiheit einen bemerkenswerten Ansatz für die Bewältigung der Vereinigung von revolutionärer Spontaneität und intellektuellem Potential im Zusammenbruchsaugenblick gewählt und gefunden. Und sie machen sich die Darstellung des Problems nicht mit den Stereotypen des Klassenstandpunktes leicht, die den Intellektuellen nach leninistischer Lesart in den Pro- und Konterrevolutionär teilen. Sie stellen aber am Ende trotz ihres wichtigen Rückgriffs auf frühere Geschichtsepochen bis zurück in die Antike dennoch nicht die Gretchenfrage, mit der das Problem der Spaltungen sowohl in der modernen Kapital- und Lohnarbeitsgesellschaft, der Intelligenz aber auch innerhalb des sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Lagers sowie speziell der intellektuellen Linken im engeren Sinne erklärt werden kann: nämlich die erkenntnistheoretische und damit philosophische Frage nach der historische materiellen Determiniertheit und wechselseitigen Beeinflussung aller Gesellschaftserscheinungen und dem daraus resultierenden permanenten konkret-praxisorientierten Erkenntnis- und fortwährendem Theorieentwicklungsprozess im Gegensatz zum ideellen, von humanistischen und bürgerlichen Freiheitswerten bestimmten. Umso höher ist die marginale Bezugnahme der Autoren auf diesen Aspekt in der Einleitung (S. 15 unten) zu bewerten, die beweist, dass die Autoren sich dessen bewusst sind!

   In den weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Gegenwart, in der mehr denn je pluralistisch fragmentarische Unverbindlichkeit gegen mystische und populistische Manipulation wirkungslos verteidigt wird, geht es in Wirklichkeit um einen wissenschaftlichen Blick auf die Geschichte. Die enorme Schwierigkeit dessen ist historisch erklärbar. Erkenntnistheoretisch musste von der Liquidierung des heidnisch materialistischen Denkens seit der Zerstörung der Bibliothek von Alexandria bis zur Neuentdeckung des Materialismus durch die intelligentesten Köpfe des aufklärerischen und klassischen Bürgertums, vor allem durch die Hegelsche dialektische Veredelung des Materialismus Feuerbachs nicht nur eine eineinhalb Jahrtausende platonische Denktradition überwunden werden, um die wissenschaftliche Kontinuität zum antiken Denken wieder herzustellen. Zugleich musste die im Gefolge der Rezeption dieser dialektisch-historisch-materialistischen Denkrevolution durch permanente Weiterentwicklung gegen deren Vulgarisierung und bürgerliche Revision angegangen werden. Für diesen Kraftakt fehlten schlicht die fähigen intellektuellen Köpfe nicht zuletzt wegen der fehlenden strukturellen Bildungsvoraussetzungen. Für den Kapitalismus, ob in seiner aktiengesellschaftlichen oder kommunistisch drapierten staatskapitalistischen Variante ist wissenschaftliche Gesellschaftserkenntnis eine existenzielle Bedrohung.

Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die NovemberrevolutionVerlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) (1. August 2018)
• Gebundene Ausgabe: 308 Seiten, EUR 49,95
• ISBN-10: 3534270452
• ISBN-13: 978-3534270453

Die Freiheiten, die ihr, die wir heute haben. Brief an die Enkelgeneration

Die Freiheiten, die ihr, die wir heute haben, sind nicht vom Himmel gefallen, sondern von mutigen Menschen errungen worden. Es waren Einzelne zuerst, dann wurde daraus eine Massenbewegung. Jüngstes Beispiel die Schüler*innen-Proteste in den USA und bald weltweit gegen die Waffengesetze und einen Präsidenten, der von der Waffenlobby mit Spendengeldern bestochen worden sein soll.

Hiernach der Bericht einer ehemaligen Klosterschülerin über ihre Erfahrungen in der ´68er-Bewegung, die mit Studenten- und Schülerprotesten* begann und zu einer (kultur)politischen Massenbewegung wurde, die unser Land und große Teile Europas nachhaltig verändert hat.

Ich habe damals an vielen Aktionen in Recklinghausen, Hamburg und Frankfurt/M teilgenommen.  Meine Frau war damals in der Frauenbewegung aktiv.

*Motto: „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren.“

Mein 1968

„Hinter Klostermauern woll’n wir nicht versauern!“ So skandieren wir, Schülerinnen des Mädchengymnasiums der Armen Schulschwestern von unserer lieben Frau, v.u.l.F. anlässlich der ersten Demonstration im Sauerland. Angeleitet durch die Gruppe: „Kritischer Katholizismus“ und ältere Freunde, die bereits Studenten sind.

„Wir sind die linken Frommen!“ So auf dem Katholikentag 1968 in Essen, wo wir mit einigen Aktionen und Arbeitsgruppen der katholischen Basisbewegung „Kritischer Katholizismus“ Diskussionen führen zum Paragraph 218, dem Zölibat, zur Rolle der Frauen in der katholischen Kirche und zur Theologie der Befreiung. Ein Aufbruch in der Kirche, engagierte junge Christen sind beseelt von der Möglichkeit, Kirche von unten zu verändern! Überhaupt: Endlich ein Aufbruch bei uns im Sauerland! Der Aufbruch findet überall statt. Der Funken von den Ereignissen in Berlin, Frankfurt, München, Tübingen springt über in die Provinz. Wir, aktive Schülerinnen der Klosterschule und SchülerInnen des Nachbargymnasiums, organisieren Arbeitsgruppen zu unterschiedlichsten Themen. Wilhelm Reich, Sigmund Freud – die Psychoanalyse. Die notwendige Literatur erhalten wir von studentischen Genossen aus Münster. Wir verkaufen die Raubdrucke unter dem Schultisch auf Schulfesten. Dazu die Beatniks-Literatur: „Gammler, Zen und hohe Berge“, Jaques Kerouac und J.D.Salinger:„Der Fänger im Roggen“. Aufbruchsliteratur, die uns katholisch geprägte Mädchen und Jungen begeistert.

Den befreundeten Genossen aus Münster ist das zu unpolitisch: An den Universitäten beginnt man bereits mit Kapital-Schulungen. Die blauen Bände von Karl Marx werden uns mitgebracht. Der Vietnamkongress, das Attentat auf Rudi Dutschke alarmieren auch uns.

Wir gründen, auch fasziniert von den berühmten Kommunen in Berlin und München, eine „Nachmittagskommune“. Zwei Mädchen, zwei Jungen verbringen dort jeden Nachmittag. Andere Aktive kommen zu Besuch. Der katholische Pfarrer hat einen Raum zur Verfügung gestellt. Wir bereiten Arbeitsgruppen und Veranstaltungen vor, entwickeln Texte, exzerpieren Raubdrucke und lesen uns aus dem Buch „Das Kapital“(Band 3) vor. Dazu hören wir Musik von Pink Floyd, Amon Düül, Grateful Dead. Eine irre Zeit!

Und immer wieder besuchen uns die Genossen aus Münster, diskutieren, leiten an, informieren. Wir sind stolz, nicht abgehängt zu sein, sondern geradezu wie durch eine Nabelschnur mit den wichtigen Ereignissen an den Universitäten verbunden zu sein. Zaghaft besuchen wir unsere erste Demonstration in Münster und kehren gestärkt, agitiert und bereit zu weiterer Auseinandersetzung zurück in unsere Kleinstadt. Wir trampen zu einer Demo in Frankfurt und lernen den Club Voltaire kennen. Dort ist die Schülerbewegung schon sehr stark.

Später einmal sagte mir ein Freund: „Wir waren doch nur der Müll der Geschichte!“ Schließlich waren wir 1968 erst 16 Jahre alt. Ja, es war entscheidend, welches Alter man hatte und welche Rolle man in dieser einmaligen historischen Situation spielte. Erst recht die Persönlichkeiten, Kader, Funktionäre, Leitfiguren, Gurus, fast immer männlich, was man ja auch an den Publikationen zu „1968“ sieht.

Wenn ich mir von heute aus diese Zeit betrachte: Die Zeit um 1968, diese Melange aus politischem und persönlichem Aufbruch, die Errungenschaften persönlicher Freiheit, die geniale Rockmusik und die Zeit in den 70ern, haben meinen Lebensweg geprägt. Und so sehe ich als die eigentliche Revolution und die vielleicht am längsten anhaltende und effektivste die Frauenbewegung, die Emanzipationsbewegung der Frauen Anfang der 70er Jahre:

Frauen kämpften für „die Hälfte des Himmels“, für Gleichberechtigung und mehr Präsenz in Beruf und gesellschaftspolitischen Institutionen. Frauen kämpften für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In den Weiberräten diskutierten wir Frauenrechte, Gleichberechtigung und übten uns in neuen Frauenrollen, machten Musik und demonstrierten gegen den § 218.

Die sogenannte 68er Bewegung veränderte sich: Es begann die Anti-AKW-Bewegung, die Friedensbewegung, die grüne Bewegung, die Demokratisierung gesellschaftlicher Bereiche, die Unterstützung von Freiheitsbewegungen in Lateinamerika. Aber auch die RAF. 1968 – es war die Zeit, die Deutschland in eine gelungene Demokratie geführt hat. Darauf können wir stolz sein, und diese sollten wir immer überprüfen und verteidigen!

Christa Hengsbach, Frankfurt

[Aus der Frankfurter Rundschau, 14.04.2018]

Eine Runderneuerung mit gravierenden Mängeln. Die GroKo und ihr Vertrag

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, und an die Frankfurter Rundschau zum GroKo-Vertrag  vom 7. Februar 2018:

Eine weitere Groko? Das wäre eine Runderneuerung mit gravierenden Mängeln: Zum Beispiel fehlen im Koalitionsvertrag Hinweise auf die negativen Folgen der Digitalisierung. Existentielle Fragen, die sich daraus ergeben, werden nicht beantwortet. (Kapitel IV.5. „Digitalisierung“ und V.1. „Gute Arbeit“ (S. 37, 50 im Entwurf).

Nach einer Umfrage des IT-Verbands Bitkom unter 500 deutschen Unternehmen werden in Deutschland rund 3,4 Millionen Stellen allein in den kommenden fünf Jahren weg fallen, weil Roboter oder Algorithmen die Arbeit übernehmen. (FAZ, 02.02.2018) Viele Aufgaben können heute leicht zerlegt und über Internetplattformen verteilt werden – ohne feste Arbeitsverträge.

Ein Manager der Plattform Crowdflower: „Bevor es das Internet gab, wäre es sehr schwierig gewesen, jemanden zu finden, der zehn Minuten für einen arbeitet und den man, nachdem er diese zehn Minuten gearbeitet hat, wieder entlassen kann.“ (ZEIT ONLINE, 21.1.2016)

Heimarbeit auf Abruf – wo sie am billigsten ist, in Asien zum Beispiel.

Unter der Digitalisierung am meisten leiden werden jedoch Menschen, die dort heute noch unsere Schuhe und Kleidung, Smartphones, Spielzeug etc. anfertigen. Die Automatisierung wird sie massenhaft arbeitslos machen.

Gravierend sind auch die sozialpsychologischen Folgen: Immer mehr Berufstätige werden an Burn-out, Erschöpfungssyndromen, stressbedingten Erkrankungen, an sozialer Entfremdung und Isolation leiden.

Die Digitalisierung wird unsere gesamte Arbeits- und Lebenswelt völlig verändern, auch den Menschen; sie wird vor allem die heranwachsenden Generationen vor Probleme stellen, die nicht mehr zu lösen sind.

Währenddessen driftet unsere Gesellschaft immer weiter auseinander. Eine weitere GroKo wird das nicht ändern. Denn mit den kleinen, systemimmanenten Korrekturen ihres Programms kann sie ihrer Klientel Sand in die Augen streuen, aber nicht die politischen Voraussetzungen für eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen in Deutschland schaffen.

Am 15. Februar in der Frankfurter Rundschau und am 21. gekürzt in den Zeitungen des Medienhauses Bauer. Herausgenommen wurden die meines Erachtens ebenso wichtigen Sätze »Viele Aufgaben können heute leicht zerlegt und über Internetplattformen verteilt werden – ohne feste Arbeitsverträge.

Ein Manager der Plattform Crowdflower: „Bevor es das Internet gab, wäre es sehr schwierig gewesen, jemanden zu finden, der zehn Minuten für einen arbeitet und den man, nachdem er diese zehn Minuten gearbeitet hat, wieder entlassen kann.“ (ZEIT ONLINE, 21.1.2016)

Heimarbeit auf Abruf – wo sie am billigsten ist, in Asien zum Beispiel.

Unter der Digitalisierung am meisten leiden werden jedoch Menschen, die dort heute noch unsere Schuhe und Kleidung, Smartphones, Spielzeug etc. anfertigen. Die Automatisierung wird sie massenhaft arbeitslos machen.«

 

Wilhelm Neurohr: Nach der Bundestagswahl: Die gefesselte Demokratie?

 Nach der Bundestagswahl:

Die gefesselte Demokratie?

 Plädoyer für einen koalitionsfreien Bundestag

zur Wiederbelebung der parlamentarischen Demokratie

und zur Sicherstellung der Gewaltenteilung

 von Wilhelm Neurohr

 Derzeit erleben wir nach der Bundestagswahl (mit nunmehr 6 Parlamentsfraktionen) allenthalben eine absurde Diskussion über die Koalitionsfrage im Deutschen Bundestag. Die gewählten Bundestagsparteien stellen uns nach der „Koalitions-Verweigerung“ der SPD vor die Scheinalternativen: Entweder „Jamaika-Koalition“ mit Einigungszwang, ansonsten angeblich „unausweichliche“  Neuwahlen als drohendes Damoklesschwert.  Oder (inakzeptable?) „Minderheitenregierung“  – ein völlig irreführender Begriff angesichts von stets vorhandenen Bundestagsmehrheiten bei Abstimmungen in unterschiedlicher Konstellation je nach Sachfrage.

 Gibt es zu alledem wirklich keine besseren Alternativen im parlamentarischen Gefüge? Leider stellt niemand den vermeintlichen Zwang zu einer Koalitionsbildung überhaupt, als angebliche Voraussetzung für eine „stabile Regierungsfähigkeit“  mit „gesicherten Mehrheiten“ in Frage, vermutlich aus Sorge über das stets beschworene, aber verflüchtigte  „Gespenst von Weimar“.

 In den fast 70 Jahren unserer parlamentarischen Nachkriegs-Demokratie ist ja – außer in manchen Kommunalparlamenten – auch fast niemals etwas anderes erprobt worden als das machtpolitisch bequeme, aber demokratieschädigende und starre Modell von so genannten „Koalitionsregierungen“ – mit teilweise bedenklicher Machtverlagerung von der maßgebenden Legislative ins exekutive Kanzleramt.  Dagegen hilft nur die Befreiung von den ewigen Koalitionszwängen durch Koalitionsverzicht.

 Wie wäre es also mit einer veränderten und  korrigierten Sichtweise auf das Zusammenspiel von Parlament und Regierung – mit Rückbesinnung auf den Stellenwert und die nicht voll ausgeschöpften  politischen Möglichkeiten einer parlamentarischen Demokratie mit souveränen Volksvertretern im Bundestag – der „Herzkammer der Demokratie“?

 Wenn das aufweckende Ergebnis der diesjährigen Bundestagswahl als eine politische Zäsur bezeichnet wird, warum sorgen wir dann nicht endlich selber für eine notwendige Zäsur im festgefahrenen politischen Betrieb, zwecks Wiederbelebung unserer parlamentarischen Demokratie und zur Sicherung der unverfälschten Gewaltenteilung, wie sie den Vätern und Müttern unseres Grundgesetzes eigentlich vorschwebte – und wie sie die (Protest-)Wähler und Nichtwähler vielleicht vermissen?

Die nicht weisungsgebundenen Abgeordneten sind dem ganzen Volk verpflichtet

Deshalb hier ein Plädoyer zur Wiederbelebung der „repräsentativen“ parlamentarischen Demokratie und für die Sicherstellung der demokratischen Gewaltenteilung durch Verzicht auf festgefügte Koalitionsbildungen für stets eine gesamte Wahlperiode – zugunsten offener, an den jeweiligen Sachfragen orientierten Mehrheitsbildungen durch den Bundestag  – mit nicht weisungsgebundenen und laut Verfassung dem ganzen Volk verpflichteten  Abgeordneten in möglichst vielen „Sternstunden des Parlaments“.

Undenkbar und realitätsfremd? Nur eine andere Variante des Schreckgespenstes „Minderheitenregierung“? Keineswegs. Bis zum Beweis des Gegenteils erst mal zu Ende lesen. Denn es geht  (im Sinne des angesehenen  Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert) im Kern um die Frage: Wie kann unser Parlament – als Legislative und Zentrum der politischen Diskussion sowie als Kontrollorgan der Regierung – wieder zur „Herzkammer der Demokratie“ werden, statt mit seinen auf Jahre zusammengeschmiedeten Koalitionsfraktionen zum bloßen „loyalen und verlässlichen“ Erfüllungsgehilfen und Mehrheitsbeschaffer einer „starken Koalitionsregierung“ zu mutieren, mit fälschlich präsidialem Kompetenzgehabe des jeweiligen Regierungschefs?

Die notwendigen öffentlichen und ergebnisoffenen Parlamentsdebatten werden bei Koalitionsregierungen stattdessen zuvor  in die Hinterzimmer der Fraktionen, Parteibüros und Regierungsstuben verbannt, wobei die Regierungsvertreter als Exekutive  auch noch oft an den Fraktionssitzungen der Exekutive teilnehmen, um deren Entscheidungen zu beeinflussen. Haben wir im Laufe der Jahre durch die eingefahrenen Gepflogenheiten aus reiner Gewohnheit den kritischen Blick auf die notwendige Abgrenzung des Parlamentsbetriebes zur Regierung verloren, die durch das Parlament zu beauftragen und zu kontrollieren ist, statt ihr im „Koalitionslager“ als Mehrheitsbeschaffer stets nur zu folgen?

Gerade die Jahre der „großen Koalition“ haben unsere parlamentarische Demokratie mit einer andererseits nur sehr kleinen und schwachen Opposition (ohne volle parlamentarische Minderheitenrechte) enorm geschadet – und auch zu dem diesjährigen Bundestagswahlergebnis geführt. Aber auch eine erwogene gemischte Koalition aus 3-4 völlig gegensätzlichen Parteien wäre nicht zwangsläufig ein parlamentarischer und demokratischer Gewinn, sondern nicht minder problematisch – auch wenn manche Medienvertreter sich davon „große politische Innovationsschübe“ irrtümlich erhoffen.

In Wirklichkeit kranken unsere Demokratie und unser Parlamentssystem an den ewigen selbst gemachten Koalitionszwängen mit ihren Fesseln für das Parlament. Dessen Bewegungsspielraum muss über die den Koalitionsbildungen zugrunde liegenden Lagerbildungen und starren Blöcke hinausgehen, belebt durch eine funktionierende starke Opposition mit echten Einflussmöglichkeiten sowie mit gemeinsamer, strengerer Kontrolle der Regierung. Darin liegt die Stärke der parlamentarischen Demokratie: In einem starken, diskussions- und entscheidungsfreudigen sowie kompromissfähigen Parlament, in dem die politischen Gegensätze und Alternativen sichtbar werden.

Das geltende Mehrheitswahlrecht und -prinzip darf nicht anschließend nach der Wahl im vierjährigen (demnächst 5-jährigen?)  Parlamentsbetrieb per Koalitionsmacht die Oppositionsmacht völlig schwächen. Die Oppositionsfraktionen – die zusammen oft die Größenordnung fast des halben Parlaments umfassen – dürfen als politische Minderheiten nicht für Jahre zur politischen Unwirksamkeit verdammt werden, sondern es sollten  auch interfraktionelle Mehrheitsverhältnisse zumindest anlassbezogen  ermöglicht werden.

Abstimmungsbündnisse als „Regierungskoalition“ erzwingen  fragwürdigem  „Fraktionszwang“

Was hat es mit „Koalitions-Regierungen“ auf sich? In Wirklichkeit koaliert ja nicht die Regierung selber als bloßes Exekutivorgan mit regierenden Koalitionspartnern, sondern zwei oder drei  Parteifraktionen im Bundestag als Legislative einigen sich untereinander auf Zweckbündnisse bei ihrem Abstimmungsverhalten für die gesamte Dauer einer Legislaturperiode. Dies geschieht  auf der schriftlichen Basis eines so genannten „Koalitionsvertrages“ als zugleich kompromissträchtiges und mühsam errungenes „Regierungsprogramm“ (mit Auswahl einzelner priorisierter Punkte aus dem jeweiligen Wahl- oder Parteiprogramm).

Eine saubere Abgrenzung zwischen Parlament einerseits und Regierung andererseits findet dabei nicht wirklich statt, sondern die verbündeten Koalitionsfraktionen im Parlament wähnen sich eher als loyaler Teil  oder Träger der Regierung, zumindest als deren verlässlicher und dauerhafter Mehrheitsbeschaffer und somit „Erfüllungsgehilfe“.  (Eigentlich obliegt umgekehrt der Regierung die Rolle des „Erfüllungsgehilfen“ für das Parlament, damit es seine legislative Rolle wirksam ausfüllen kann). An Klausurtagungen oder Sondersitzungen der Regierung, also des Bundeskabinetts, nehmen deshalb auch die Fraktionsvorsitzenden der Bündnispartner wie selbstverständlich teil, schließlich haben sie am so genannten „Regierungsprogramm“ der Exekutive inhaltlich mit gefeilt und sorgen für verlässliche Mehrheiten – eine Verwischung wiederum zwischen Legislative und Exekutive.

Eigentlich brauchte die Regierung selber als ausführendes Exekutiv-Organ kein eigenes politisches „Regierungs“- Programm, allenfalls ein Arbeitsprogramm des Bundeskabinetts mit Zeitplan für das Kanzleramt und die Ministerien, denn die politischen und programmtischen Aufträge in Form von Gesetzesprojekten und -vorhaben in der Wahlperiode gibt (hoffentlich) das zuständige gewählte Parlament als Legislative der Regierung vor, nach der jeweiligen Beschlusslage. Parteiströmungen haben ihre Funktion und Berechtigung im Parlament, nicht aber in der Regierung. Doch „die Parteien haben sich den Staat zur Beute gemacht…“ (Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker/CDU).

Der Einwand kommt sicher: Wie soll der Wähler sich für eine Regierung entscheiden, wenn er nicht weiß, was die Regierung in der Wahlperiode politisch will und sie somit einen „Freibrief“ bekommt? Die Antwort kann nur lauten: Die Regierung hat das zu wollen, was das Parlament beschließt; deshalb wählt der Wähler das Parlament, nicht die Regierung, deren „Chef“ (Kanzler) ebenfalls durch das Parlament gewählt wird. In den Partei- und Wahlprogrammen erkennt der Wähler vorher das politische Wollen der Volksvertreter, die auch die Regierung kontrollieren.

Es handelt sich hingegen beim schriftlich fixierten Koalitionsvertrag  quasi  um (unflexible) inhaltliche Vorfestlegungen und Selbstverpflichtungen der „Mehrheitsparteien“ im Parlament für die gesamte Wahlperiode. Das Ganze ist verbunden mit „Koalitionsdisziplin“ und auferlegtem „Fraktionszwang“ zur Einschränkung des Abstimmungsverhaltens der einzelnen Bundestagsabgeordneten – also begibt sich ein halbes Parlament für 4 bis 5 Jahre mehr oder weniger in „selbst angelegte Fesseln“. Da die Opposition ein Gleiches tut, um ein kräftiges Gegengewicht zu den Regierungsfraktionen zu bilden, herrschst auch dort zumeist der „Fraktionszwang“ mit seinen Fesseln und umfasst damit das ganze Parlament.

Damit werden die einzelnen Abgeordneten für Jahre quasi zu kollektiven „Abstimmungsautomaten“ zugunsten einer „stabilen“ Regierung (oder ihres oppositionellen Gegenparts) degradiert. Denn Abweichler sind nicht gern gesehen und bekommen Ärger in  ihrer Fraktion, weil sie damit „das Regierungsbündnis gefährden“ – obwohl das Parlament eine eigenständige und andersartige Funktion hat gegenüber der Regierung. Doch nach den bisherigen Gepflogenheiten reichte eigentlich ein einziger Delegierter aus jeder beteiligten Fraktion, um den kollektiven Bündniswillen seiner Fraktion bei Abstimmungen zum Ausdruck zu bringen – aber am Ende werden ja die Stimmen des gesamten Parlamentes ausgezählt, so dass oft nach Zählappellen und fraktionsinternen  „Probeabstimmungen“ das gewünschte zahlenmäßige Abstimmungsergebnis gesichert wird.

Den einzelnen beteiligten Oppositionsfraktionen verbleibt nur das rituelle Rollenspiel des begründeten  Dagegen-Stimmens oder auch des einlenkenden Dafür-Stimmens, oder das Stellen von Alternativanträgen ohne Aussicht auf Mehrheitsfähigkeit. (Immerhin verbleibt noch eine kritische Kontrollfunktion gegenüber der Regierung).  Diese eingefahrenen Verfahrensweisen sind schlichtweg verfassungswidrig oder zumindest höchst bedenklich, denn laut Art. 38 des Grundgesetzes sind unsere Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes an Aufträge und  Weisungen nicht gebunden“.

Seltene Sternstunden des Parlaments bei Aufhebung des unzulässigen Fraktionszwangs

 Nur in besonderen Ausnahmefällen wird in den Koalitionsfraktionen die Abstimmung „aus Gewissensgründen frei gegeben“. Das sind dann meist die so genannten  „Sternstunden“ des Parlamentes und der Demokratie in ausnahmsweise voller Plenumsbesetzung, in denen wirkliche Debatten über das Für und Wider von Sachentscheidungen mit authentischer Meinungs-und Willensbildung öffentlich im Parlament selber (statt hinter den Kulissen) geführt werden –  jenseits auch vom ansonsten lähmenden pflichtgemäßen Ritual zwischen Regierungs- und „Oppositionsfraktionen“ vor meist leeren Abgeordnetenbänken (auch eine Negativfolge von Koalitionsbildungen).

Warum nicht ausschließlich solche parlamentarischen Sternstunden mit unterschiedlichen Mehrheitsbildungen zu den jeweils anstehenden Sachfragen – statt rituelle Scheindebatten über die in Hinterzimmern längst vorher ausgehandelten Abstimmungsergebnisse als indirekte Vorgabe für das Plenum und die Ausschüsse? Dem stehen im Parlament die starren Koalitionsbildungen mit ihrer beschworenen „Koalitionsdisziplin“ entgegen.

Ist es unvorstellbar, dass etwa zu ökologischen Streitpunkten und Vorhaben (Stichwort Braunkohletagebau oder regenerative Energien) sich z. B. eine rechnerische Abstimmungsmehrheit (nach intensiver Debatte) aus Mitgliedern der grünen Fraktion und Teilen von SPD, CDU und Linken gegen  die FDP und großen Teilen der CDU als Diskussionsergebnis ergibt?  Zu Sicherheitspolitischen Fragen wiederum (Kriminalitätsbekämpfung, Videoüberwachung) ergibt sich vielleicht eine Mehrheit aus CDU/CSU, Teilen der SPD und der Grünen und (ärgerlicherweise) auch der AfD, mit den Gegenstimmen  von FDP, Linkspartei und dem linken Flügel der SPD?

Dadurch kämen die tatsächlichen Meinungsströmungen in der Bevölkerung zu ihrem Rech, denn die Parlamentsentscheidungen sollen  ja dem Gerechtigkeits- und Rechtsempfinden der Menschen repräsentativ zum Durchbruch verhelfen – und nicht nur den parteilichen Anliegen der eigenen Wählerklientel. Ein diskursfähiges Parlament sorgt damit auch für Wiederbelebung der kaum noch stattfindenden öffentlichen Diskurse, die sich auf fragwürdige Talk-Shows im Fernsehen (für ein Publikum überwiegend von 60+) reduziert haben.

Bei der frei gegeben Abstimmung über die Homo-Ehe während der großen Koalition in der letzten Wahlperiode ist doch ein sinnvolles und funktionierendes  Verfahren jenseits der Koalitionsdisziplin im Parlament erfolgreich angewendet worden, ohne dass dadurch etwa der Rücktritt der Regierung ausgelöst wurde. Wieso auch würde eine Regierung „instabil“, wenn sie verfassungskonform die jeweiligen Beschlüsse des Parlamentes exekutiert? Ebenfalls eine Sternstunde des Parlaments war die zurückliegende intensive und niveauvolle Debatte um die Sterbehilfe, mit unterschiedlichem Abstimmungsverhalten quer durch alle Fraktionen.

So ist es richtig: Mehrheiten und Minderheiten müssen sich an den Themen und Sachfragen jeweils herausbilden – und nicht auf Dauer von vornherein für sämtliche Sachentscheidungen im Vorfeld zementiert werden, wie es die Koalitionäre gerne hätten, indem sie 4 Jahre lang mit ein und derselben Mehrheit (auch mit wenig überzeugenden Argumenten) alles und jedes majorisieren möchten. So tötet man lebendigen Parlamentarismus und lässt ihn zur bloßen Farce verkommen mit seinen Fensterreden und Scheindebatten, ohne Auswirkung auf das bereits vorher festliegende Abstimmungsverhalten.

Stattdessen sind viele Themen- und sachbezogene Parlaments-Entscheidungen in allerlei Konstellationen während einer Wahlperiode denkbar, die unter dem Strich die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse unter den gewählten Abgeordneten im Sinne der Wählerschaft widerspiegeln, mit durchaus vernünftigen und qualifizierten Entscheidungen , ohne dass eine Regierung „ihr Gesicht verliert“ – denn das abweichende Wollen einer exekutierenden Regierung oder der Kanzlerin als ihrer geschäftsführenden Regierungschefin ist nicht maßgebend bei einem „koalitionsbefreiten“ Bundestag. Niemand verliert dabei sein Gesicht, sondern alle Beteiligten und Betroffenen gewinnen dabei, insbesondere auch der Wähler und Bürger, denn dann bilden sich im Parlament mit seinen 7 Parteien in 6 Fraktionen die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse aus den Wahlergebnissen zu den einzelnen Sachfragen ab – was ist wünschenswerter als genau dieses?

Das verzerrte Parlaments- und Regierungsverständnis

Das Gegenargument, dann wäre ja die jeweilige Regierung von den zufälligen und wechselnden Parlamentsmehrheiten abhängig,  ist zutreffend, weil demokratisch so gewollt und sinnvoll. Das „Regierungsprogramm“ ergibt sich dann aus den entstandenen Schwerpunktsetzungen des Parlaments in der Wahlperiode (mit den Orientierungen der einzelnen Abgeordneten an ihren jeweiligen Partei- und Wahlprogrammen, die für die Wähler transparent sind.)

Und das weitere Gegenargument, dass die Wähler dann ja nicht mehr die Wählbarkeit ihrer vom Parlament abhängigen oder gesteuerten Regierung mit ihren Erfolgen oder Misserfolgen  beurteilen könnten, zählt auch nicht, weil die Wähler ja an der Wahlurne eben nicht eine Regierung wählen, sondern ausschließlich ihre Volksvertreter im Parlament. Und von diesen dürfen sie ein ernsthaftes Ringen um die besten Entscheidungen und Problemlösungen unter Einbezug aller Argumente, nicht nur derjenigen des eigenen Fraktionsblockes, gefälligst erwarten (angesichts der von den Bürgern dafür aufgebrachten, nicht geringen Diätenzahlungen).

Dafür hat die Regierung quasi eine dienende, nicht führende und leitende Funktion – denn das Volk ist laut Verfassung der Souverän. Und dieses schaut künftig seinem Wahlkreisabgeordneten stärker auf die Finger als der im Entscheidungsprozess eigentlich unmaßgeblichen Regierung, die die jeweiligen Mehrheitsentscheidungen der gewählten Abgeordneten anschließend zu akzeptieren und auszuführen hat – denn nicht das Kanzleramt ist die „Herzkammer der Demokratie“.

 Gelingt die überfällige Aufwertung des über die Jahre erlahmten Parlamentes – auch wenn es aktuell in keiner Weise personell „repräsentativ“ zusammengesetzt ist – nicht am besten ohne die Zwänge von Koalitionsfesseln und Regierungshörigkeit? Beginnend bei der Frage: Wieso legt eigentlich die Regierung als Exekutive schätzungsweise 80% aller Gesetzesentwürfe vor, und das Parlament als eigentliches Gesetzgebungsorgan initiiert nur vielleicht 20% der Gesetzesvorlagen  – statt umgekehrt? Damit „treibt die Regierung das Parlament vor sich her“ statt anders herum. Offensichtlich ist das Parlament bestrebt, seine Kernkompetenzen bereitwillig an die Regierung  auszulagern oder zu „outsourcen“.

Warum überlässt das zuständige Gesetzgebungsorgan bei seinem Kerngeschäft also der ausführenden Regierung in einer Art Rollentausch  allzu oft das Handlungsfeld und gibt damit freiwillig seine Macht an die Exekutive ab?  Aus Bequemlichkeit, aus Überforderung oder aus eingeforderter „Koalitionsräson“? Ganze Stäbe wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag helfen doch bei der Ausarbeitung. Oder das Parlament kann der Regierung konkrete Gesetzesaufträge mit klaren inhaltlichen Vorgaben und Zielrichtungen erteilen, die dann von der Ministeralbürokratie nur noch im Detail fachlich ausgearbeitet werden brauchen. (Das Europaparlament, das bekanntlich als „Pseudo-Parlament“ keine Kernkompetenz für eigene Gesetzesinitiativen besitzt, wäre heilfroh, könnte es seine Legislative Gesetzgebungsfunktion voll erfüllen, denn die EU mit ihren eklatanten Demokratie-Defiziten  ist komplett Exekutiv-lastig; ein abschreckendes Beispiel).

Und warum ist die frühere lebendige Debattenkultur vor vollbesetzten Rängen  aus unserem Bundestag seit ca. 20 Jahren immer mehr entwichen, so empfinden das zumindest die Wähler und die Medienbeobachter, aber auch manche Parlamentarier selber? Hat das nicht auch ganz viel damit zu tun, dass die Koalitionspartner mit ihren Mehrheiten schon vorab ihre Mehrheitsbeschlüsse stets hinter den Kulissen festgezurrt haben – und die Parlamentsdebatte vor oft leeren Rängen nur noch rituellen Charakter  haben, ebenso wie das Oppositionsritual, so dass wirkliches Eingehen auf vorgebrachte Argumente nicht vorgesehen ist und  kein ergebnisoffener Diskurs vor abschließenden Parlamentsentscheidungen stattfindet. (Auf der Zuschauertribüne ist das dünnbesetzte „Scheinparlament“  oft besser erkennbar als in den Fernsehübertagungen, die dem Wahlvolk einen vollen Plenarsaal vortäuschen, seitdem es keine Parlamentarier mehr mit dem Pflichtbewusstsein und Sitzfleisch von Herbert Wehner gibt, der für komplette Anwesenheitspflicht bei allen Debatten sorgte).

Unsere von Langzeit-Koalitionen geprägte Demokratie läuft Gefahr,  derselben Kollateralschäden zuzufügen und die parlamentarische Demokratie machtpolitisch zu missbrauchen, indem der pluralistische Wählerwille, wie er sich in der gesamten Parlamentszusammensetzung abbildet, quasi erstickt wird.

Eine Regierung ist gegenüber dem Volk mehr zur Neutralität als zur Parteilichkeit verpflichtet

Und wieso muss die „neutrale“, dem ganzen Volk per Eid verpflichtete Regierung mit ihren Fachministern – die allzu oft keine wirklichen „Fachleute“ in ihrem Ressort sind –  ausschließlich und unmittelbar aus getreuen Partei- und Fraktionsmitgliedern der Koalitionäre personell parteilich zusammengesetzt werden? Als gleichzeitige Abgeordnete  in ihrer legislativen Funktion kontrollieren sie sich überdies zugleich selber in ihrer exekutiven Rolle als Regierungsmitglied  – und führen damit eigentlich die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive ad absurdum. Wäre es nicht ratsam, sich entweder für die eine oder für die andere Rolle zu entscheiden?

Ein Regierungsmitglied dürfte eigentlich kein Abgeordnetenmandat übernehmen und umgekehrt, auch wenn es leider zulässig ist. Und er sollte nicht zugleich Parteivorsitzender sein. Jede personifizierte Machtfülle schränkt Demokratie ein. (Und warum sollte eigentlich eine möglichst überparteiliche Regierung in ihrer personellen Zusammensetzung nicht das ganze politische Spektrum des Parlamentes auch personell abbilden, zuzüglich parteiunabhängiger Fachleute, ohne damit gleich das Gespenst einer „Allparteienregierung“  zu beschwören?)

In unserer „parlamentarischen Demokratie“ – im Unterschied zur Präsidialdemokatie oder zu einer Monarchie oder zu  autokratischen Systemen – bestimmt eigentlich das Parlament mit seinen gewählten Volksvertretern die „Richtlinien der Politik“, während die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin sich mehr oder weniger auf die Weisungsbefugnisse gegenüber ihren Ministern im Bundeskabinett beschränken sollte. Deshalb stehen die Präsidenten des Bundestages und  des Bundesrates in der Rangordnung der Staatsämter (gleich nach dem Bundespräsidenten) über der Kanzlerin, die – obwohl an der an der Spitze der Regierung – offiziell erst  an 4. Stelle der Hierarchie rangiert, auch wenn das im Bewusstsein der Öffentlichkeit nicht verankert ist.

In den Medien und in der Öffentlichkeit herrscht gleichwohl ein  anderes Regierungsverständnis, teilweise auch in der Regierung selber, oft auch mit vergleichendem Blick auf andere Staaten, deren  Staatspräsidenten (mit zeitlich begrenzter Amtszeit) viele Vollmachten und eine höhere Rangstellung haben. Doch unsere Regierung als Exekutiv-Organ hat im Wesentlichen als ihre Hauptaufgabe die vom Bundestag getroffenen Beschlüsse und verabschiedeten Gesetze lediglich im Regierungsalltag auszuführen und umzusetzen sowie zu beachten, mit der gebotenen Neutralität und Ausgewogenheit.

Die Kanzlerrolle des „Regierungschefs“ ist eine andere als in einer Präsidialdemokratie

Darüber hinaus kann unsere Kanzlerin als Regierungschefin, etwa bei Verhandlungen mit anderen Staaten oder in der EU, nicht eigenmächtig handeln, sondern stets im Auftrag und mit vorheriger oder anschließender Billigung des Parlamentes oder nur im Rahmen originärer Zuständigkeiten – so und nicht anders ist zumindest die verfassungsmäßige Machtverteilung in unserer parlamentarischen Demokratie formell vorgesehen, auch wenn es hierbei regelmäßig Grenzüberschreitungen bei den Zuständigkeiten sowie „Alleingänge“ gibt, zur Verärgerung des manchmal übergangenen Parlamentes. (Und die rein repräsentativen Aufgaben, etwa bei der Fußballweltmeisterschaft oder bei der Eröffnung von Volksfesten, sollte die Kanzlerin zuständigkeitshalber dem Bundespräsidenten und den Parlamentspräsidenten überlassen, denn das sind eigentlich keine originären Aufgaben des Kanzleramtes).

Mit medialen „Kanzlerduellen“ im Wahlkampf wird quasi den Wählerinnen und Wählern fälschlich suggeriert, sie könnten in einer Art Direktwahl zwischen den Kanzlerkandidaten wählen und an der Wahlurne eine Regierung wählen oder abwählen. In Wirklichkeit wählen sie ja – anders als bei direkt gewählten Staatspräsidenten in anderen Ländern – mit ihrer Erststimme ihre jeweiligen Wahlkreisabgeordneten und mit der Zweitstimme die Landesliste einer Partei. Damit befinden sie ausschließlich bei der Wahl über ihre Volksvertreter und die Zusammensetzung ihres Parlaments als Volksvertretung, also über die „Herzkammer der Demokratie“.

Damit relativiert sich auch die Bedeutung der Regierung und des „Regierungschefs“ oder der „Chefin“: Die Kanzlerin wird vom Bundespräsidenten vorgeschlagen  und  vom Bundestag als Parlament gewählt, und auch die Minister werden (auf Vorschlag der Kanzlerin) vom Bundespräsidenten ernannt.  Die Regierungsbildung ist also nachrangig und der Personenkult um die Kanzlerfigur unangemessen, denn sie ist nicht direkt vom Wahlvolk getragen. Theoretisch könnte eine andere Person als der so genannte „Spitzenkandidat“ der siegreichen Mehrheitspartei als Kanzler im Bundestag gewählt werden, ja sogar jemand, der gar keiner Partei angehört und auch kein Abgeordnetenmandat hat. Soviel zur „Nr. 4 in der staatlichen Rangordnung“.

Das hat unsere amtierende Bundeskanzlerin nicht davon abgehalten, vor der Bundestagswahl 2009 in einem ARD-Einzelinterview (bei Anne Will oder im Sommerinterview) sich peinlicherweise in ihrer Kanzlerrolle gleich zweimal als „Staatsoberhaupt“ selber zu bezeichnen – ohne Korrektur durch die Moderatorin. Diese  Rolle ist in Wirklichkeit dem Bundespräsidenten zugedacht – wobei die Titulierung der Nr. 1 im Staate als „Oberhaupt“ einer journalistischen Unsitte entstammt, denn „Oberhäupter“ gab es mal in Monarchien oder im Kirchenstaat, nicht aber in einer modernen Demokratie des 21. Jahrhunderts mit mündigen Bürgerinnen und Bürgern als Souverän. Deshalb findet sich der Begriff „Staatsoberhaupt“ auch nicht in der Terminologie unser Grundgesetzes (Artikel 54).

Manche stellen ohnehin einen  Präsidenten an der Staatsspitze als bloße Identifikations- und Präsentationsfigur  generell in Frage, andere wiederum  – vor allem viele Medien – wünschen sich offenbar mit der absurden Forderung nach „starker Führung“ an der Spitze des Staates eine „präsidiale“ Kanzlerin – und tolerieren allzu gern ihre Kompetenzüberschreitungen bei Alleingängen der Regierung unter Umgehung des murrenden, aber meist folgsamen  Parlamentes.

Ein demokratischer Staat ist kein Konzern mit einem hierarchischen „Konzernlenker“ an der Spitze

Auch aus Reihen der Wirtschaft wird zunehmend die absurde und demokratiefeindliche Vorstellung transportiert, ein Staat müsse am besten hierarchisch wie ein Unternehmen oder Konzern mit einem „Konzernlenker“ geführt werden, mit möglichst vielen Vollmachten. Die  demokratische Funktion eines Parlamentes würde damit eher auf die beschränkten Aufgaben eines „Aufsichtsrates“ reduziert, und die Rolle der Bürger wäre dann die der folgsamen und abhängigen Arbeitnehmer, wohl kaum die der Aktionäre. Das Volk als Souverän muss also aufpassen, dass nicht immer mehr in unserem demokratischen Staat in Schieflage gerät! Koalitionsregierungen tragen dazu tendenziell eher bei als unabhängige Regierungen.

Bei der Diskussion um die umstrittenen (völkerrechtlichen) Freihandelsverträgen ist ja der offenkundige „Putschversuch“ seitens der Wirtschaft mit Unterstützung der Koalitionsregierung unternommen worden, über die Verträge die demokratische Gewaltenteilung komplett zu unterlaufen und das Primat der Politik durch das Primat der Wirtschaft zu ersetzen – und viele Parlamentarier waren geneigt, trotz erheblicher Bedenken der Verfassungsrechtler der Selbstentmachtung der Parlamente zuzustimmen, angetrieben durch die eigene Regierung als Verfechter und Befürworter dieser so angelegten Freihandelsverträge. Hier wäre ein waches Parlament zu wünschen, nachdem ihm zuvor sogar die Einsichtnahme in die geheimen Verhandlungsdokumente verwehrt wurde. Millionenfache Bedenken aus der Bevölkerung gegen diese Art von Freihandelsverträgen wurden von den meisten gewählten politischen Volksvertretern beiseite gewischt oder demokratische Beteiligungsrechte des Bundestages in Frage gestellt, (so etwa auch vom jetzigen NRW-Ministerpräsidenten Arnim Laschet).

Zuvor hatte ja seine Vorgängerin, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, eine ganze Zeit lang durchaus erfolgreich mit einer Minderheitenregierung das bevölkerungsstärkste Land regiert, indem das Landesparlament sich fraktionsübergreifend zu jeweiligen Mehrheiten in Sachfragen durchgerungen hatte. Die Scheu vor einer fälschlich  so genannten „Minderheitenregierung“ ist eigentlich unangebracht, da schon der Begriff  völlig irreführend ist: Denn bei jeder Abstimmung auch im Bundestag  würde sich zu jeder Sachentscheidung am Ende stets eine demokratische Mehrheit finden, wenn auch nicht immer diejenige des ein- und desselben 4-jährigen Fraktionsbündnisses einer „Dauerkoalition“.

Nochmals:  Eine Regierung handelt immer im Auftrag von parlamentarischen Mehrheiten und nicht eigenmächtig. Aus  Gewohnheit und Machtinteresse hätte man am liebsten an der Regierungsspitze immer gerne „verlässliche“ Wunschmehrheiten, die man am liebsten zugleich selber „steuert“, denn das wäre am einfachsten. Demokratie muss aber anstrengend bleiben, wenn sie gut funktionieren soll. Bei einer Koalitionsbildung  ist schon die daraus hervorgehende Regierungsbildung nicht unproblematisch, wie nachfolgend noch weiter aufgezeigt.

Regierungsbildung als bedenkliche Rollenvermischung zwischen Legislative und Exekutive

Vor der eigentlichen Regierungsbildung einigt man sich ja in den „Koalitionsfraktionen“  zugleich auf die parteipolitische Aufteilung der Regierungsämter (Minister und Staatssekretäre nach Parteienproporz) untereinander, obwohl diese gar nicht vom Bundestag gewählt werden, sondern die Minister werden vom Bundespräsidenten auf Vorschlag oder Benennung des Bundeskanzlers/der Kanzlerin  ernannt (und die einzelnen Minister berufen dann selber ihre Staatssekretäre). Hier mischt sich also die dafür nicht zuständige Legislative  vorab in das Geschäft der Exekutive ein, (obwohl es sicherlich die Personalpolitik der Regierung bei den Spitzenämtern ebenso beeinflussen sollte wie es auch ein Aufsichtsrat bei einem Unternehmen kann).

Denn lediglich der Regierungschef/die Regierungschefin wird vom Bundestag gewählt, in der Regel der so genannte „Spitzenkandidat“ der stärksten Partei und vormalige „Kanzlerkandidat“ im Wahlkampf – das ist aber „kein Muss“. (Auch hier also eine Vorfestlegung, denn das Parlament ist faktisch nicht mehr frei in seiner Personalentscheidung für das höchste Regierungsamt, für das ja theoretisch auch jemand anderes gewählt werden könnte, der nicht Spitzenkandidat der Mehrheitspartei war, oder der weder einer Partei noch dem Bundestag angehört).

Dass unsere bisherigen Kanzler zumeist gleichzeitig in Personalunion Vorsitzende der jeweiligen „Regierungs- und Koalitionspartei“ waren und zugleich auch noch Bundestagsabgeordnete, ist ein Unding – auch wenn es zulässig ist. Denn in ihrer legislativen und exekutiven Doppelrolle kontrolliert sich der Regierungschef somit  als Abgeordneter selber, und als Partei- und Regierungschef sorgt er zugleich in seiner Bundestagsfraktion (mit Hilfe des loyalen Fraktionsvorsitzenden, den er sich als Parteivorsitzender dafür ausgesucht hat) tonangebend dafür, dass seine ihn stützende  Bundestagsfraktion mitsamt Koalitionspartner den Vorstellungen und Strategien der exekutierenden Regierung folgen statt umgekehrt – eine ärgerliche Machtfülle und Fesselung der stärksten Parteifraktion.

Dass bei alledem in der Vergangenheit auch noch oftmals der kleinsten Partei  mit nur etwas über 5% Wählerstimmen  (wie der FDP) als dennoch „gleichwertiger“ und einflussreicher Koalitionspartner (zum Ärgernis der übrigen 95% Wähler) ein nicht zustehendes politisches Gewicht und unangemessener Einfluss als „Zünglein an der Waage“ zugestanden wurde – noch mehr als der zweitstärksten Parteifraktion mit vielleicht 40% in der so genannten „Oppositionsrolle“ – schien niemanden zu stören. Also ein weiterer problematischer Aspekt entgegen dem Wählerwillen, der eigentlich gegen solcherart Koalitionsbildungen spricht.

Damoklesschwert der Neuwahlen wegen angeblicher Unregierbarkeit?

Trotzdem wird beim etwaigen „Scheitern“ der aktuellen Koalitionsverhandlungen das  Damoklesschwert der Neuwahlen beschworen wegen ansonsten angeblich drohender „Unregierbarkeit“ des Landes. Eine übrigens unbewiesene Behauptung ohne ernsthaften Praxisversuch, denn in Wirklichkeit beschädigen festgefügte Koalitionsbildungen für die gesamte Wahlperiode die parlamentarische Demokratie in vielerlei Hinsicht, mit ungesunder Machtverschiebung zum überbewerteten Kanzleramt, wie zuvor dargestellt. Fassen wir die wichtigsten Argumente zusammen:

Das Parlament verfassungskonform zu stärken muss nicht gleichbedeutend sein damit, „die Regierung zu schwächen“, sondern die demokratische Gewaltenteilung ernster zu nehmen als bisher – und nicht von einer Art machtvollem „Präsidialsystem“ mit „durchsetzungsstarken“ Kanzlern  durch stets folgsame Parteifraktionen zu träumen in einer parlamentarischen Demokratie.

Gibt es also zu den vermeintlichen Koalitionszwängen und dem üblichen Vorgehen bei einer Regierungsbildung wirklich keine bessere Alternative als etwa die aktuell als „alternativlos“ diskutierte Jamaika-Koalition – auch als Lehre aus dem Wahlergebnis mit einer vom Volkswillen entfremdeten politischen Subkultur? Ist ein arbeitsfähiges Parlament ohne vorherige festgefügte Koalitionsbildungen wirklich undenkbar – oder nicht sogar ratsam zur Wiederbelebung der parlamentarischen Demokratie statt zur problematischen Machtverstärkung der Exekutive?

Als ausführendes Organ hat diese, wie dargestellt,  gefälligst die Parlamentsentscheidungen der gesetzgebenden Gewalt zu akzeptieren und umzusetzen statt vorzugeben, egal in welcher jeweiligen (auch von Fall zu Fall wechselnden) Mehrheitskonstellation diese im Einzelfall zustande gekommen sind – nach hoffentlich lebhaften und gründlichen Debatten, ohne Vorfestlegungen in Hinterzimmern und ohne fragwürdige „Fraktionszwänge“. Die Regierung hat nicht die Aufgabe, eigene Regierungsprogramme dem programmatischen Wollen des Parlamentes als Ganzes entgegenzusetzen, sondern deren zustande kommenden Mehrheitsbeschlüsse (vielleicht nach namentlicher „Kampfabstimmung“) abzuwarten.

Warum sollen die Abgeordneten der 3 „Regierungsfraktionen“ mit ihrer relativ knappen Mehrheit von derzeit 52,6% nicht auch öfter den Argumenten der 3 Oppositionsfraktionen innerhalb der Wahlperiode ganz oder teilweise folgen, die immerhin 42,3% der übrigen Wählerstimmen repräsentieren? Sollte nicht in den Parlamentsdebatten beim Austausch der Meinungen um die besten Lösungen jeweils gerungen werden, statt starre Abstimmungsblöcke zu bilden?

Also das, was die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes eigentlich wollten mit dem bereits zitierten Artikel 37 für ein Parlament mit nicht weisungsgebundenen Abgeordneten. Warum überhaupt der selbst gesetzte Zwang zu (überflüssigen) „Koalitionsbildungen“ im Bundestag, wie leider auch  in den meisten anderen parlamentarischen Demokratien, (abgesehen von kurzen, schwierigen  Phasen sogenannter „Minderheitsregierungen“, die aus rein machtpolitischen Gründen für „nicht tragfähig“ erklärt werden).

Die Behauptung, nur mittels  Koalitionen könne eine „stabile“ Regierung mit „stabilen Mehrheiten“ im Bundestag gewährleistet werden, ist unbewiesen, weil etwas Anderes und Besseres mit sauberer Gewaltenteilung statt -vermischung schlichtweg nicht erprobt wurde, sondern einfach für undenkbar und „realitätsfern“ erklärt wird. Das bloße Denken in parteipolitischen Machtkonstellationen und -Interessen verhindert die klare Sicht  auf das demokratisch Notwendige und Innovative.

Auch deshalb kriselt es derzeit heftig in unserem Parteiensystem, das sich mit selbst gesetzten Koalitionszwängen durch festgefügte Machtbündnisse auf Zeit  parlamentarisch und programmatisch selber fesselt, mit Verwischung parteipolitischer Gegensätze zwischen den Koalitionspartnern, oftmals zu Lasten der Sachentscheidungen. Andererseits werden durch Koalitionen auch denkbare andere interfraktionelle Konsensbildungen mit dem Oppositionslager zumeist erschwert oder vereitelt, so dass Minderheitenrechte nicht hinreichend zum Zuge kommen. Sogenannte „Sternstunden des Parlamentes“ mit freigegeben Abstimmungen ohne unzulässigen  „Fraktionszwang“ sind im politischen Alltag leider seltene Ausnahmen.

In Wirklichkeit verfälschen jedwede Koalitionsregierungen nicht nur den Wählerwillen und behindern einen lebendigen parlamentarischen Meinungs- und Willensbildungsprozess, sondern sie verwischen die von der Verfassung gewollte Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive. Und sie sorgen für die Entwertung des Parlamentes als „Herzkammer der Demokratie“ (Norbert Lammert), denn sie behindern seine Funktionsfähigkeit und seine eigentliche Rolle. Darum das Plädoyer für einen diesmal koalitionsfreien Bundestag auf Zeit, als demokratischer Praxisversuch und notwendiger Lernprozess – auch als Antwort auf das diesmalige Wählervotum.

Das abgehobene, nicht repräsentative Parlament der Juristen, Akademiker und Berufsfunktionäre

Diese Betrachtungen zur Optimierung unserer parlamentarischen „repräsentativen“ Demokratie wären unvollständig ohne einen kritischen Blick auf die tatsächliche personelle Zusammensetzung unseres Bundestages  – als keineswegs „repräsentatives“ Spiegelbild der Bevölkerung. Ohne einen halbwegs repräsentativen Querschnitt kann das Parlament seine Funktion im Sinne der Wählerinnen und Wähler nicht erfüllen. Hier liegt ein wesentlicher Grund für das bemängelte Wahlverhalten und die zu geringe Wahlbeteiligung, die zu einem erheblichen Legitimationsproblem für die gewählten Politiker und auch für die von ihnen gebildeten Koalitionsregierungen führt.

Bekanntlich hatten unsere Väter und Mütter des Grundgesetzes das Ideal einer repräsentativen Demokratie vor Augen, d. h. die personelle Zusammensetzung der Parlamente sollte also möglichst ein Spiegelbild der gesamten Bevölkerung sein. Davon sind wir weiter denn je entfernt, wie das Institut Allensbach ermittelt hat. Es ermittelte eine schleichende Verzerrung und Schieflage bei der Repräsentation:

  • Obwohl das Durchschnittsalter der Abgeordneten insgesamt von 49 Jahren halbwegs repräsentativ ist, sind 137 Bundestagsabgeordnete über 65 Jahre alt
  • Bei den Berufsgruppen jedoch dominieren Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes und der Gewerkschaften und Verbände sowie Juristen zu 80% das Parlament.
  • Es dominieren im engeren Sinne Rechtsanwälte, Richter und Dienstleistungsberufe zu 1/6 im Bundestag und in den Landesparlamenten. Überrepräsentiert sind auch Selbständige und Freiberufler.

Immer mehr Bewerber oder Nachwuchspolitiker für den Bundestag rekrutieren sich aus den Mitarbeitern der politischen Apparate, also wissenschaftliche Mitarbeiter oder Büroleiter der Abgeordnetenbüros und Parteibüros und der Ministerien. Bei der Hälfte der Neuzugänge für den Bundestag handelt es also um hauptberufliche Mitarbeiter von Politikern, somit selber um Berufspolitiker und damit um eine geschlossene Gesellschaft.

  • Die überwiegende Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, nämlich 600 von 631, hat einen Hochschulabschluss. Das sind 98,5% gegenüber nur 6,8% Hochschulabsolventen in der Bevölkerung (oder 17-20% unter den Erwerbstätigen).

Sie spiegeln also nicht die Bevölkerung, sondern die gehobenen Schichten. Laut einer Befragung der Hans-Böckler-Stiftung gaben 70% der befragten Bürger an: „Die führenden Leute in Politik und Medien leben in ihrer eigenen Welt.“

  • Nur 7 Handwerker befanden sich im letzten Bundestag. Arbeiter sind im Bundestag überhaupt nicht vertreten. Und überhaupt keine Arbeitslosen, Rentner, Hausfrauen oder alleinerziehende Mütter.
  • Mehr als 1/3 der Bevölkerung ist somit in den Parlamenten überhaupt nicht vertreten. Und mit 36,5% sind auch nur 1/3 Frauen unter den Abgeordneten.

Beobachter sehen deshalb die Gefahr, dass die Abgeordneten zu sehr die eigenen Interessen ihrer sozialen Schicht vertreten, als eine Mit-Ursache für die ungelösten sozialen Probleme mit der zunehmende Armuts-Reichtums-Schere – und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit ihrem Repräsentanten, die man für abgehoben hält.

Unzufriedenheit mit dem verzerrten demokratischen System prägt negative politische Stimmung

Neben den bedenklichen Zahlen zur deshalb stetig sinkenden Wahlbeteiligung auf allen Ebenen – die Partei der Nichtwähler“ ist inzwischen die zweitgrößte Partei – ist laut einer dimap-Umfrage von 2016 zur politischen Stimmung in Deutschland auch das demokratische System als Ganzes in Misskredit geraten und deshalb in einer erschreckenden Vertrauenskrise:

  • Danach fühlt sich mit 48% weniger als die Hälfte der Deutschen durch die regierenden Politiker repräsentiert (also eine Mehrheit von 52% fühlen sich nicht repräsentiert.
  • 31% sind nicht zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie (in den neuen Bundesländern sogar 41% Unzufriedene).
  • 64% äußerten wenig Vertrauen in die Parteien. Folglich sind überhaupt nur unter 3% der Wahlberechtigten als Mitglieder in Parteien insgesamt organisiert; 97% sind also nicht zu einem parteipolitischen Engagement bereit.
  • Auch der Frauenanteil in den großen Parteien bewegt sich insgesamt nur zwischen 20 bis 30%, bei den kleinen Oppositionsparteien immerhin 37-38%.
  • Das Durchschnittsalter der Parteimitglieder lag Ende 2016 bei den beiden großen Volksparteien CDU und SPD bei 60 Jahren, bei den kleineren übrigen Parteien zwischen 50 und 60 Jahren.

Zwar scheint der anhaltende Mitgliederschwund der überalterten Parteien momentan etwas gebremst und es treten in allen Parteien zunehmend wieder junge Menschen unter 30 erfreulicherweise zu Tausenden ein. Aber eine wirkliche Trendumkehr ist damit noch nicht in Sicht.

Die Politik- und Parteiverdrossenheit, die Wahlenthaltung und das Protestwählertum sowie die  Krise des Vertrauens in die politzischen und staatlichen Institutionen hat teilweise auch mit dem zunehmenden Wirtschaftslobbyismus  und der Nähe zwischen Politik und Wirtschaft – gerade bei den letzten Koalitionsregierungen – zu tun, mit der  das Primat der Politik in Frage gestellt wird. Deshalb brauchen wir noch mehr Transparenz etwa auch bei den Parteispenden und in den lobbygeprägten Entscheidungsprozessen, um dem Misstrauen in der Bevölkerung zu begegnen.

Denn negative Schlagzeilen haben uns jüngst aufgerüttelt beim VW-Skandal oder Diesel-Skandal, wo auch die demokratischen Kontrollfunktionen versagt haben. Oder denken wir an den Wechsel einer inzwischen dreistelligen Zahl von Politikern in die Wirtschaft, oft ohne Karenzzeit, in die Finanzwelt oder zu großen Lobbyverbänden, aber auch an die oft hochbezahlten Nebentätigkeiten einer dreistelligen Zahl von Abgeordneten im Bundestag und Europaparlament mit teilweise über 6-stelligen Summen im Jahr. Laut Bundestagsverwaltung beziehen zwischen 55% und 68% aller Bundestagabgeordneten gewinnbringende Nebeneinkünfte zu ihrem Mandat. (Und 200 Europa-Abgeordnete haben nebenbei Beraterverträge in der Wirtschaft).

Oder denken wir an die jüngsten Schlagzeilen über den Wechsel von Altkanzler Schröder in den Aufsichtsrat des russischen Gaskonzerns Rosneft und zuvor als Berater bei der Rothschild-Bank. Oder an die Schlagzeilen über umstrittene Zusatzeinkünfte des Ex-Bundespräsidenten Wulff. Oder der Wechsel des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso zu Goldman-Sachs, ohne Karenzzeit und gegen die Ethik-Richtlinien der EU, (wofür ihn sogar sein Nachfolger Claude Juncker rügte, der selber mit Hilfe des Parlamentspräsidenten Martin Schulz einen Untersuchungsausschuss zum Luxemburger Steueroasen-Skandal verhinderte). Ihm folgten fast alle übrigen ausgeschiedenen EU-Kommissare in die Wirtschaft, in Interessenkollision zu ihren früheren Zuständigkeitsbereichen.

Und immer mal wieder Schlagzeilen über Korruptionsfälle und dergleichen. Oder vor der Bundestagswahl schnell noch ohne öffentliche Debatte 13 Grundgesetzänderungen als Gesamtpaket zur Ermöglichung von Autobahnprivatisierungen mittels ÖPP-Modellen. Das sind alles keine vertrauensbildenden Maßnahmen, sondern das genaue Gegenteil. Und alles mit dem Wohlwollen einer „großen Koalition“ und des sie tragenden Bundestages, aber vor allem auch der Regierung? Die Kanzlerin als Regierungschefin subsumiert diese Vorgänge unter ihrem Credo von der „marktkonformen Demokratie“ (anstelle eines demokratiekonformen Marktes).

Reformen für mehr Demokratie mitsamt Parlamentsreform statt Koalitionsgerangel

An demokratischen Systemveränderungen und -verbesserungen führt deshalb kein Weg vorbei. Zugleich sollte über eine weitgehende Parlamentsreform nachgedacht werden und über die frühzeitige Bürgerbeteiligung schon bei der Kandidaten- und Listenaufstellung der Parteien, auf die regelmäßige Durchführung von Wahlkreiskonferenzen u. v. m., um unser in die Jahre gekommenes Demokratiemodell nach 70 Jahren weiter zu entwickeln. Über eine Parlamentsreform mit kritischem Hinterfragen des Koalitionsgerangels sollte ebenso nachgedacht werden wie über die Verbesserung der Repräsentativität und der strikten Einhaltung der Gewaltenteilung.

Denn wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Demokratie, um aus der Zuschauerdemokratie herauszukommen und den mündigen Bürger als Souverän ernst zu nehmen. Dazu gehören auch Elemente der direkten Demokratie auch auf der Bundesebene, wie sie unser Grundgesetz im Art. 20 (2) seit jeher vorsieht. Wichtig wäre auch, die Wiederwahl der Kanzlerin oder eines Kanzlers auf 2 Wahlperioden zu beschränken, wie in fast allen anderen Staaten  bei den Staatspräsidenten der Fall, und gleiches auch für Abgeordnete als „Mandat auf Zeit“, damit sich nicht überwiegend „Berufspolitiker“ womöglich lebenslänglich herausbilden, die dann machtvoll auf dem „Koalitionsklavier“ zu spielen vermögen – und vielleicht trotz herber Wahlverluste oder Abwahl in ihrem Wahlbezirk dann als Listenkandidaten immer wieder unverdrossen in Parlaments- und Regierungsämtern auftauchen.

Aber auch die viel kritisierte „Selbstbedienungsmentalität“ politischer Mandatsträger darf nicht länger tabuisiert werden. Der Bundestag darf nicht länger selber über seine Versorgungsbezüge und seine privilegierte Altersversorgung befinden, sondern hier wäre um der Glaubwürdigkeit willen unter anderem dringend eine Ankopplung an die Einkommensentwicklung und Rentenentwicklung der „Normalbürger“ überfällig, mit unterschiedsloser Einbeziehung in eine gemeinsame Renten -sowie Krankenversicherung (Bürgerversicherung) unter gleichen Bedingungen.

Und warum keine Kopplung der Diätenhöhe (als temporäre Lohnfortzahlung im vorher ausgeübten Beruf) an die unterschiedliche Höhe der Wahlbeteiligung in den Wahlkreisen mit einer Bonus-/Malus-Regelung?

Das Wichtigste und Weitreichendste aber: Eine Parlamentsreform (per Grundgesetzänderung) mit dem Ziel eines wirklichen Spiegelbildes der Bevölkerung und zur Wiederherstellung der Bürgernähe.

Man stelle sich vor, nur die Hälfte der Parlamentssitze würde wie bisher durch die Parteien und die Wahlkreiskandidaten professionell besetzt (nach vorheriger Mitwirkung der Bürger bei der Kandidatenaufstellung der Parteien). Die andere Hälfte der Parlamentssitze würde durch den Bundeswahlleiter nach dem Zufallsprinzip mit (parteilosen) Bürgerinnen und Bürgern aus allen Bevölkerungs- und Altersschichten sowie Berufsgruppen halbwegs repräsentativ besetzt (für jeweils 1 Jahr, dann wechselnd).

Dann stünde im Bundestag der „Parteienblock“ dem „Bürgerblock“ je zur Hälfte gegenüber und die „Parteiprofis“ müssten in jeder Parlamentsdebatte überzeugend um Mehrheiten durch Bürgerzustimmung ringen, aber auch deren Einwände und Vorschläge zur Kenntnis nehmen. Koalitionsbildungen innerhalb des Parteienblocks würden keine Mehrheiten mehr verschaffen. Das Parlament würde zur wahren „Herzkammer der Demokratie“. Die halbe Zahl der Parlamentssitze würde (selbst bei Koalitionsbildungen von Parteifraktionen) nicht dazu reichen, von vornherein Abstimmungsmehrheiten vorher im Koalitions-Sinne zu organisieren.

Und auch die Wahl des Kanzlers oder der Kanzlerin als Regierungschef würde nicht mehr durch vorher präsentierte „Spitzenkandidaten“ der größten Parteien vorgegeben, sondern im Parlament stellen sich Bewerber um das höchste Regierungsamt mit ihren Qualifikationen und Konzepten vor und werden dann vom Parlament mehrheitlich gewählt. (Alternativ könnte man zumindest ein Modell denken, bei dem die Bürgervertreter  in einer zweiten Kammer parallel zum Bundestag ihre Meinungs- und Willensbildung zum Ausdruck bringen können).

Zu guter Letzt sollte auch darüber nachgedacht werden, ob das Parlament mit seiner faktischen „Allzuständigkeit“ für sämtliche Politikfelder mitsamt Gesellschaftpolitik nicht hoffnungslos überfordert ist. Denkbar wäre, die Entscheidungen über Kultur, Kunst, Bildung, Wissenschaft und Forschung den am Kulturleben Beteiligten in demokratischer Selbstverwaltung zu übertragen, abgesehen von den übergeordneten und finanziellen Rahmensetzungen. Ebenso könnte viele Entscheidungen über die Wirtschaft, die  – abgesehen von den rechtlichen Rahmenvorgaben -von der Politik ohnehin kaum beeinflusst werden können, auf ein demokratisches Wirtschaftsparlament der am Wirtschaftsleben Beteiligten  delegiert werden, auch als Beitrag zur generellen Demokratisierung der entfesselten Wirtschaft.

Undenkbar und nicht praktikabel? Sind nicht solche und ähnliche innovative Ideen vonnöten, um unsere krisengefährdete parlamentarische Demokratie und ihre Gewaltenteilung auch für die Zukunft lebendig und überlebensfähig zu halten statt in elektronische Netzwerke zu verlagern? Fast 70 Jahre seit ihrer Einführung ist eine Weiterentwicklung unseres Demokratie-Modells unverzichtbar, wenn der „mündige Bürger“ als Souverän nicht nur in Sonntagsreden ernst genommen werden soll. Oder wollen wir in der „Zuschauerdemokratie“ oder in der koalitionär „gefesselten“ parlamentarischen Demokratie als exekutivlastiges „Elitenprojekt“ weiterhin  verharren, zum Unmut der Bevölkerung?

Nehmt Abschied von den Koalitionszwängen! Lasst uns unsere Demokratie entfesseln und befreien, damit sie zukunftstauglich wird!

 

 

 

Neuerscheinung: »Verschiedene Ansichten. Neue zeitkritische Beiträge« von Dietrich Stahlbaum

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Klappentext:

Auch für den 90-Jährigen ist es eine „Selbstverständlichkeit, das Zeitgeschehen kritisch zu begleiten und im Netz mitzudebattieren.“ Dies ist nun sein 10. eBook, Fortsetzung des neunten mit Beiträgen des letzten Jahres (2016) zu den gleichen Themen (aktuelle Politik, Globalisierung, Kolonialismus, Krieg und Pazifismus, Flüchtlinge, Fluchtursachen, alte und Neue Rechte, ihr Rassismus, ihre Ängste; philosophische Betrachtungen…) Dazu: Die Arier.  Der folgenschwere Missbrauch eines Begriffes durch Rassisten, Verschwörungstheorien; Entwicklungshelfer – ein Afrika-Fest in Bild und Text, Wer war Martin Luther?… – Rezension eines außergewöhnlichen Buches und ein Zeitungsbericht zu Stahlbaums 90.

Der Autor: geboren 1926, aufgewachsen in einem völkisch deutsch-nationalen Milieu, militaristisch erzogen, faschistisch indoktriniert. „Hitlerjugend“, Militär, I944-45 an zerbröckelnden Fronten, 1949-54 bei der Fallschirmtruppe der französischen Legion in Algerien und Vietnam. Heimkehr als Kriegsgegner. Engagement in Bürgerinitiativen und in der Friedens- und Ökologiebewegung. Berufe: u. a. Fabrikarbeiter, Buchhändler, Verlagsangestellter, Bibliothekar. Publikationen: Prosa, Lyrik, Essays, Reportagen etc. Ein Roman, ein „Lesebuch“, Print- und eBooks.

INHALT:

Verschiedene Ansichten – – Warum feiert heute der Nationalkonservatismus Urständ in Europa? – – Gesamtkultur, Menschheitskultur – – „Fremde“ Kulturen und Verhaltensweisen – – Historische Fluchtursachen – – Deutsche Auswanderer, deutsche Kolonialherrschaft – – PEGIDA, AfD und CO. verbreiteten verschwörungstheoretische Übertreibungen – – „Völkisch“ – – Muslimvereine – – Araberinnen – – Die Arier. Der folgenschwere Missbrauch eines Begriffes durch Rassisten – – Verschwörungstheorien. Eine WDR-Sendung und kritische Anmerkungen – – Multi-ethnischer Staat in Syrien? – – Zur Klimaerwärmung – – Afrika-Fest am 11.Juni 2016 auf dem Schulbauernhof in Recklinghausen (Bild und Text) – – Pazifisten – – Raus aus der NATO? Die Friedensbewegung im „Kalten Krieg“. Wortprotokoll einer Diskussion (1983) – – Der Gewalt (in uns) ein Ende setzen – – Das zurück gegebene Schwert. Eine vietnamesische Legende – – Barack Obama – – Herz und Hirn – – Frauen, die für Gleichberechtigung kämpfen – – Der SPD ist die soziale Kompetenz verloren gegangen – – Wer war Martin Luther? Was hat er gelehrt? Was hat er gewollt? Rezension – –  90 Jahre mitten im Strom der Zeit. Ein Lebensbericht

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Dietrich Stahlbaum:  »Verschiedene Ansichten- Neue zeitkritische Beiträge«                   BookRix-eBook  2017, 11658 Wörter, € 3,99, ISBN: 978-3-7396-9350-7

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Claus Kittsteiner: Bauchgeprägtes Denken macht blind

Leserbrief zum Attentat von Berlin: „Der Erfolg der Terroristen“, FR-Meinung vom 21. Dezember

Mit Traurigkeit verfolge ich das schlimme Geschehen der Terroranschläge. Traurig und wachsam macht mich auch so mancher Kommentar von „Normalbürgern“, die die terroristischen Anschläge für ihre und für Parteizwecke instrumentalisieren. Sie tun es zur Bestätigung ihrer ohnehin bestehenden Ablehnung gegenüber Menschen, die ihnen als fremd erscheinen. Kennen wir doch!

Ich bin selber Flüchtling. Meine Familie hat diese dumpfe Ablehnung von „Fremden“, selbst erlebt. Vor Jahrzehnten sogar im eigenen Lande, als von Schlesien nach Süddeutschland Evakuierte, und das vonseiten von Mitbürgern, die das „gesunde Volksempfinden“ für sich beanspruchten.

„Bauchgeprägtes“ Denken in aktualisierter Form macht viele blind gegenüber den Folgen der vom Westen (mit)verursachten Kriege im Nahen Osten. Die Quittung haben wir nun vor Augen, flüchtende Menschen kommen zu uns. Die im Vergleich zu deren Gesamtzahl und zur aktuellen Kriminalstatistik geringe Zahl an Kriminellen unter ihnen wird gezielt und bewusst angsterzeugend verallgemeinert – genau davon lebt die neue Partei des sog. gesunden Volksempfindens. Sie kommt an bei Leuten, die nicht gelernt haben oder sich weigern, den Unterschied zwischen Ursachen und Folgen zu sehen. Das sog. gesunde Volksempfinden blüht wieder auf, die AfD befeuert es und macht wissend ihr großes Geschäft daraus.

Die Unterstellung, Führer- und Wählerschaft der sich als „völkisch“ propagierenden AFD seien nur Dummköpfe, greift historisch nicht. Unter den völkischen Mitläufern und Vollziehern im NS-Lebensraumkrieg war der Anteil von Akademikern bekanntlich groß, nicht nur in Hitlers SS. Was sagt uns das heute? Formale Bildung allein hilft nicht gegen Rassismus, menschliche Dummheit und zwischenmenschliche Abgestumpftheit. Die Folgen sind bekannt. Land, pass auf!

Claus Kittsteiner, Berlin

[Frankfurter Rundschau vom 24.12.2016]