Die Angst der regierenden Parteien, von den Grünen überflügelt zu werden. Leserbriefe

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl*), und an die Frankfurter Rundschau:

Zu „Die Klima-Hysterie schadet“ von Annegret Zessin vom 19. Juni 2019

Warum bieten Sie Frau Zessin hier so viel Platz für einen Leserbrief, mit dem sie die bekannten halbwahren, vor fake News und Gehässigkeit strotzenden Ansichten von Pegida und der AfD verbreitet?

   Auch ich übe Kritik an den Grünen, aber ich werde meine ehemaligen Parteifreunde nicht in die Pfanne hauen, sondern mich an die Fakten halten, die ich besser kenne als Frau Zessin, Pegida und die AfD.

   Bei den regierenden Altparteien herrscht große Angst, von den Grünen überflügelt zu werden. Denn jetzt werden von den cleveren „Ökos“, die unter dem Druck einer neuen, internationalen Jugendbewegung die sozialistische Komponente der LINKEN in ihr Vokabular übernommen haben und medienwirksam alle Altparteien in den Schatten stellen, die wichtigsten politischen Probleme auf die Tagesordnung gesetzt.

  Geschickt setzen sie neue, unverbrauchte Gesichter kluger, wissenschaftlich und rhetorisch kompetenter, moralisch integrer und philosophisch gebildeter junger Männer und vor allem Frauen ein, um Zustimmung zu gewinnen.       

   Übersehen wird dabei, dass auch die Grünen ihre Widersprüche nicht gelöst haben, Parteispenden von der Wirtschaft erhalten (in den Jahren 2013 bis 2015 u. a. 495.460,78 EURO von BMW und der Fam. Quandt/Klatten, 444.999,94 von Daimler, 751.136 von der Allianz. Quelle: Lobbypedia) Das macht sie von der Wirtschaft abhängig und lässt vom Pazifismus einer Petra Kelly (1947-1992) nichts mehr übrig.

  Man könnte es realpolitisches Wellenreiten nennen.

  Aber der internationale Aufstand junger Menschen, die sich um ihre Zukunft betrogen sehen, wenn nicht nur geredet, sondern sofort gehandelt wird, wird auch den Grünen das Taktieren austreiben. 

—–

*) Medienhaus Bauer. Am 24. Juni 2019 leicht gekürzt veröffentlicht.

– Frankfurter Rundschau: Kursiver Text. Am 25. Juni 2019 ungekürzt veröffentlicht.

Probleme aussitzen und verdrängen, existenzielle Fragen nicht beantworten: Bundesregierung in der Bredouille

Die Recklinghäuser Zeitung berichtete am 11. 06. 2019 unter der Schlagzeile „Die Fehler der Konzerne“: „Zehntausende Stellen sollen in NRW wegfallen. Unter Druck durch Globalisierung und Digitalisierung haben die Firmen Fehler gemacht.“

Auf dieses Problem, eigentlich auf einen ganzen Komplex von Problemen habe ich vor einem Jahr im Februar in einem Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, und an die Frankfurter Zeitung aufmerksam gemacht und die Verantwortung dafür vor allem der GroKo zugeschrieben. Beide Leserbriefe wurden, in wesentlichen Punkten gekürzt, abgedruckt. Und es erschien auch keine Reaktion darauf. Hier der Text:

                                 Eine Runderneuerung mit gravierenden Mängeln.
Die GroKo und ihr Vertrag

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, und an die Frankfurter Rundschau zum GroKo-Vertrag vom 7. Februar 2018:

Eine weitere Groko? Das wäre eine Runderneuerung mit gravierenden Mängeln: Zum Beispiel fehlen im Koalitionsvertrag Hinweise auf die negativen Folgen der Digitalisierung. Existentielle Fragen, die sich daraus ergeben, werden nicht beantwortet. (Kapitel IV.5. „Digitalisierung“ und V.1. „Gute Arbeit“ (S. 37, 50 im Entwurf).

Nach einer Umfrage des IT-Verbands Bitkom unter 500 deutschen Unternehmen werden in Deutschland rund 3,4 Millionen Stellen allein in den kommenden fünf Jahren weg fallen, weil Roboter oder Algorithmen die Arbeit übernehmen. (FAZ, 02.02.2018) Viele Aufgaben können heute leicht zerlegt und über Internetplattformen verteilt werden – ohne feste Arbeitsverträge.

Ein Manager der Plattform Crowdflower: „Bevor es das Internet gab, wäre es sehr schwierig gewesen, jemanden zu finden, der zehn Minuten für einen arbeitet und den man, nachdem er diese zehn Minuten gearbeitet hat, wieder entlassen kann.“ (ZEIT ONLINE, 21.1.2016)

Heimarbeit auf Abruf – wo sie am billigsten ist, in Asien zum Beispiel.

Unter der Digitalisierung am meisten leiden werden jedoch Menschen, die dort heute noch unsere Schuhe und Kleidung, Smartphones, Spielzeug etc. anfertigen. Die Automatisierung wird sie massenhaft arbeitslos machen.
Gravierend sind auch die sozialpsychologischen Folgen: Immer mehr Berufstätige werden an Burn-out, Erschöpfungssyndromen, stressbedingten Erkrankungen, an sozialer Entfremdung und Isolation leiden.

Die Digitalisierung wird unsere gesamte Arbeits- und Lebenswelt völlig verändern, auch den Menschen; sie wird vor allem die heranwachsenden Generationen vor Probleme stellen, die nicht mehr zu lösen sind.

Währenddessen driftet unsere Gesellschaft immer weiter auseinander. Eine weitere GroKo wird das nicht ändern. Denn mit den kleinen, systemimmanenten Korrekturen ihres Programms kann sie ihrer Klientel Sand in die Augen streuen, aber nicht die politischen Voraussetzungen für eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen in Deutschland schaffen.

Am 15. Februar in der Frankfurter Rundschau und am 21. gekürzt in den Zeitungen des Medienhauses Bauer. Herausgenommen wurden die meines Erachtens ebenso wichtigen Sätze „Viele Aufgaben können heute leicht zerlegt und über Internetplattformen verteilt werden – ohne feste Arbeitsverträge.“

Ein Manager der Plattform Crowdflower: „Bevor es das Internet gab, wäre es sehr schwierig gewesen, jemanden zu finden, der zehn Minuten für einen arbeitet und den man, nachdem er diese zehn Minuten gearbeitet hat, wieder entlassen kann.“ (ZEIT ONLINE, 21.1.2016)

Heimarbeit auf Abruf – wo sie am billigsten ist, in Asien zum Beispiel.

Unter der Digitalisierung am meisten leiden werden jedoch Menschen, die dort heute noch unsere Schuhe und Kleidung, Smartphones, Spielzeug etc. anfertigen. Die Automatisierung wird sie massenhaft arbeitslos machen.

Wilhelm Neurohr: Der Fall Elmar Brok: Unentbehrliche Berufspolitiker statt Mandat auf Zeit? (Leserbrief)

… an die RZ zur Berichterstattung über das Gerangel über den Listenplatz für den EU-Abgeordneten Elmar Brok (CDU):

Der Fall Elmar Brok: Unentbehrliche Berufspolitiker statt Mandat auf Zeit?

Nur mit völligem Unverständnis kann man als Leser, Bürger und Wähler kurz vor der wichtigen Europawahl das demotivierende innerparteiliche Gerangel in der CDU um einen bevorzugten Listenplatz für den dienstältesten Europa-Abgeordneten Elmar Brok auf der NRW-Landesliste verfolgen. Da haben sich an der Parteibasis die Delegierten auf demokratische Weise erfolgreich um einen überfälligen Generationenwechsel bemüht, derweil der fast 73-jährige Mandatsträger nach fast 40 Jahren Parlamentszugehörigkeit noch weitere 4 Jahre an seinem lukrativen Posten kleben bleiben will, weil er sich für unentbehrlich hält. Darum hat er seine innerparteilichen Seilschaften aus der Parteispitze und seine Parlamentskollegen mobilisiert, die ihm doch noch einen aussichtsreichen Listenplatz bis zum 77. Lebensjahr verschaffen sollen. Nicht ohne Hintergedanken treten CDU-Politiker für die Heraufsetzung des Rentenalters bis 70 Jahre ein – aber sollte danach nicht Platz für Jüngere gemacht werden?

Dass unsere Abgeordneten nur ein „Mandat auf Zeit“ ausüben, ist unseren lebenslangen „Berufspolitikern“ nicht geläufig. Aber so ein Mandat im EU-Parlament ist allzu verlockend, weil äußerst lukrativ: Die Abgeordneten erhalten nicht nur ein steuerpflichtiges „Gehalt“ – so heißen die Diäten in Straßburg – von über 8.850 Euro zuzüglich 4.200 Euro Aufwandsentschädigung plus 152 Euro Tagegeld für jede Übernachtung, sondern obendrein für jede Teilnahme an Beratungen noch 304 Euro Tagegeld, automatisch auch ohne Eintragung in die Anwesenheitsliste. Alles zusammen summiert sich auf insgesamt fast 18.000 Euro monatlich oder 214.000 Euro im Jahr. Hinzu kommt natürlich die Erstattung aller Reisekosten erster Klasse, bis zu 4.234 Euro pro Jahr. Bei Erkrankung haben sie Anspruch auf Zweidrittel Erstattung ihrer medizinischen Kosten. Derweil gehen die Wähler mit „Gelbwesten“ auf die Straße, weil die arbeitenden Menschen ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können. Das sollte die Volksvertreter auch im EU-Parlament nachdenklich machen.

EU-Abgeordneten wie Elmar Brok steht bei Nichtwiederwahl zwei Jahre lang nach Ausscheiden aus dem Parlament eine Übergangsvergütung von insgesamt 354.000 Euro zu, nämlich in Höhe eines Monatsgehaltes pro Jahr seiner 40-jährigen Amtszeit, also 40 x 8.850 €. Schon nach nur einer Wahlperiode erwirbt er einen Altersversorgungsanspruch in Höhe von 1405 € monatlich (bei seinen 10 Wahlperioden also ein Vielfaches) ab dem 63. Lebensjahr, derweil der deutsche Durchschnittsrentner nach 45 Jahren auf nur 1175 Euro ab dem 67. Lebensjahr kommt. Die Altersversorgung der EU-Abgeordneten entspricht für jedes volle Jahr der Ausübung des Mandats 3,5 % der Dienstbezüge, insgesamt jedoch nicht mehr als 70 %, für Elmar Brok also rund 84.000 € Rente im Jahr oder 7.000 € im Monat.

Eine solch luxuriöse Versorgung gibt es nicht einmal für die Abgeordneten in unserem Bundes- und Landesparlament. Da es für die Europaabgeordneten keine Direktwahlkreise gibt, sondern nur Listenwahl, entstehen für sie auch kaum Kosten für Wahlkreisarbeit. Trotzdem erhalten sie für jeden Mitarbeiter bis zu 21.209 Euro monatlich, so dass ein EU-Abgeordneter aus Rumänien als Spitzenreiter 19 Mitarbeiter eingestellt hat. Dass mehr als ein Drittel der Europa-Abgeordneten noch bezahlten Berater- und Nebentätigkeiten auch für Lobbyorganisationen nachgehen, mit bis zu 100.000 Euro Nebenverdienst im Jahr, ist bei „Transparency international“ nachzulesen.

Auch Elmar Brok, der nach einem abgebrochenen Studium alsbald in die Politik ging, war lange Zeit als Lobbyist für seinen Arbeitgeber, den Bertelsmann-Konzern tätig, so dass der Verfassungsrechtler  Herbert von Arnim die Tätigkeit von Elmar Brok als „legale Korruption“ bezeichnete. Umso unverständlicher, dass sich seine Parteifreunde für ihn erneut ins Zeug legen, um die politikverdrossenen Wähler an die Wahlurne zu bekommen, nachdem die letzte Europawahl klägliche 40% Wahlbeteiligung erbrachte.

Hoffentlich befördern die unsäglichen Debatten in der CDU nicht den weiteren politischen Rechtsruck. Denn ausgerechnet die europafeindlichen Rechtspopulisten von der AfD wollen laut ihrem Programm die Begrenzung der Mandatszeit für Abgeordnete auf zwei Wahlperioden begrenzen – und am liebsten das Europaparlament völlig abschaffen und damit den Rest an Demokratie in der Exekutiv-lastigen EU gleich ganz beenden?

Die Europa-Parlamentarier sollten sich deshalb dringend Gedanken machen, wie sie selber zu einer demokratischen Begeisterung für Europa in der Wählerschaft beitragen können, beginnend mit gebotener Bescheidenheit bei den eigenen Privilegien als Volksvertreter.

Wilhelm Neurohr

 

Neuerscheinung: Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution

Coverbild Beutin, Fanfaren -1-

Fanfaren -2-
Klappentext

Fanfaren -3-

Fanfaren -4-

Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution  

Verlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) (1. August 2018)

Gebundene Ausgabe: 308 Seiten, EUR 49,95
ISBN-10: 3534270452, ISBN-13: 978-3534270453

 

 

 

 

Wilhelm Neurohr: „Der klägliche Fehlstart der neuen GroKo“

Ein politisches Trauerspiel in 13 Akten

 Was wurde den Wählern und Wählerinnen nicht alles versprochen  von den beiden abgestraften „großen“ Parteien: „Wir haben verstanden“ oder „ein Weiter so darf es nicht geben“, so hieß es bei der Begründung für eine nochmalige GroKo, um die kritische SPD-Basis „auf Linie zu bringen“. Doch bereits in den ersten zwei Wochen nach der Vereidigung der neuen Bundesregierung wird dagegen täglich erlebbar: Es kommt in der neuen GroKo sogar noch schlimmer als jemals zuvor – ein kläglicher Fehlstart, der nichts Gutes für die restlichen 3,5 Regierungsjahre verheißt:

Erster Akt: Gleich zu Beginn gab der Super-Heimat- und Innenminister Horst Seehofer mit seiner umstrittenen Äußerungen zur Nichtzugehörigkeit des Islam den neuen rechtspopulistischen Takt vor und provozierte den umgehenden Widerspruch aus der eigenen Regierung. Sodann blähte er sein Ministerium im „Hauruck-Verfahren“ um 100 neue Stellen auf und berief 8 ausschließlich männliche Staatssekretäre. Als erste Amtshandlung beauftragte er sie mit der Erstellung eines Masterplanes für schnelle Abschiebungen von Asylbewerbern. Ein „Musterpolizeigesetz“, Grenzkontrollen und Videoüberwachung sowie zentrale Abschiebelager sind sein erklärtes Anliegen.

Zweiter Akt: Auch der neue Gesundheitsminister Jens Span wollte sich als erstes mit provokanten Äußerungen statt mit einem Gesundheitskonzept profilieren, indem er sich herablassend zu den angeblich „auskömmlichen“ Hartz-IV-Sätzen äußerte. Sodann verkündete er, billige Pflegekräfte aus dem Ausland abzuwerben, die dort selber benötigt werden,  anstatt die versprochene bessere Bezahlung der heimischen Pflegekräfte zunächst anzupacken. Zugleich traten die drastisch erhöhten Zuzahlungen zu Medikamenten  für Krankenversicherte ungebremst in Kraft als „Altlast“ der letzten GroKo.

Dritter Akt: Der neue Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz beruft (nach dem Vorbild von Trump) ausgerechnet einen Investmentbanker von Goldman-Sachs zu seinem neuen Staatssekretär – ein von den öffentlich-rechtlichen Medien ausgeblendeter Skandal. Zugleich verteidigt er die Aufblähung der neuen Bundesregierung um 209 neue Stellen noch vor den neuen Haushaltsberatungen, davon 41 im eigenen Finanzministerium, worauf ihm der Steuerzahlerbund „mangelnde Ehrfurcht vor dem Wähler“ vorwarf. Zudem will Olaf Scholz nun seinen Parteifreunden in der SPD untersagen, eine Debatte über Alternativen zu Hartz IV zu beginnen und in der Regierung auf den Prüfstand zu stellen. Generell will er auch die umstrittene Spar- und Austeritätspolitik seines Vorgängers Schäuble unverändert fortführen.

Vierter  Akt: Der neue  Arbeitsminister Hubertus Heil, den die Medien als letzten „Schröderianer“ titulieren, bezeichnete zunächst eine neue Debatte über Hartz IV als notwendig, machte aber nach wenigen Tagen auf Geheiß von Olaf Scholz und nach einem Aufschrei der Wirtschaft einen Rückzieher und hielt die Debatte über Abschaffung von Hartz IV als „nicht hilfreich“. Aus der losgetretenen Hartz-IV-Debatte von Jens Spahn hat er sich als eigentlich zuständiger Minister herausgehalten. Er hält es für ausreichend, lediglich 150.000 Langzeitarbeitslosen (von insgesamt 860.000 Betroffenen) mit einem öffentlich geförderten Job zu versorgen mittels Lohnkostenzuschüssen für Betriebe.

Fünfter Akt: Kanzlerin Angela Merkel beklagt in ihrer Regierungserklärung „die Schande der Kinderartmut in einem reichen Land wie Deutschland“, ohne zu merken, dass sie sich als dafür Hauptverantwortliche nach 12 Jahren Regierungszeit damit selber anklagt. Denn in ihrer langjährigen Regierungsära der „sozialen Kälte“ sind die Kinderarmut, die Altersarmut und die Bedürftigkeit der auf Tafeln und Suppenküchen Angewiesenen dramatisch angestiegen (was sie in den jährlichen Armutsberichten ihrer Bundesregierung hätte nachlesen können). Für ihr leeres Versprechen der „Integration der Schwachen, um die Gesellschaft menschlicher zu machen“, reichen die verbleibenden 3,5 Regierungsjahre kaum aus.  Und ob es die neuen Wissenschaftsministerin Anja Karliczek schafft, allein mit Geld – nämlich 3,5 Mrd. € für die Digitalisierung der Schulen und 2 Mrd. € für die Ganztagsbetreuung – die Bildungsbenachteiligung der Kinder aus den unteren Schichten zu beseitigen, darf bezweifelt werden.

Sechster Akt: Die Justizministerin Katarina Barley bestellt nach dem Facebook-Skandal die europäischen Firmenvertreter ins Ministerium, um ihnen Zugeständnisse abzutrotzen. Doch diese zeigen ihr die kalte Schulter und erklären nur süffisant und arrogant, die Forderung nach mehr Transparenz „wohlwollend zu prüfen“. Die großspurige Justizministerin steht als machtlos da. Gleich zu Beginn der neuen Regierung ist sie zusammen mit der neuen Familienministerin Franziska Giffey und der SPD-Bundestagsfraktion bei der geplanten Reform des § 219 (Schwangerenkonfliktberatung) umgefallen und vor dem frauenfeindlichen Kurs der CDU eingeknickt.

Siebenter Akt: Während die umstrittene PKW-Maut vom vorherigen Verkehrsminister Dobrindt für spätestens 2019 angekündigt wurde, legt sich der neue Verkehrsminister Andreas Scheuer terminlich nicht fest und verweist nun ohne konkrete Zeitvorgabe auf das Ende der Legislaturperiode bis 2021 – weil „noch nicht alle technischen und organisatorischen Details geklärt“ seien. Über die Zukunft des alten Berliner Flughafens Tegel möchte er in eine neue Diskussion einsteigen, gegen die bisherige Meinung der Kanzlerin. Zuvor mischte er sich – obwohl nicht zuständig – in den öffentlichen Streit um die Rolle der Muslime und den Islam-Streit in Deutschland im Sinne von Seehofer ein.

Achter Akt:  Die neue Umweltministerin Svenja Schulze aus dem Industrie- und Kohleland NRW möchte erklärtermaßen weder Fahrverbote für Diesel noch eine blaue Plakette, sondern glaubt, dass sie in der Regierung unter der „Autokanzlerin“  mittels Druck auf die Autohersteller die technische Nachrüstung erzwingen kann. Der Kohleausstieg ist bis auf Weiteres auf eine zu bildende „Kommission“ vertagt und damit auch keine klare Aussage zum hinterher hinkenden Klimaschutz von ihr bekannt. Ein Klimaschutzgesetz, um die nicht eingehaltenen Ziele bis 2020 und 2030 zu erreichen, hat bei ihr keine Priorität. Mit dem Verkehrs-Wirtschafts- und Landwirtschaftsministerium will sie lieber  „vorsichtig umgehen“. Der Deutsche Industrie-und Handelskammertag warnte die neue Umweltministerin bereits vor zu viel Einmischung in die Belange der Wirtschaft, denn Vorrang habe „die industrielle Wettbewerbsfähigkeit und Wertschöpfungskette.“. Vogel- und Insektensterben sowie Umweltgifte aus der Landwirtschaft sowie Landschaftszersiedelung – in diese und weitere Themen habe  sie sich „noch nicht eingearbeitet“. Ihre Kollegin im Landwirtschaftsressort, Julia Klöckner, bezeichnet Pestizide oder Ackergifte verharmlosend als „Pflanzenschutzmittel“ und hat kein Ausstiegsprogramm für Glyphosat und auch kein Umverteilungsprogramm für Agrarsubventionen etwa zugunsten des ökologischen Landbaus.

Neunter Akt: Anstelle einer offensiven Entspannungs- und Abrüstungspolitik beteiligt sich Außenminister Heiko Maas (mit Rückendeckung der Kanzlerin) an dem Schüren des neuen kalten Krieges gegen Russland:  Er unterstützt – im Gegensatz zu einem Dutzend zurückhaltender EU-Länder – die voreiligen diplomatischen Strafsanktionen  gegen Russland aus falsch verstandener  „Solidarität“ mit der EU-Aussteigerin Theresa May anlässlich der unbewiesenen Behauptungen und Schuldzuweisungen zu dem Urheber des Giftgas-Anschlags auf einen Ex-Agenten. Zur wichtigen Frage der Zukunft Europas (Kapitel 1 im Koalitionsvertrag) kamen von Maas wie von Merkel weiterhin nur Allgemeinplätze; bei ihrem Antrittsbesuch beim französischen Staatspräsidenten Macron ging die frisch vereidigte Kanzlerin Merkel weiterhin nicht konkret auf seine Reform-Vorschläge ein, die er bereits vor 6 Monaten vorgelegt hatte.

Zehnter Akt: In einem Interview mit Spiegel-online spricht sich der neue Wirtschaftsminister Peter Altmaier für mehr staatliche Subventionen für die Industrie aus und will sich ausgerechnet „an FranzJosef Strauß orientieren“. Als Staatssekretär holte er Ulrich Nussbaum ins Wirtschaftsministerium, ein ehemaliger Fischhändler aus Bremerhaven, den die Medien als erfolgreichen „Fischmillionär“ bezeichneten. Bei seinem Antrittsbesuch in den USA bekräftigte Wirtschaftsminister Altmaier das Ziel der neuen Bundesregierung, die Militärausgaben bis 2024 auf 2% anzuheben und damit von bisher 37 Mrd. € auf künftig 70 Mrd. € fast zu verdoppeln.

Elfter Akt: Die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen trommelt in der neuen Regierung unaufhörlich für die drastische Erhöhung des Verteidigungs-und Rüstungsetats sowie für w eitere und verlängerte Auslandseinsätze der personell aufzustockenden Bundeswehr, gegen die Mehrheitsmeinung der Deutschen. Erst gar nicht zu reden von den Alleingängen der Verteidigungsministerin (noch vor der Vereidigung der neuen Regierung in der bloß geschäftsführenden Zuständigkeitsphase) – indem sie den Standort des Nato-Logistik-Quartiers bei Bonn mit Folgen für den Rüstungsetat einfädelte und eine aggressivere Verteidigungsstrategie gegenüber Russland unwidersprochen auf der privaten Sicherheitskonferenz vor zahlreichen Rüstungslobbyisten verkündete  – sowie den panzergerechten Ausbau der Autobahnen und Schienenstränge gen Osten bis an die polnische Grenze für den Fall einer etwaigen Mobilmachung durch die NATO…

Zwölfter Akt: Die Bundesregierung stärkt ihrem dafür zuständigen deutschen EU-Kommissar in Brüssel, Günther Öttinger, den Rücken bei einem skandalösen Personal-Deal: Der ehemalige Bertelsmann-Lobbyist Martin Selmayr (bisheriger Büroleiter von Kommissionspräsident Juncker) wird ohne ordnungsgemäßes Auswahlverfahren per Blitzbeförderung in die machtvolle Stelle des EUGeneralsekretärs (als Chef der Brüsseler Behörde mit 32.000 EU-Beamten) gehievt – trotz Empörung des EU-Parlaments von der Bundesregierung für gutgeheißen.

Dreizehnter Akt: Ebenfalls noch vor offiziellem Amtsantritt der noch nicht vereidigten neuen Bundesregierung sind deren drei  zuständige Minister mit einem unabgestimmten ad-hoc-Vorschlag außerhalb des Koalitionsvertrags zugunsten eines kostenlosen öffentlichen Personennahverkehrs in mehreren Musterstädten gescheitert, indem sie ihn nach medienwirksamer Propagierung kleinlaut wieder zurückgezogen haben. Eine Neuauflage ist nicht in Sicht und steht auch nicht im Koalitionsvertrag.

Frage nach dieser desaströsen Bilanz der ersten Zwei Wochen der neuen GroKo: Ist es das, was die Wählerinnen und Wähler von der neuen Regierung erwarten und was ihnen versprochen wurde – oder hat sich diese innerhalb von 2 Wochen noch weiter von den Menschen entfernt als ihre zwei GroKo-Vorgänger-Regierungen in 8 Jahren? Diese Frage möge jeder für sich selber beantworten. 

Eine Antwort sei hier zitiert: Kurz nach dem misslungenen GroKo-Start warnt jedenfalls Juso-Chef Kevin Kühnert in einem Interview seine Regierungspartei SPD vor „Siechtum, wenn sie als beliebige Partei der Mitte agiere“ ohne Umverteilung bei Hartz IV. Seine größte Sorge ist, dass wesentliche Projekte nicht angegangen werden. Zahlreiche Menschen könnten mit der Regierungsarbeit und den mutlosen Programmen nicht überzeugt werden. Er vermisst ein anderes Auftreten der SPD in der Regierung sowie eine stärkere Besetzung der Themen Umwelt und Nachhaltigkeit als Lebensgrundlagen der Zukunft statt des „Herumwaberns zwischen den Interessen“.

Wilhelm Neurohr

 

DIE LINKE, Demokratischer Sozialismus, Utopien. Eine Replik

Der »Demokratische Sozialismus« im Programm der Linken wird von einem Sozialdemokraten als Utopie abgetan. „Der politische Kampf für einen demokratischen Sozialismus kann“, behauptet er, „nur zum Verfall der Demokratie und zum Bürgerkrieg in Deutschland führen.“

Selbst wenn humanistische Ideen nicht voll und ganz realisiert werden können oder verfälscht und pervertiert werden wie Buddhas widerspruchsfreie, als authentisch geltende Lehre, der Pali- Kanon, wir würden, gäben wir sie auf, uns selber aufgeben:

Der Stein des Sisyphus rollt immer wieder bergab.
Aber besteht unser Menschsein nicht darin,
dass wir ihn auch immer wieder den Berg hinauftragen,
damit er nicht unten liegen bleibt?

[In Anlehnung an Camus, Le mythe de sisyphe. Essai sur l`absurde]

„Utopie ist `Denken nach Vorn` (Ernst Bloch) als `die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll`“ (Max Horkheimer)

Utopien sind Platons »Staat«, die «Politeia« (4. Jh. v.u.Zr.), Thomas Morus` »Utopia« (1516), Kants »Zum ewigen Frieden« (1795/96). Das waren keine wirkungslose Spinnereien.

„Regieren heißt voraussehen.“ (Robert Jungk) Danach können wir mit Robert Habeck sagen: „Wir haben in Wahrheit keine Regierung“ ,   „sondern ein zusammen getackertes Bündnis von Parteien…“, das, statt die systemischen Übel bei den Wurzeln zu packen, den status quo verwaltet.

Politik verstanden als soziales Handeln, welches das Zusammenleben von Menschen so regelt, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948) formuiert ist.

Heute sind, auch in Deutschland, tiefgreifende Veränderungen des Wirtschafts- und Sozialsystems nötig, um den Menschenrechten Geltung zu verschaffen. Die Koalitionäre der SPD sind dazu nicht fähig und nicht willens, denn die Partei ist vom Wohlwollen und von den Wohltaten der zum Teil transnationalen und globalen Banken und Konzernen ebenso abhängig wie die CDU/CSU und die FDP. Sie ist Teil des neoliberalen Systems. Der Grundsatz „Eigentum verpflichtet“ (GG. Art….) ist nur noch eine Leerformel.

Es ist kein Zufall, dass der entfesselte Kapitalismus gleich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der übrigen europäischen realsozialistischen Staaten seinen Anfang nahm und in das von ihr hinterlassene Machtvakuum stieß.

Dadurch sind fast alle Demokratien ausgehöhlt worden und nur noch formal vorhanden. Die Bundesrepublik ist da keine Ausnahme. In den westlichen Gesellschaften dominiert, wie überall, wo der Kapitalismus herrscht, Konsumismus und Egozentrismus. Im Kapitalismus sind die Sinne des Menschen auf den Sinn des Habens verkümmert (K. Marx, E. Fromm).

Trotzdem sollten wir die Möglichkeit, eine sozialistische Gesellschaft durch einen sozialökologischen Umbau der Produktions- und damit auch der Lebensverhältnisse in vielen kleinen konkreten Schritten zu verwirklichen, nicht ausschließen. Denn wir können heute nicht mehr voraussagen, was morgen geschieht. Trumps infantile Extravaganzen und die Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Roboter und andere neue zivile und militärische Technologien machen eine Prognose unmöglich. Die Digitalisierung kann aber auch eine globale Demokratisierung in Gang setzen.

Die Schüler*innen-Poteste gegen Trump und die Waffenlobby haben gezeigt, wie das geht.

Wilhelm Neurohr: „Die anhaltende Liaison der SPD-Führung mit der Finanz- und Bankenwelt“

Leserbrief an die RZ:

 „Die anhaltende Liaison der SPD-Führung mit der Finanz- und Bankenwelt“

Nachdem Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) von 2006 bis 2016 ein Jahrzehnt lang Bankberater im Europäischen Beirat der Investmentbank Rothschild war, und der vorige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück seit 2016 als Berater des Vorstandes der ING DiBa-Bank tätig ist,  zeigt die neue SPD-Führung in der GroKo erneut ihre Nähe zur Finanz- und Bankenwelt durch personelle Verflechtungen:

Der neue Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz  holte den Deutschland-Chef der US-Investmentbank Goldman-Sachs, Jörg Kukies, Experte für Wertpapierhandel, als Staatssekretär ins Bundesfinanzministerium. Künftig also ein Investment-Banker und früherer politischer Wegbegleiter von Andre Nahles , SPD-Chefin in spe, als Europastaatssekretär im einflussreichsten SPD-Bundesministerium… Der öffentliche Aufschrei ist so gering, dass es ARD und ZDF in ihren Nachrichtensendungen nicht einmal eine Meldung am 19. März Wert war, derweil man es in den Medien zum Skandal erhob, als US-Präsident Donald Trump den Vize-Chef der US-Investment-Bank Goldman Sachs, Gary Cohn, in 2016  zu seinem wichtigsten Wirtschaftsberater ernannte.

Auch als der ausgeschiedene EU-Kommissionschef Barroso ohne Karenzzeit als Lobbyist zu Goldman-Sachs wechselte und sich nun jüngst in dieser Rolle heimlich mit dem EU-Vize-Kommissionschef Jurky Katainen traf, empörte sich nicht nur das EU-Parlament, sondern auch die Medienöffentlichkeit. Das Eindringen von Goldman-Sachs in ein hohes Regierungsamt der deutschen GroKo unter einem SPD-Finanzminister fand nur in wenigen Medien Beachtung und blieb meist unkommentiert.

Als zweiten Staatssekretär holte SPD-Finanzminister Olaf Scholz Werner Gatzer (der zur Bahn AG gewechselt hatte) wieder zurück ins Finanzministerium, wo er zuvor für Wolfgang Schäuble (CDU-Finanzminister) die „schwarze Null“ gesichert hatte. SPD und CDU sind sich untereinander und der Finanzwelt in der GroKo also ganz nahe (und könnten eigentlich in punkto Finanzsektor als Parteien fusionieren).

Schon in der Vergangenheit zeigten sich hohe SPD-Politiker der Finanz-und Bankenwelt eng verbunden: So ging 2012 der ehemalige BND-Chef  Ernst Uhlau (SPD) als Berater zur Deutschen Bank, die sich in der Folge immer mehr als „kriminelle Skandalbank“ entpuppte mit rechtskräftigen Milliarden-Strafzahlungen wegen Geldwäsche, manipulierter Zinssätze, Betrug und Falschinformationen in US-Hypothekengeschäften usw.

Der SPD-Politiker Hans Martin Bury, ehemaliger Staatsminister im Bundeskanzleramt und im Auswärtigen Amt, war von 2005 bis 2008 Direktor und Vorstandsmitglied bei der Investmentbank Lehman Brothers. Nach deren Zusammenbruch im Zuge der Finanz- und Bankenkrise stieg er als Direktor bei der Nachfolgerin Nomura-Bank ein und wurde zugleich von Peer Steinbrück ausgerechnet in die SPD-Arbeitsgruppe „Mehr Transparenz und Stabilität auf den Finanzmärkten“ berufen. Und der frühere SPD-Arbeitsminister Walter Riester war von 2009 bis 2012 im Aufsichtsrat der Union Investment, die Investment-Fonds für Privatkunden anbietet.

Die anhaltende Liaison der SPD-Führung mit der Finanz- und Bankenwelt verheißt uns wohl für die GroKo-Politik nichts Gutes, insbesondere nicht im Fall einer erneuten und gar nicht unwahrscheinlichen Bankenkrise, angesichts der wieder gelockerten Regulierungen und zunehmenden Deregulierungen – womöglich ganz im Sinne des  Goldman Sachs-Staatssekretärs unter Olaf Scholz, der dann für die europäische Bankenaufsicht mit zuständig ist…

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: „SPD ist heute eine Partei der Akademiker, Berufspolitiker und Besserverdienenden“

Leserbrief an das Medienhaus Bauer:

 „SPD ist heute eine Partei der Akademiker, Berufspolitiker und Besserverdienenden“

Die nachfolgende Fakten belegen ziemlich eindeutig:  Die als „Arbeiterpartei“ gestartete und als „Volkspartei“ gescheiterte SPD ist heute in ihrem gehobenen Funktionärskörper eine abgehobene Partei der Akademiker und Besserverdienenden und spiegelt nicht mehr den eigentlichen Bevölkerungsquerschnitt wider –  und das vor allem im SPD-Stammland NRW der viel zitierten „Malocher und sozial Abgehängten“. Deshalb nimmt die sozialdemokratische Partei mit ihren fast  ausschließlich akademisch gebildeten Berufspolitikern als bestens bezahltes Führungspersonal, das selber auch nicht innerhalb der eigentlichen sozialen Brennpunkte und Milieus wohnt,  zwangsläufig den Blickwinkel des gehobenen Mittelstandes ein und bewegt sich in seiner abgehobenen Subkultur fern ihrer Klientel, mehr noch als die andere „große Volkspartei“.

Hier der Fakten-Check: für NRW:  Während in der Gesamtbevölkerung nur 31% das Abitur oder Fachabitur haben und nur 17% Akademiker sind, stellt sich der Akademiker-Anteil im 36-köpfigen SPD-Landesvorstand NRW wie folgt dar: Im Gesamtvorstand sind 78% Akademiker, im engeren 7-köpfigen Vorstand beträgt die Akademiker-Quote sogar 86 % , denn der Vorsitzende und sämtliche 5 Stellvertreter sind Akademiker. (Lediglich der Schatzmeister war vorher Gewerkschaftssekretär und Chefredakteur). Es dominieren Juristen, Lehrer, Ökonomen, Sozialwissenschaftler und Beamte. Die ganz wenigen Nicht-Akademiker im Landesvorstand haben aber andere gehobene Berufe, vom Bankkaufmann und Handwerksmeister über selbständigen Textilkaufmann bis zum aufgestiegenen Konzernchef einer Immobiliensparte.

Die 18 Mandatsträger im SPD-Landesvorstand  (11 Landtags- und 4 Bundestagsabgeordnete sowie 3 Europa-Abgeordnete) sind ebenfalls zu 78% Akademiker. Rühmliche Ausnahmen „zum Vorzeigen“ sind eine Krankenschwester und ein Akademiker, der vor dem zweiten Bildungsweg Bergmechaniker war. Wo sind heute in den Parteigremien die Handwerker und Fabrikarbeiter, die prekär Beschäftigten und Arbeitslosen, die alleinerziehenden Frauen und die Rentner, denen der Zugang zu den nicht repräsentativen Parlamenten akademisch verbaut ist?

.Das war zur „Blütezeit“ der NRW-SPD völlig anders, als die Arbeitnehmer und Betriebsräte sich auch in der damals repräsentativen und volksnahen Funktionärsschicht der Partei und als Mandatsträger wiederfanden und für absolute Mehrheiten sorgten. Inzwischen sind sie von ehrgeizigen und eloquenten „studierten Genossen“ komplett verdrängt wurden, die sich auf eine Dauerkarriere als „Berufspolitiker“ eingerichtet haben und von denen viele gleich nach dem (vereinzelt abgebrochenen) Studium in parteinahen Einrichtungen, von der AWO oder der Ebert-Stiftung bis zu den Stadtwerken,  beruflich gestartet und parteipolitisch gefördert worden sind, um nicht ins „akademische Proletariat“ abzurutschen.

Damit ging auch das Bewusstsein von einem bloßen „Mandat bloß auf Zeit“ völlig verloren, denn die meisten akademischen Genossen streben nach einem Mandat auf Lebenszeit als „ewige Berufspolitiker“ mit sicherem Spitzeneinkommen. Im Bundestag schafften sie es, dass sie sich als Mandatsträger nach nur 2 Wahlperioden von 8 Jahren Dauer soviel Rentenansprüche gesichert haben wie ein normaler Durchschnittsverdiener nach 45 Jahren.

Wen verwundert deshalb die oft fehlende Empathie der akademischen Agenda-Partei für das Millionenheer der wirklichen sozialen Verlierer und auf 48% gedeckelten Armutsrentner in diesem Land, in das sie sich als deren „politische Interessenvertreter“ nur theoretisch hineinversetzen können. Deshalb in der vergangenen  Wahlperiode auch die viel kritisierte Verschärfung statt Lockerung der Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger durch SPD-Arbeitsministerin Nahles?

Wann also will die SPD nach ihren historischen Wahlniederlagen in NRW mit fast 8% Stimmenverlusten und im Bund mit über 5% Verlusten nun endlich an eine ernsthafte Ursachen- und Fehleranalyse herangehen und sich „neu aufstellen“?   Dann kommt sie nicht umhin, der sehr unbequemen Tatsache ins Auge zu sehen, warum sie sich mit ihrer obersten Funktionärsschicht von ihren Stammwählern und ihrer sozialen Klientel komplett fortentwickelt hat und deshalb auch eine personelle Erneuerung dringend benötigt.

 

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: „Personaltableau der SPD-Minister kein Signal für wirklichen Aufbruch“

Leserbrief an das Medienhaus Bauer, Marl, zur Vorstellung der neuen Minister-Riege der SPD für die GroKo:

 „Personaltableau der SPD-Minister kein Signal für wirklichen Aufbruch“

Auf den ersten Blick scheint dem SPD-Parteivorstand am  9. März unter der Regie der designierten Vorsitzenden Andrea Nahles – die von den Parteimitgliedern oder Delegierten noch gar nicht als Parteivorsitzende gewählt oder legitimiert worden ist – mit der Vorstellung ihrer 6 GroKo-Minister ein ausgewogenes Personaltableau gelungen zu sein.  Doch bei näherem Hinschauen relativiert sich der Eindruck für Insider recht schnell ,  denn es wird  mit dieser Minister-Riege doch wieder die Dominanz des rechten „Seeheimer Flügels“  sichtbar bei dieser personaltaktischen Entscheidung „von oben“. Und damit werden Zweifel genährt an dem tatsächlichen „Neuanfang“ einer sozialeren GroKo-Politik der SPD-Minister, wie der Parteibasis und der Bevölkerung versprochen wurde, denn die wichtigen Schlüsselressorts haben sich Verfechter der umstrittenen Agenda 2010 gesichert, ein Beleg des „Weiter so“.

Zwar sollen wohl mit den drei ausgewählten Frauen für die eher nachrangigen Ressorts Familie, Justiz und Umwelt einerseits die 30% weiblichen SPD-Mitglieder und andererseits zugleich die Mitte der Partei und der linke Flügel personell zufriedengestellt werden.  Das Familienressort bezeichnete der Altkanzler Schröder einmal geringschätzig als „Ministerium für soziales Gedöns“, obwohl Franziska Giffey als neue Familienministerin der einzige Lichtblick ist. Aus dem Umweltministerium sind seit langem die umweltrelevanten  Ressorts Bauen, Verkehr und Energie ausgegliedert, so dass ein Großteil der  Umweltpolitik von CDU-Ministerien gestaltet wird. Und die Justizmisterin hat faktisch die eingeschränkte Funktion einer Justitiarin der Bundesregierung.

Das einflussreiche Schlüsselressort Finanzen mitsamt der Rolle des Vizekanzlers hat sich ausgerechnet Olaf Scholz gesichert, der als Dienstältester der 5 stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden für ein paar Wochen nur deshalb „kommissarischer Parteivorsitzender“ sein durfte, weil die Parteibasis den peinlichen Satzungsverstoß bei der voreiligen „Inthronisierung“ von Andrea Nahles als „Hinterzimmer-Entscheidung“ nicht akzeptierte. Von den Parteitagsdelegierten erhält der an der Basis unbeliebte Olaf Scholz vom rechten „Seeheimer“ Parteiflügel  regelmäßig die wenigsten Stimmen, zuletzt gerade einmal knappe 59%. Als ehemaliger SPD-Generalsekretär unter SPD-Chef Gerhard Schröder zählt er noch heute zu den strammsten Verfechtern der an der Basis umstrittenen Agenda 2010. Längst ist es Historie, dass er als junger Juso mal Anhänger der dogmatisch-marxistischen „Stamokap-Theorie“ (Staatsmonopolkapitalismus) in ideologischer Nähe fast zur DKP war, ebenso wie die zur politischen Mitte gerückte künftige Umweltministerin Svenja  Schulz aus NRW.

Das zweitwichtigste Ressort für Arbeit und Soziales, in dem 42% des gesamten Bundeshaushaltes verwaltet und die gesamte Sozialpolitik gestaltet wird, hat sich ebenfalls ein bekennender Anhänger der Agenda 2010 gesichert: Hubertus Heil, der als früherer SPD-Generalsekretär mit nur 61% Unterstützung durch die Parteitagsdelegierten fungierte und als Wahlkampfmanager bei der Bundestagswahl 2009 für ein mageres 23%-Ergebnis mitverantwortlich war.  Dass ausgerechnet er in der Lage und willens sein soll, die soziale Ungerechtigkeit und Armut in diesem Lande zu beseitigen, glaubt wohl kein Parteimitglied. Und das ebenfalls wichtige Außenministerium in Männerhand sicherte sich Heiko Maas, Sohn eines Berufssoldaten aus dem gutbürgerlichen Saarlouis, der sich ebenfalls nicht als Agenda-Kritiker hervorgetan hat.  Sieht so sozialdemokratischer Neuanfang aus?

Bleibt nur die Hoffnung auf die  mitgliederstarke NRW-SPD als Landtagswahl-Verlierer,  die in ihrem Stammland 8% der Stimmen verlor und seither besonders laut nach „Erneuerung“  ruft. Allen voran  ausgerechnet deren früherer Generalsekretär und für die Wahlschlappe mitverantwortliche Landesminister Michael Groschek, früher in der Immobilienwirtschaft tätig. Der 62-jährige wird flankiert vom  71-jährigen Fraktionsvorsitzenden Norbert Römer,  früher in der privaten Versicherungswirtschaft, als Zeitsoldat  und als Redakteur der IGBCE- Mitgliederzeitschrift tätig, der nach der Wahlniederlage krampfhaft an seinem Fraktionsvorsitz festhielt –  (übrigens ein politischer Ziehsohn des damaligen „SPD-Rechtsaußen“  und legendären „Kanalarbeiters“ Horst Niggemeier, dem im Jahr 2000 verstorbenen SPD-Unterbezirksvorsitzenden von Recklinghausen). Diese beiden Garanten für ein „Weiter so“ sollen plötzlich die Hoffnungsträger  für die personelle und inhaltliche Neuaufstellung der SPD von der Landes- bis zur Bundesebene sein? Ein armseliges Aufbruch-Signal…

Wilhelm Neurohr

Wilhelm Neurohr: „SPD-Minister der GroKo blockieren erneut wichtige UN-Initiative“

Leserbrief an das Medienhaus Bauer zu der aktuellen Blockade des UN-Paktes für Menschenrechte durch die Bundesregierung:

 „SPD-Minister der GroKo blockieren erneut wichtige UN-Initiative“

Einen Vorgeschmack darauf, was uns von der nochmaligen GroKo in wichtigen politischen Fragen an skandalösen Fehlentscheidungen erwartet, lieferten uns nun zum zweiten Mal die dort zuständigen SPD-Minister mit der erneuten Blockade eines wichtigen UN-Abkommens für die Menschenrechte.

Zur Erinnerung: Erst im vorigen Jahr hatte die GroKo unter dem federführenden SPD-Wirtschaftsminister und späteren Außenminister Sigmar Gabriel  – zusammen mit den Atommächten und den NATO-Staaten – die Unterzeichnung des UN-Atomwaffenverbotsvertrages verweigert und boykottiert, der am 7. Juli 2017 von 122 UN-Mitgliedsstaaten feierlich unterzeichnet wurde. Mit der Ablehnung eines Oppositionsantrages der Grünen und Linken im Bundestag für die Unterzeichnung hatten die Regierungsparteien CDU und SPD sich sogar den bloßen Verhandlungen bei den UN verweigert und obendrein eine Protestnote erwogen, um sich die „Option der nuklearen Teilhabe“ offenzuhalten.  Damit stellten sie sich auch gegen den Willen der Bevölkerung, denn laut Umfragen sprachen sich 70% der Deutschen für das Verbotsabkommen für Atomwaffen aus. Die Initiatoren bei der UN, das involvierte zivilgesellschaftliche Bündnis ICAN, erhielt sogar im Dezember 2017 dafür den Friedensnobelpreis. Alles das interessierte die SPD-Minister der GroKO nicht, deren eigener  Friedennobelpreisträger Willy Brandt als überlebensgroße Statue in der Parteizentrale thront (und sich wahrscheinlich im Grab umdrehen würde…)

Denn nun hat die nur geschäftsführende Bundesregierung, namentlich die zuständigen SPD-Ressortminister in ihren letzten Amtstagen vor der Regierungsneubildung ein weiteres wichtiges Abkommen der Vereinten Nationen abgelehnt.  Mit dem unterschriftsreifen UN-Pakt sollten verbindliche Menschenrechtsnormen für transnationale Konzerne und Unternehmen festgelegt werden, um die Menschen in ärmeren Ländern vor Ausbeutung, Landvertreibung, Korruption oder Bedrohung ihrer Gewerkschaftsvertreter  zu schützen.  Doch SPD-Außenminister Gabriel, unterstützt von dem Ressort Justiz unter SPD-Minister Heiko Maas, dem Ressort Arbeit und Soziales unter SPD-Ministerin Andrea Nahles (designierte SPD-Vorsitzende) sowie dem CSU-geführten Entwicklungsministerium lehnten das einhellig ab. Sie  beharren im Interesse der eigenen Wirtschaft  auf bloße „freiwillige Selbstverpflichtungen“ der Konzerne, die bisher so gut wie nie wirklich funktioniert  haben, wie die vielen skandalösen Menschenrechtsverletzungen der jüngsten Zeit zeigen. Offensichtlich haben  die Konzernlobbyisten wieder einmal Gehör bei unserer Regierung gefunden, zu Lasten der oft rechtlosen Arbeitnehmer und Betroffenen in den ärmeren und teils korrupten Ländern.

Offenbar sind für die SPD-Spitzenpolitiker in einer „marktkonformen Demokratie“ sogar die Menschenrechte „verhandelbar“. Jedenfalls wollen Sie auch die anderen EU-Länder auf diese Verhandlungslinie bringen. Wir ahnen nun, was sie unter „inhaltlicher Neuausrichtung sozialdemokratischer Politik“ verstehen oder missverstehen. Wenn die Parteibasis bei ihrer Forderung nach „inhaltlicher und personeller Neuausrichtung“ ihre Parteioberen dafür nicht abstraft, dann wird wohl die älteste Partei Deutschlands durch die Wähler insgesamt weiter abgestraft werden.

Wilhelm Neurohr, Haltern am See. NRW