Claus Kittsteiner: Bauchgeprägtes Denken macht blind

Leserbrief zum Attentat von Berlin: „Der Erfolg der Terroristen“, FR-Meinung vom 21. Dezember

Mit Traurigkeit verfolge ich das schlimme Geschehen der Terroranschläge. Traurig und wachsam macht mich auch so mancher Kommentar von „Normalbürgern“, die die terroristischen Anschläge für ihre und für Parteizwecke instrumentalisieren. Sie tun es zur Bestätigung ihrer ohnehin bestehenden Ablehnung gegenüber Menschen, die ihnen als fremd erscheinen. Kennen wir doch!

Ich bin selber Flüchtling. Meine Familie hat diese dumpfe Ablehnung von „Fremden“, selbst erlebt. Vor Jahrzehnten sogar im eigenen Lande, als von Schlesien nach Süddeutschland Evakuierte, und das vonseiten von Mitbürgern, die das „gesunde Volksempfinden“ für sich beanspruchten.

„Bauchgeprägtes“ Denken in aktualisierter Form macht viele blind gegenüber den Folgen der vom Westen (mit)verursachten Kriege im Nahen Osten. Die Quittung haben wir nun vor Augen, flüchtende Menschen kommen zu uns. Die im Vergleich zu deren Gesamtzahl und zur aktuellen Kriminalstatistik geringe Zahl an Kriminellen unter ihnen wird gezielt und bewusst angsterzeugend verallgemeinert – genau davon lebt die neue Partei des sog. gesunden Volksempfindens. Sie kommt an bei Leuten, die nicht gelernt haben oder sich weigern, den Unterschied zwischen Ursachen und Folgen zu sehen. Das sog. gesunde Volksempfinden blüht wieder auf, die AfD befeuert es und macht wissend ihr großes Geschäft daraus.

Die Unterstellung, Führer- und Wählerschaft der sich als „völkisch“ propagierenden AFD seien nur Dummköpfe, greift historisch nicht. Unter den völkischen Mitläufern und Vollziehern im NS-Lebensraumkrieg war der Anteil von Akademikern bekanntlich groß, nicht nur in Hitlers SS. Was sagt uns das heute? Formale Bildung allein hilft nicht gegen Rassismus, menschliche Dummheit und zwischenmenschliche Abgestumpftheit. Die Folgen sind bekannt. Land, pass auf!

Claus Kittsteiner, Berlin

[Frankfurter Rundschau vom 24.12.2016]

Günter Meyer: Syrien-Krieg – „Hauptverantwortung liegt bei den USA“

Syrien-Krieg – „Hauptverantwortung liegt bei den USA“

Wenn man nach Verantwortung fragt, dann liegt diese bei den Assad-Gegnern“, sagt Günter Meyer.

Für seine Luftangriffe auf Aleppo und die Blockade im UN-Sicherheitsrat wird Russland heftig kritisiert. Nahost-Experte Günter Meyer macht im heute.de-Interview aber vor allem die USA für die Not der Menschen in Syrien verantwortlich. Und Deutschland? „Hat de facto keinen Einfluss auf die Lage.“

heute.de: Die Hilfsorganisation World Vision vergleicht Aleppo mit Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg. Die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen spricht von einem „kompletten Kollaps der Menschlichkeit“ in Aleppo. Und der UN-Generalsekretär gibt zu: „Wir alle haben die Menschen in Syrien bislang kollektiv hängenlassen.“
Herr Meyer, was hat die Welt in Syrien falsch gemacht?

Günter Meyer: Die Welt hat in Syrien sehr vieles falsch gemacht, aber wir müssen auch sagen, wer was falsch gemacht hat: Und hier liegt die Hauptverantwortung bei den USA. Nach Aussagen des ehemaligen Oberkommandeurs der NATO, General Wesley Clark, begann die US-Regierung bereits unmittelbar nach den Terrorschlägen am 11. September 2001 mit den Planungen des Regimewechsels in sieben Ländern, die von den USA als Gegner angesehen wurden, darunter Irak, Libyen und auch Syrien.

Um dort dieses Ziel zu erreichen, haben die USA seit 2005 die Rahmenbedingungen geschaffen. Dazu gehörte neben zahllosen medialen Propagandaaktionen gegen das Assad-Regime die Finanzierung und Ausbildung einer Armee von Terroristen gemeinsam mit Israel und Saudi-Arabien. Diese Truppen sollten für den Sturz der Regierungen in Damaskus und Teheran eingesetzt werden, wie der renommierte Journalist Seymour Hersh 2007 aufdeckte.

heute.de: 2011 begann der Krieg in Syrien. Welche Fehler wurden da gemacht?

Meyer: Der Westen, also insbesondere die USA, hat die aufständischen Dschihadisten mit Waffen versorgt und teilweise auch ausgebildet. Die materielle und personelle Logistik wurde vor allem von der Türkei abgewickelt, während die finanzielle Unterstützung zum größten Teil aus Saudi-Arabien und Katar kam. Saudi-Arabien hat dabei salafistische Extremisten gefördert, um in Syrien eine radikal-islamistische Regierung zu etablieren. Hier war die Eroberung von Aleppo 2012 für die Dschihadisten ein wichtiger Schritt…

→  http://www.heute.de/interview-mit-syrien-experte-guenter-meyer-sieht-verantwortung-fuer-syrien-krieg-beim-westen-46114990.html

Reinhard Merkel: Syrien – Der Westen ist schuldig

Syrien – Der Westen ist schuldig

Wie hoch darf der Preis für eine demokratische Revolution sein? In Syrien sind Europa und die Vereinigten Staaten die Brandstifter einer Katastrophe. Es gibt keine Rechtfertigung für diesen Bürgerkrieg.

von Reinhard Merkel

Der Westen, wenn diese etwas voluminöse Bezeichnung gestattet ist, hat in Syrien schwere Schuld auf sich geladen – nicht, wie oft gesagt wird, weil er mit seiner Unterstützung des Widerstands gegen eine tyrannische Herrschaft zu zögerlich gewesen wäre, sondern im Gegenteil: weil er die illegitime Wandlung dieses Widerstands zu einem mörderischen Bürgerkrieg ermöglicht, gefördert, betrieben hat. Mehr als hunderttausend Menschen, darunter Zehntausende Zivilisten, haben diese vermeintlich moralische Parteinahme mit dem Leben bezahlt. Und es werden viel mehr sein, wenn dieser Totentanz irgendwann ein Ende findet.

Diese Strategie ist eine Variante dessen, was seit der Invasion des Irak vor zehn Jahren „demokratischer Interventionismus“ heißt: das Betreiben eines Regimewechsels mit militärischen Mitteln zum Zweck der Etablierung einer demokratischen Herrschaft. Im Irak besorgten die Invasoren das eigenhändig. Der Kriegsgrund wurde, wie wir wissen, zwischendurch umstandslos ausgewechselt: Waffen hin oder her – jedenfalls befreie man ein unterdrücktes Volk. Auch dieses Ziel rechtfertige den Angriff.

Die verwerflichste Spielart

Was in Syrien geschieht, ist eine dem Anschein nach mildere Form des Eingriffs, da sie den Sturz des Regimes dessen innerer Opposition überlässt, die von außen nur aufgerüstet – und freilich auch angestiftet – wird. In Wahrheit ist sie die verwerflichste Spielart: nicht so sehr, weil sie neben dem Geschäft des Tötens auch das Risiko des Getötetwerdens anderen zuschiebt. Eher schon, weil sie die hässlichste, in jedem Belang verheerendste Form des Krieges entfesseln hilft: den Bürgerkrieg.

Jedenfalls übernehmen die Intervenierenden die vermeintliche und absurde Rolle von Unschuldigen. Es ist ein suggestives Herabsetzen der Legitimationsschwelle für das eigene Handeln vor den Augen der Welt: Wir sind es nicht, die in Syrien töten; wir helfen nur einem unterdrückten Volk. So lässt sich offenbar eine Aura des Moralischen erschleichen. Rätselhaft ist, dass dies ohne nennenswerten Widerspruch gelingt.

Soweit ich sehe, ist schon die Grundfrage kaum gestellt, geschweige denn beantwortet worden: die nach der Legitimität der bewaffneten Rebellion in Syrien. Bei welchem Grad der Unterdrückung darf der berechtigte Widerstand gegen dessen Herrschaft zum offenen Bürgerkrieg übergehen? Und war diese Schwelle in Syrien erreicht, als die Unruhen begannen?

Die Lebens- und Leidenskosten

Denn war sie es nicht, dann war das Anheizen des Aufstands von außen verwerflicher noch als dieser selbst. Wie selbstverständlich scheint man vorauszusetzen, der legitime innere Widerstand gegen einen Diktator wie Assad schließe stets die Erlaubnis zur Gewalt ein. Aber das ist falsch. Diskutabel wäre es allenfalls, wenn dabei nur das Verhältnis der Rebellierenden zu ihrem Unterdrücker und dessen Machtapparat im Spiel wäre. Dann ginge es allein um eine Art kollektiver Notwehr, und deren Rechtfertigung mag, je nach Art der attackierten Diktatur, ohne weiteres begründbar sein…

→  http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/syrien-der-westen-ist-schuldig-12314314-p5.html?printPagedArticle=true#pageIndex_5

Aufruf: „Die Spirale der Gewalt beenden – für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik jetzt!“

Aufruf: „Die Spirale der Gewalt beenden – für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik jetzt!

Immer mehr setzen die NATO und Russland auf Abschreckung durch Aufrüstung und Drohungen gegeneinander statt auf gemeinsame Sicherheit durch vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, Rüstungskontrolle und Abrüstung.

Sie missachten damit auch ihre Verpflichtungen zum Aufbau einer gesamteuropäischen Friedensordnung, zur Stärkung der Vereinten Nationen und zur friedlichen Beilegung von Streitfällen mit einer obligatorischen Schlichtung durch eine Drittpartei, die die Staatschefs Europas und Nordamerikas vor 25 Jahren in der “Charta von Paris”*) feierlich unterschrieben haben. Seitdem ist mühsam aufgebautes Vertrauen zerstört, und die friedliche Lösung der Krisen und Konflikte erschwert worden.

Ohne Zusammenarbeit mit Russland drohen weitere Konfrontation und ein neues Wettrüsten, die Eskalation des Ukraine-Konflikts, und noch mehr Terror und Kriege im Nahen Osten, die Millionen Menschen in die Flucht treiben. Europäische Sicherheit wird – trotz aller politischen Differenzen über die Einschätzung des jeweils anderen inneren Regimes – nicht ohne oder gar gegen, sondern nur gemeinsam mit Russland möglich sein.

Das ist die zentrale Lehre aus den Erfahrungen mit der Entspannungspolitik seit den 60er Jahren, namentlich der westdeutschen Bundesregierung unter Willy Brandt. Er erhielt dafür 1971 den Friedensnobelpreis mit der Begründung des Nobelkomitees, er habe „die Hand zur Versöhnung zwischen alten Feindländern ausgestreckt“. Niemand konnte damals wissen, dass kaum zwanzig Jahre später der friedliche Fall der Berliner Mauer und des „Eisernen Vorhangs“ in Europa einen Neuanfang ermöglichen würden, nicht zuletzt ein Ergebnis der von Willy Brandt durchgesetzten und danach fortgesetzten Entspannungspolitik!

Der Ausweg aus der Sackgasse der Konfrontation führt auch heute nur über Kooperation, durch Verständigung mit vermeintlichen „Feindländern“!

Anfang 2009, zum Amtsantritt von Präsident Obama, mahnte der „Architekt der Entspannungspolitik“, Egon Bahr, gemeinsam mit Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker und Hans Dietrich Genscher, in einem Appell für eine atomwaffenfreie Welt: „Das Schlüsselwort unseres Jahrhunderts heißt Zusammenarbeit. Kein globales Problem ist durch Konfrontation oder durch den Einsatz militärischer Macht zu lösen“.

Ähnliche Aufrufe von „Elder Statesmen“ gab es in anderen Ländern. Im Bundestag einigten sich im März 2010 Union, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf einen gemeinsamen Antrag (17/1159), der unter anderem den „Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland“ forderte. Angesichts der Eskalation der Ukraine-Krise und zur Unterstützung von „Minsk 2“ wuchs Anfang 2015 auch in den Parteien die Forderung nach einer „neuen Entspannungspolitik“.

Egon Bahr und andere machten immer wieder Vorschläge zur Entschärfung bzw. Lösung der aktuellen Konflikte mit Methoden der Entspannungspolitik. Zahlreiche, teils prominente Bürgerinnen und Bürger engagierten sich mit Erklärungen und Aufrufen. In einer gemeinsamen Erklärung fordern VertreterInnen aus Kirchen, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft „eine neue Friedens- und Entspannungspolitik jetzt!“. Aber diese Aufrufe verhallten nahezu ungehört.

Heute ist die breite gesellschaftliche und parteiübergreifende Debatte über Entspannungspolitik notwendiger denn je, um zu helfen, die Konfrontation in Europa zu beenden und die europäischen Krisen zu bewältigen und – mit Nutzen für die ganze Welt – eine Zone gesamteuropäischer “gemeinsamer Sicherheit“ durch Zusammenarbeit aller Staaten von Vancouver bis Wladiwostok durchzusetzen.

Unterstützen Sie den Aufruf mit dem folgenden Formular –  das erleichtert uns die Erfassung – ODER senden Sie eine E-Mail an Burkhard Zimmermann.

Mehr hierzu →  http://neue-entspannungspolitik.berlin/de/aufruf/

Friedrich Gehring: Gesucht: kollektive Sicherheit

Leserbrief zu: „EU regt Rüstungsfonds an“, FR-Politik vom 1. Dezember 2016

Jean-Claude Junckers Ruf nach europäischen Rüstungsprojekten in der Hoffnung, damit „unsere kollektive Sicherheit zu garantieren“, verrät den militärisch verengten Blickwinkel der EU-Kommission. Wie viel Kriegsleid muss noch geschehen, bis unsere europäischen Verantwortlichen Abstand gewinnen von militärisch gestützter „kollektiver Sicherheit“.

Dieser Begriff aus der Friedensbewegung wurde bereits auf den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 als Absage an militärische Konfliktlösungen geprägt und hat als solcher 1949 Eingang gefunden in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (Art. 24 Abs. 2). Nahezu alle Völkerrechtsgelehrten sehen in Systemen kollektiver Sicherheit den Versuch, die Sicherheit aller möglichen Konfliktpartner miteinzubeziehen. Solches Bemühen steht im krassen Gegensatz zu Verteidigungsbündnissen wie etwa der Nato, die Gegner auf der Basis des Faustrechts unterwerfen wollen. Insofern ist Trumps angekündigter US-Rückzug aus militärischen Sicherheitsgarantien eine Chance für ein Umdenken.

Wer den baltischen Staaten oder Polen oder der Ukraine militärisch Sicherheit verschaffen will vor russischem militärischem Machtstreben, sollte jetzt in den Nahen Osten schauen. G. W. Bushs Irakkrieg gegen das Böse hat die Bosheit in Gestalt des IS noch größer gemacht, weil die Sicherheitsinteressen der nach Hussein entmachteten Sunniten von der neuen Regierung grob missachtet wurden. Die Aufrüstung der Assad-Gegner hat einen multilateralen Stellvertreterkrieg in Syrien verstärkt und das furchtbare Leid in Städten wie Aleppo verschärft. Der Kardinalfehler war, dass nach Ende des Kalten Kriegs der westliche Triumphalismus verhindert hat, auch Russland in ein „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ nach Art. 24 (2) GG einzubinden.

Insbesondere die deutsche Politik ist jetzt herausgefordert, den Vorgaben der eigenen Verfassung gemäß einen US-Rückzug als Chance zu begreifen und in Europa für nichtmilitärische kollektive Sicherheit zu sorgen. Dazu brauchen wir keinen Rüstungsfonds, sondern einen Friedensfonds.

Friedrich Gehring, Backnang

[Frankfurter Rundschau vom 12.12.2016]

Prof. Mohssen Massarrat: Statistik der Unterbeschäftigten

Leserbrief zu: „Weniger Arbeitslose“, FR-Wirtschaft vom 1. Dezember 2016:

Haben Sie in den letzten Jahren schon mal davon gehört, dass in Deutschland die Zahl der Arbeitslosen ansteigt? Pünktlich zu Ende November verkündete die Bundesagentur für Arbeit mit gut 2,5 Millionen Arbeitslosen den tiefsten Stand seit 1991. Sämtliche Medien verbreiteten diese fröhliche Nachricht. Nur „ZDF Heute Plus“ um Mitternacht vom 30. November wollte sich mit dem „Vierteljahrhundertereignis“ nicht abfinden.

„Die Zahlen auf dem Arbeitsmarkt werden nämlich seit Jahren vor allem schöngerechnet“, kommentierte die Moderatorin. „Bei Statistiken hängt alles von der Berechnungsmethode ab“, wurde im anschließenden Bericht konkretisiert. Und sie „wurde seit 1986 nämlich 17-mal verändert. Überraschung – fast immer danach sind auch die Arbeitslosenzahlen gesunken“. Denn wer arbeitslos ist, wird immer wieder neu definiert.

Konkret wurden bei aktuellen Zahlen 74 866 Arbeitslose nicht mitgezählt, weil sie im Augenblick krankgemeldet sind. Mitgezählt wurden auch nicht 173 782 Arbeitslose, die gegenwärtig eine Fortbildung machen. Aus der Arbeitslosenstatistik fallen auch 160 834 Personen heraus, weil sie über 58 Jahre alt und schwer vermittelbar sind. Nicht mitgezählt werden ferner 87 668 Ein-Euro-Jobber, die bei kommunalen Einrichtungen tätig sind, um ihr Arbeitslosengeld aufzustocken.

Alle diese Gruppen, die im Grunde arbeitslos sind und auch Arbeitslosengeld erhalten, werden unter dem Begriff „Unterbeschäftigte“ zusammengefasst, deren Zahl insgesamt im letzten November an eine Million heranreicht, so die „Heute Plus“-Redaktion. Ohne eine derartige Manipulation der Zahlen wäre die Arbeitslosenquote im November 2016 in Wirklichkeit 7,8 Prozent und nicht, wie behauptet, 5,7 Prozent.

In den Ohren von mindestens 3,5 Millionen Arbeitslosen, die keine Aussicht auf einen Job haben, muss die Ungeheuerlichkeit der mit großem Tamtam auf Pressekonferenzen der Bundesagentur für Arbeit verbreiteten Nachricht, dass die Arbeitslosenzahlen einen neuen Tiefpunkt erreicht haben, ziemlich zynisch klingen. Man braucht sich also auch nicht zu wundern, wenn die betroffenen Menschen ihr Vertrauen in eine Politik verlieren, die – statt auf einen substanziellen Politikwechsel – auf ein Schönrechnen der Zahlen setzt.

Wohin dieser Vertrauensverlust führt, zeigen die Wahlsiege der AfD bei den letzten Landtagswahlen, die nachweislich auf einen großen Zulauf der Arbeitslosen zu dieser Partei zurückzuführen sind.

Prof. Mohssen Massarrat, Osnabrück

[Frankfurter Rundschau vom 10./11.12.2016]

Lorenz Gösta Beutin: Realistisch ist, für die ganz andere Gesellschaft zu kämpfen

Lorenz Gösta Beutin
Lorenz Gösta Beutin

Kandidaturrede auf der Vertreter*innenversammlung der Linken Schleswig Holstein zur Wahl der Landesliste zur BTW 2017 für Platz 2:

Liebe Genossinnen und Genossen,

gestern habe ich mit vielen anderen Menschen in Kiel gegen einen Auftritt von Beatrix von Storch demonstriert. Es ist richtig, gegen die AfD auf die Straße zu gehen. Wir dürfen niemals zulassen, dass Rassismus zur Normalität wird.

Aber machen wir uns nichts vor, der Erfolg der AfD kommt nicht aus dem Nichts. Er hat seine Ursachen in der Agenda-Politik, in prekären Arbeitsverhältnissen, in der Kürzungs- und Verarmungspolitik der letzten Jahrzehnte. Diese Politik haben alle Parteien mitgetragen, außer uns, und darauf können wir stolz sein.

Vermeintlich sind die Antworten der Rechten die einfacheren Lösungen. Doch Hass und Menschenfeindlichkeit vertiefen die gesellschaftliche Krise. Um die AfD, Pegida und co. wirksam zu bekämpfen, müssen wir die Angst in unserer Gesellschaft bekämpfen. Wir müssen der Angst den Boden entziehen.

Deshalb setzen wir bei der kommenden Bundestagswahl gegen die Politik der Angst unser Programm der Hoffnung, der Zukunft. Wir können uns nicht leisten, dass jedes fünfte Kind in Armut lebt, dass Rentner*innen arbeiten gehen müssen, dass Alleinerziehende von Hartz IV gedemütigt werden, das Menschen 40 Stunden arbeiten und trotzdem nicht von ihrem Lohn leben können. Wir sind die Partei, die sagt, dass der Zustand unserer Gesellschaft keine Naturkatastrophe ist, sondern Ergebnis politischer Entscheidungen. Und diese Politik kann, sie muss geändert werden.

Aber wo Armut ist, da ist auch Reichtum. Deshalb ist der Wandel, den wir brauchen, ein radikaler. Er ist radikal, weil er an die Wurzel geht. Wir sagen: Die Reichen, die Lobbygruppen, die Unternehmensverbände haben über unsere Verhältnisse gelebt. Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten. Wir brauchen endlich wieder eine Vermögenssteuer, einen höheren Spitzensteuersatz, eine gerechte Erbschaftssteuer. Und natürlich Weg mit Hartz IV und her mit einer sanktionsfreien Mindestsicherung. Wir machen uns auf, um die Macht dem 1 Prozent zu nehmen und sie den 99 Prozent zu geben.

Nein, ich rede hier keine Volksgemeinschaft herbei. Wir brauchen den Meinungsstreit, die Vielfalt in unserer Gesellschaft, das Ringen um den richtigen Weg. Aber wie sagte Brecht: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Wir müssen den Menschen ihre Ängste nehmen, für eine Gesellschaft kämpfen, in der alle Menschen sicher und gut leben können. Der Kampf um eine gerechte Gesellschaft ist der Kampf um die Grundlagen unserer Demokratie.

Und die Demokratie, die wir meinen, ist nicht die Demokratie, die uns Merkel, Steinmeier und Gabriel verkaufen wollen. Mit ihren Weltordnungskriegen haben sie vorgegeben, die Demokratie verteidigen zu wollen. Die Bilanz ihres Krieges gegen den Terror: 1,3 Millionen zivile Todesopfer in Irak, Afghanistan und anderswo, Stand März 2015. Nein, es ging dabei um Einflusssphären, um Macht und Rohstoffe. Wenn es um Demokratie ginge, würden sie nicht mit Diktaturen wie Saudi-Arabien oder Qatar paktieren, nicht mit Eritrea oder der Türkei windige Deals schließen.

Tatsächlich kommen seit dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise immer weniger Geflüchtete zu uns. Aber nicht deshalb, weil sich die Europäische Union endlich an die wirksame Bekämpfung der Fluchtursachen gemacht hätte. Nein, weil die Menschen tausendfach im Mittelmeer sterben, die Machen des Zauns um die Festung Europa noch enger gezogen worden sind. Wir sind die, die Geflüchteten Willkommen geheißen haben, wir sind die, die ehrenamtlich geholfen haben, wir sind die, die die Festung Europa schleifen wollen.

Die „Flüchtlingskrise“ kann nur gelöst werden, wenn endlich an die Bekämpfung der Fluchtursachen gegangen wird. Das sind die Kriege dieser Welt, die Waffenexporte, die globale Ungleichheit, die Umweltzerstörung, die Bedingungen zur Produktion unserer Konsumgüter. Die Krise beginnt nicht irgendwo da draußen, die Krise beginnt hier. Hier, in diesem Land, auch in Schleswig-Holstein, finden wir die Hebel, die Krise zu stoppen. Stopp der Rüstungsproduktion, Stopp der Unterstützung autoritärer Regime, Schluss mit den deutschen Auslandseinsätzen. Soziale Sicherheit, eine gerechte Verteilung der Güter dieser Welt sind die Grundlage für Frieden und Menschenwürde.

Wer mich kennt, weiß, dass ich ohne Wenn und Aber für eine konsequente, linke Politik kämpfe. Antifaschismus und Frieden sind für mich die Eckpfeiler meiner Politik, es sind auch die Grundsätze, bei denen wir uns vor Kompromissen hüten sollten, wollen wir nicht den Wesenskern unserer Partei verraten.

Was uns aber gelingen muss: Wir müssen neben unseren Grundsätzen den Gebrauchswert unserer Politik erklären. Wir müssen deutlich machen, warum eine starke LINKE einen Unterschied macht. Wir müssen um Mehrheiten für unsere Inhalte ringen. Wenn ich von Mehrheiten spreche, meine ich auch gesellschaftliche Mehrheiten. Wir müssen aufzeigen, wie die gute Rente für alle funktionieren kann, warum die Bürger*innenversicherung ein wirksames Instrument gegen die Zweiklassenmedizin ist, warum Investitionen in die Infrastruktur sich letztlich für die gesamte Gesellschaft auszahlen.

Die Basis für unseren Erfolg haben wir längst gelegt. Wir sind aktiv in Vereinen, Verbänden und Initiativen, beim Kampf gegen TTIP und CETA, gegen den Pflegenotstand oder für gute Löhne und gute Arbeit in den Gewerkschaften. Wir sind längst eine Partei nicht nur in Bewegung, sondern in den Bewegungen.

Deshalb bringen wir in den Parlamenten auch die Anfragen und Positionen unserer Bündnispartner*innen ein. Wir müssen die Stimme derjenigen sein, die keine Stimme mehr haben bei der Regierenden. Uns geht es nicht ums Wohlwollen der wirtschaftlich Mächtigen oder der Medien. In erster Linie geht es uns darum, die zu erreichen, mit denen wir an Infoständen diskutieren, bei Haustürgesprächen oder Veranstaltungen. Die noch glauben, dass eine ganz andere Politik möglich und notwendig ist.

Nun habe ich in letzter Zeit ab und an die Befürchtung gehört, wenn ich in den Bundestag ginge, Marianne in den Landtag, stünde der Landesverband kopflos da. Ich glaube, das ist etwas zuviel der Ehre. Der Kopf des Landesverbandes sind wir alle gemeinsam. Aber ich habe auch in meiner Bewerbung geschrieben, ich bleibe mindestens bis zum November, bis zur Neuwahl des Landesvorstands Landessprecher. Gemeinsam mit Euch möchte ich einen offensiven, phantasievollen Wahlkampf führen. Als Teil eines starken Landesvorstands möchte ich die Konstituierung und die ersten Schritte unserer künftigen Landtagsfraktion begleiten, für die enge Anbindung an die Partei sorgen. Ein starkes Ergebnis bei den Landtagswahlen wird für uns Grundlage sein, dass wir in Schleswig-Holstein auch bei den Bundestagswahlen gut abschneiden. Es ist insgesamt eine der zentralen Grundlagen für die Zukunft unserer Partei.

Und nach der Bundestagswahl möchte ich gemeinsam mit Euch diskutieren, wie wir als Bundestagsabgeordnete dazu beitragen können, den Landesverband zu stärken, indem wir verstärkt Themen aus Schleswig-Holstein in den Bundestag tragen, indem wir mit den Wahlkreisbüros linke Strukturen stärken. Und einen speziellen Vorschlag habe ich: Ich möchte gerne ein mobiles Wahlkreisbüro einrichten, gemeinsam mit den anderen Abgeordneten, das wechselnd von unseren Mitarbeiter*innen besetzt wird. Mit einem kleinen Bus soll es mobil Sprechstunden ermöglichen auch in den Regionen, wo wir sonst nicht so häufig hinkommen. Wir müssen nicht nur unsere Stärken stärken, wir müssen uns auch darum kümmern, dass linke Politik auch in den Regionen präsenter wird.

Auf Facebook schrieb gestern jemand, wir würden nur populistische Politik machen. Wenn populistisch bedeutet zu sagen, was ist, so mag das sein. Unsere Aufgabe ist es, klar und verständlich zu sprechen. Jemand, den andere als großen Politiker feiern, hat mal gesagt, wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Andere sagen, unsere Politik sei nicht realistisch. Nun frage ich Euch: Ist es realistisch zu behaupten, wer arbeiten will, findet Arbeit? Ist es realistisch, dass es allen gut geht, wenn es nur der Wirtschaft gut geht? Dass eine Politik des Sparens und der Privatisierung Wohlstand bringe? Haben die deutschen Auslandseinsätze in Afghanistan und anderswo, die deutschen Rüstungsexporte Frieden gebracht?

Nein, die, die uns erzählen wollen, was Realismus ist, sind auf der ganzen Linie gescheitert. Ihre Politik ist illusionär und weltfremd. Das Gegenteil all ihrer Behauptungen ist wahr geworden. Ihre Versprechen waren gesprochene Verbrechen. Diese Politik des Immer-weiter-so hat jeglichen Realitätssinn, jede Glaubwürdigkeit verloren.

Realistisch ist eine Politik, die ganz anders ist, als die bestehende. Realistisch ist eine Politik, die für Freiheit und Gleichheit für alle Menschen, ohne Unterschied, eintritt. Realistisch ist Menschenfreundlichkeit, ist Solidarität. Nicht wir sind die Träumer, sie sind die Träumer, die noch immer an die seeligmachende Wirkung des Kapitalismus glauben.

Mit all unseren Projekten, mit unserem gesamten Programm stehen wir ein für eine andere Gesellschaft, die Ausbeutung, Konkurrenz und Umweltzerstörung überwindet. Wir sind ganz konkret und nah an den Menschen und wissen gleichzeitig, wofür wir brennen, wofür wir gemeinsam kämpfen, für den demokratischen Sozialismus. Er beschreibt unseren Weg und unser Ziel. Gemeinsam mit Euch will ich im nächsten Jahr bei der Landtags- und bei der Bundestagswahl für eine starke Linke kämpfen. Nicht aus der Defensive heraus, sondern selbstbewusst, weil wir gemeinsam für unsere Sache brennen.

Lorenz Gösta Beutin

[Email vom  30.11.2016]