Jetzt aktualisiert bei allen Versandbuchhandlungen abrufbar: „Das Buch in der Wolke. Work in Progress“

Coverbild für "Das Buch in der Wolke"

 Klappentext:

„Book in Progress“? Dieses 14. E-Book soll nun wirklich das allerletzte sein. Ein Experiment. Ich bin 93 und kann den natürlichen Alterungsprozess nicht aufhalten, höchstens verzögern. Die Produktivität lässt, wie der Geschlechtstrieb, nach. Das Gehirn arbeitet langsamer.  Gedächtnis, Denken, Sprechen und Schreiben brauchen mehr Zeit. Das Langzeitgedächtnis ist besser als das kurzzeitige. Mir fallen Ereignisse, Erlebnisse, Begegnungen, Menschen und Orte und deren Namen ein, die mich irgendwann mal in meinem Leben beeindruckt haben müssen, längst vergessen sind oder überhaupt nicht existiert haben. „Dichtung und Wahrheit“. Goethe.

Zum Beispiel das Gedicht „Frühlingsglaube“ von Ludwig Uhland, das ich persifliert habe, obwohl ich es wahrscheinlich nie gekannt habe. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, ob wir es im Deutschunterricht „durchgenommen“ haben. Dennoch kam mir die Anfangszeile „Die linden Lüfte sind erwacht“ bekannt vor. Bei Wikipedia fand ich dann die Bestätigung, dass es dieses Gedicht tatsächlich gibt.

Ich werde bis zu meinem Lebensende oder solange ich sehen, denken und empfinden kann, Sehenswertes fotografieren, das Zeitgeschehen beobachten und kommentieren, literarisch arbeiten und die Produkte nach und nach in diesem E-Book publizieren.

Das Buch kann jetzt zum aktuellen Preis von € 0,99 auf ein Lesegerät oder einen PC hier heruntergeladen werden -> https://www.bookrix.de/_ebook-dietrich-stahlbaum-das-buch-in-der-wolke/

 

Zwei Lebensläufe

Zwei Lebensläufe, zwei Auffassungen, zwei Ansichten, zwei Denkweisen, zwei (Welt-) Anschauungen, zwei Lebensweisen –  da zeigt sich, wie Ereignisse, Menschen, Zufälle, wie das, was wir erfahren haben und was uns widerfahren ist, uns tief beeinflusst hat, prägt. Unsere Erinnerungen mögen verblassen; manches scheint vergessen zu sein, nicht mehr rückholbar und ist ins Unbewusste verdrängt worden, weil wir es als bedrohlich, als peinlich oder auch als unwichtig empfunden haben. Dennoch ist die Vergangenheit, die wir erlebt und erfahren haben und die teilweise nicht mehr in unserm Gedächtnis ist, vorhanden. Sozusagen in der Cloud, und uns fehlt das Passwort, der Schlüssel, um Einzelheiten abzurufen, und wir bilden uns Ereignisse und Dinge ein, die es nicht gab oder die anders waren.

Du schreibst, lieber . . .:  „Aus mir ist ein Familienvater mit 3 Kindern geworden, der sich den gesellschaftlichen Konventionen angepasst hat und gut bürgerlich sein Leben gelebt hat.“ Aus mir ist ein Familienvater mit 3 Kindern geworden, der sich den gesellschaftlichen Konventionen nicht angepasst hat und das Bürgertum, seine Herkunft, seine Geschichte und sein Wirken erforscht und kritisch hinterfragt hat.

Gesellschaftskritik ist einer meiner Schwerpunkte, auch heute. Dabei habe ich mir nicht nur Zustimmung eingehandelt, sondern zum Teil auch erhebliche Nachteile, in den 70er Jahren sogar eine rechtswidrige Kündigung durch einen nationalkonservativen Bürger und Unternehmer, dem meine gewerkschaftlichen Aktivitäten nicht gepasst haben, darunter Aufklärung der Belegschaft über ihre Rechte und Ermunterung, ihre miserablen und ihre Gesundheit gefährdenden Arbeitsbedingungen nicht unterwürfig hinzunehmen.

Aktiv im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, entstand damals diese realsatirische Geschichte: »Ein Schuss vor den Bauch. Alte Geschichte, wieder aufgetaucht« →  https://stahlbaumszeitfragenblog.wordpress.com/?s=Ein+Schuss+vor+den+Bauch

Seitdem habe ich Foto- /Text-Reportagen über politisch und ökologisch relevante Ereignisse in Deutschland und Frankreich veröffentlicht (Vorträge, Ausstellungen).

Woher meine kritische, mitunter skeptische Einstellung kommt? Sie entstand bereits, als ich in der Nazizeit den Konfirmandenunterricht verweigerte und, indoktrinierter Pimpf, dem Pfarrer sagte, Jesus sei Jude gewesen, und er, ich vermute, ein Deutscher Christ (DC), darauf  geantwortet hat: „Jesus  war blond wie du. Er war kein Jude.“  Das war in Friedland.

Dieter als Pimpf
Dietrich Stahlbaum als Pimpf

Ich war hell-, nicht dunkelblond und machte mir die Haare nass, um älter auszusehen.

Karlheinz Deschner PKarte

Später habe ich fast die gesamte Religions- und kirchenkritische Literatur gelesen (u. a. Voltaire, Ludwig Feuerbach, Kant, Marx, Sigmund Freud, Karlheinz Deschner, arabische und israelische Historiker und Archäologen…) und bin Agnostiker und Atheist geworden.

In Vietnam (1951-54) begegnete ich Buddhist*innen und las später buddh. Literatur, z.B. die überlieferten (Pali-) Urschriften der Reden und Lehren des Gautama Buddha. Auch er war Agnostiker und lehnte den Gottesglauben und den hinduistischen Glauben an eine „Ewige Seele“ ab.

Die Begegnungen mit Buddhist*innen haben mich zum zeitdokumentarischen Roman »DER RITT AUF DEM OCHSEN oder AUCH MOSKITOS TÖTEN WIR NICHT« angeregt. →  https://www.bookrix.de/_ebook-dietrich-stahlbaum-der-ritt-auf-dem-ochsen-oder-auch-moskitos-toeten-wir-nicht/

Der Deserteur ist Miros, mein zweites Ich, eine Kunstfigur. Ich hätte nur zu den Vietminh desertieren können. Das wollte ich nicht. Ich war längst Pazifist und, wie Goethe, Dag Hammarskjöld, Camus, Bertrand Russell, Kosmopolit.

Soweit ein kleiner Ausschnitt aus meiner Vita. Mehr in meinen Schriften. Siehe E-Books.

Allen Leserinnen und Lesern meiner Webseiten diesseits und jenseits des Atlantiks und anderer Meere wünsche ich friedliche, besinnliche und erholsame Feiertage und viele positive Energien im kommenden Jahr!
Meilleurs vœux de Noël et de Nouvel An à toutes mes amies et à tous mes amis!
Merry Christmass and good wishes for the New Year!

 

 

Heidi Beutin/Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Rezension von Hartmut Henicke

   Dieses Werk des Ehepaares Beutin ist die wichtigste Publikation zum Themenjahr 2018 „Weltkriegsende/Novemberrevolution“. Die Autoren haben es ihren nahestehenden, insbesondere verstorbenen wissenschaftliche Weggefährten gewidmet. Diese Geste bewegt, wenn man das Buch gelesen hat.

    Die Autoren bekennen ausdrücklich, sich dem Thema als Literatur- und Kunsthistoriker anzunähern. Sie tun das auf höchstem theoretisch-methodischem Niveau und gleichzeitig mit faszinierend souveräner literarischer Leichtigkeit. Dieses Buch liest sich so weg. Und es ist anregend, weil so gut nichts offen bleibt. Auch dort, wo wichtige Fragen „nur“ ansatzweise beantwortet oder tangiert werden, hallen als sie dem konzentrierten Leser wie die Reststrahlung des Urknalls als Denkimpulse nach. Auch darin reflektiert sich Kompetenz und Meisterschaft, wie in den souverän das Quellenmaterial tief durchdenkenden Antworten und Urteilen. Ihrer Absicht, die deutschen Intellektuellen im Kontext der Novemberrevolution zu zeichnen werden die Autoren virtuos gerecht. Dieses „Who‘s Who?“ der deuschen Novemberrevolution lässt keine soziale, politische und ideologische Richtung der Kategorie Intelligenz aus. Mit ihren umfangreichen Personendossiers haben Heidi und Wolfgang Beutin einen entscheidenden Teil des historischen Subjekts dieser Revolution und Gegenrevolution definiert, klassifiziert, teilweise meisterhaft psychologisiert, in soziale, politische und kulturelle Zusammenhänge gestellt. Ihre Arbeit hat hohen Quellenwert. Die Auswahl des Zitierten ist treffend wie die Wertung. Das Spannende dieser Studie ist die breite, logisch klassifizierte Differenzierung zwischen Revolution und Konterrevolution aber auch innerhalb der politischen Lager bzw. ideologischen Richtungen. Mit ihren Persönlichkeitscharakteristiken präsentieren die Autoren nicht nur ein breites Spektrum von Ansichten, die den Erkenntnisprozess eines historischen Umbruchs reflektieren, sondern auch Erfahrungen, spontane Gefühle reflektieren. Die Begegnung Rosa Luxemburgs und Tilla Darieux – eine marginale Sekunde im Epochenwechsel während des Innehaltens und doch so bezeichnend für das, was geschah. An dieser Stelle versteht der Leser den Titel des Buches.

   Er hört die „Fanfaren einer neuen Freiheit“ im Hintergrund. Die Beutins vermessen ihren Forschungsgegenstand, die Intelligenz, nicht im Entferntesten mit den ideologischen Rastern, die sich aus der ideologischen Versteinerung nach den Weltkriegsrevolutionen insbesondere seit dem Ende der 1920er Jahre ergaben.

Dieses Buch ist das Elektrokardiogramm der Geisteshaltung im Deutschland des verlorenen Weltkrieges in aller psychologischen und ideologischen Sensibilität und Genauigkeit. Es spiegelt die subjektive Verfasstheit der Menschen dieses Landes, die den Aufbruch in die neueste Moderne antraten, die realen subjektiven Rahmenbedingungen der Erneuerungsalternative. Als Leser getraut man sich nicht einmal den überheblichen Gedanken, die Intellektuellen von den proletarisierten verelendeten Klassen abzuheben, zumal die Autoren eben auch die politisch ahnungslosen Intellektuellen, Künstler, Literaten meisterhaft zeichnen. Andererseits: Diejenigen namhaften bekannten, ach heute wieder vergessenen Persönlichkeiten, die in Beutins Buch den größten Epochenkonflikt des neuen Jahrhunderts reflektieren, waren allesamt keine Durchschnittsmenschen, sondern Denker, Künstler, Moralisten, Literaten, Journalisten, Politiker, Parteifunktionäre, einschließlich der politisch hochgebildeten Arbeiterbewegung, Reagierer auf die spontane Revolte qualifizierter kriegsmüder Matrosen, Soldaten und Proletarier. Diese Literaten, Philosophen, Wissenschaftler und Politiker aller Klassen mussten nicht nur das Geschehen interpretieren, sondern persönliche Entscheidungen treffen. Sie standen vor der epochalen praktischen Gestaltungsaufgabe, aus dem Regimezusammenbruch und der spontanen sich zur Revolution ausbreitenden Revolte eine historische tragfähige Zukunftsalternative zu denken und zu entwickeln, deren Parameter zum einen durch die Siegermächte vorgegeben waren und zum anderen von den Räten der Matrosen, Soldaten und Arbeiter, die gleichermaßen der intellektuellen Führung Deutschlands Angebote machten. Ihnen standen die gegenüber, die mit der alten zusammengebrochenen Welt unterzugehen drohten. Das waren jene unter den gebildet und erfahren Denkenden, die nicht über den Schatten ihrer Werte und Ansichten der Vergangenheit springen konnten. Zwischen Hoffnungen und Ängsten, Humanismus und Hass, Einsicht und Tradition schwankten die großen Geister der Nation, auch der elitären Klassen und Schichten. Harry Graf Kessler, Walter Rathenau, die Gebrüder Thomas und Heinrich Mann, Epochengestalten. Die Autoren benötigen nur Absätze, um dies deutlich zu machen.

   Beutins Arbeitsergebnis zeigt, an einem ungewöhnlich breiten Personenkreis, wie dieser dachte und agierte. Was die Autoren diesbezüglich präsentieren und kommentieren, hat erstrangige Bedeutung für das Verständnis des Missverhältnisses zwischen historisch materialistischer Analytik der kausalen gesellschaftlichen Zusammenhänge und der subjektiv differenzierten in der logischen Konsequenz dahinter zurückbleibenden Wahrnehmung und sich daraus ergebender Handlungsweise. Die Autoren reflektieren bis in die marxistische Linke hinein de facto die Folgen der im wilhelminischen Kaiserreich in den Köpfen seiner intellektuellen Elite gebrochenen Geistesgeschichte. Und auch im marxistisch linken Lager erkennen und benennen die Autoren deren Grenzen. Diese Abschnitte sind so stark, dass darauf näher eingegangen werden muss, auch wenn alle in diesem Buch behandelten theoretisch-methodischen Aspekte eine rezeptive Diskussion verdienen, was in diesem Rahmen nicht möglich ist und deshalb aber anempfohlen wird. Die Jahrhundertjubiläen sind noch nicht vorbei und die Rezeptionsthemen findet man in Beutins „Fanfaren“.

   Die Autoren spiegeln in erster Linie und mit Sympathie die Rationalisten, Idealisten, Illusionisten, Pazifisten und Linken. Und sie sehen diese mit anderen Augen als Volker Weidemann in seinem Buch „Träumer“ nicht als Spinner und konzeptionslose vom Volk zeitweilig geliebte Narren, sondern eben als moralischen Werten und einer humanistischen Ethik verpflichteten Literaten, von denen ohne politisches Herrschaftswissen und ökonomische Analytik nichts anderes verlangt werden kann als Charisma, selbstloses leidenschaftliches Engagement bis zur Hingabe, auch Fehler und Konzeptionslosigkeit. Politik, insbesondere in revolutionären Krisensituationen ist bis zur geordneten arbeitsteiligen Kooperation von neuen Führungskräften und Strukturen eine spontane sich allmählich organisierende vor allem emotionale Aktion. Aus dieser Aktion entwickelt sich aus der Leidenschaft auf der einen und der lähmenden Paralyse auf der anderen Seite erst allmählich die kühl, auch machiavellistisch kalkulierte strategisch-taktische Konzeption auf den sich polarisierenden ideologischen und Interessen gesteuerten Flügeln der Revolution. Den Autoren ist dies klar und wegen dieses Standpunktes bewerten sie die Revolutionsliteraten höher als der Autor der „Träumer“. Worin aber der darüber hinausgehende Wert dieses Buches besteht, ist die sehr akzentuierte Differenzierung der marxistischen Linken. Die Autoren stützend sich dabei auf die Biografie-, und Sachthemen-Experten, wie die Bezugnahmen im Anmerkungsapparat erkennbar machen. Aber in der Kernaussage darf von der Eigenleistung der Autoren ausgegangen werden. Die Charakterisierung der Erkenntnisgrenzen Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs gehört, wie schon zuvor im Falle Kessler, Rathenau, Manns u.a. zu den stärksten erkenntnistheoretischen Leistungen, auch wenn Rosa Luxemburg betreffend, der Rezensent Einwände geltend macht, die sich vor allem auf die bei Eberhard Kolb zitierten „Grundannahmen in der sozialistischen Lehre“ beziehen. Auch wenn Rosa Luxemburg gleichfalls diesen Grundannahmen aufsaß, war ihre Geschichtsauffassung keinesfalls diesem eher Kautskyanischen und russischen Gesellschaftsphilosophieverständnis als dem Labriolas Philosophie der Praxis im Sinne der Feuerbachthesen näher. Wie schwer der Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie, politischer Ökonomie und Politik in der Aktion im Krisenmoment wirkt, erfährt die Menschheit in jedem neuen Konflikt. Dass selbst die theoretisch weitsichtigsten Köpfe in den Momenten versagten, in denen sie sich den Sternen so nahe wähnten, ist vielleicht ein Grund, neu über theoretisch begründeten Pragmatismus oder Machiavellismus nachzudenken. Dass die Gegenrevolution, die in diesem Buch in dieser Hinsicht unterbelichtet ist, was dem keinen wirklichen Abbruch tut, aber immerhin daran gemahnt, dass Lassalle als erster das Problem erkannt hatte, sei hier angemerkt. In diesem Zusammenhang sollen von den vielen theoretisch-methodisch anregenden Fragen nur noch vier aufgegriffen werden sollen.

   Erstens: Problematisch mit Blick auf die faschistische Diktatur, wenn auch nicht ganz abwegig im Hinblick auf die frühzeitige parallele Konterrevolution ist die revolutionstheoretische Interpretation des Staatsrechtlers Hugo Preuß durch die Autoren im Hinblick auf den engeren nationalen Revolutionszyklus in Anlehnung an die Französische Revolution und dessen missverständlicher Hinweis auf die Militärdiktatur als notwendige Zurückführung der radikalen Revolution auf ihr objektives Maß. (S. 35) Im Kontext mit dem nachfolgenden Abschnitt, der „Die Konterrevolution“ thematisiert, ist das einst von Friedrich Engels als allgemeingültig gezeichnetes Revolutionsschema falsch. Denn es gab in der deutschen Novemberrevolution kein radikal verfolgtes utopistisches Ziel, dass durch zeitweilig überhöhte Radikalität durch einen Thermidor auf das objektive Revolutionsziel zurückgeführt werden musste. Im Gegenteil: Selbst Spartakus verfolgte sozioökonomisch wie staatspolitisch mit der Rätedemokratie allein ein konsequent radikaldemokratisches Ziel. Und auch die Rätemacht war keinesfalls a priori eine kommunistische Machtstruktur. Sie wurde von Anfang an, weil situationsbedingt, partiell selbst im bürgerlichen Lager adaptiert. Die Soldatenräte prägten wegen ihrer sozial heterogenen Zusammensetzung ohnehin den klein- und bürgerlichen Charakter der Revolution und mehr noch die rechtskonservative nationale Bürgerrätebewegung eben den nichtproletarischen. Doch allein die verschwindende Minderheit der rätekommunistischen Linken als marginalen Ausdruck revolutionärer Radikalität zu bagatellisieren und damit deren Überbewertung durch die konservative Rechte zur Begründung gegenrevolutionärer Brutalität als hinterhältige Meinungsmanipulation zu bewerten, ist wissenschaftlich nicht korrekt. Von der Spartakusgruppe bis in die USPD hinein und auch über diesen Parteirahmen hinaus, wie die Beutins u.a. mit dem Beispiel Rathenaus zeigen, wurden die „bolschewistischen“ Sowjets tatsächlich als Vorbild bzw. Modernisierungsvariante verstanden. Bremen und Bayern bewiesen, den radikalrevolutionären Charakter des Rätegedankens, wie die Autoren kenntlich machen. Vom Gegenrevolutionären Standpunkt war die Bekämpfung des „Bolschewismus“ deshalb logisch konsequent. Daran ändert die Selbstentmachtung des Zentralrates der Arbeiter und Soldatenräte gar nichts. Auch wenn die deutschen Rätevorwiegend als basisdemokratischer Ansatz bewertet werden, enthalten sie wie die Autoren unter Berufung auf die seinerzeitigen Akteure zeigen, systemveränderndes Potenzial, wie auch die Räterepubliken aber auch der Rätekommunismus im Gegensatz zum Parteikommunismus beweisen. Leider fokussieren sich die Autoren ideologieanalytisch allein auf den Antisemitismus und Rassismus der Rechten. Das Wesentliche war aber die Adaption des Sozialismus in seiner nationalen Mutation.

   Nationalsozialismus ist war der offensive Ausdruck der historischen Defensive. Obgleich der Name Eduard Stadtler auf der Seite der Konterrevolution viermal erwähnt wird, bleibt diese Person als einer der wichtigsten ideologischen Repräsentanten und Aktivisten der Rechten unterbelichtet. Stadtler der Initiator, Agitator und Organisator des Präfaschismus schaffte es nicht zuletzt mit seinen Erfahrungen im revolutionären Russland, den Spitzen der deutschen Wirtschaft 500 Mio Reichsmark für die Kriegskasse der Gegenrevolution abzunehmen. Seine Vorträge und Schriften verdienen als historische Quelle Aufmerksamkeit. Als Inspirator des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hat er wohl die treffendste Charakteristik der von rechts wahrgenommenen Gefährlichkeit der intellektuellen linken Führungskräfte und damit auch des Kräfteverhältnisses von Revolution und Konterrevolution gegeben.

   Zweitens: Die Auseinandersetzung der Autoren mit dem Verratsvorwurf gegen die regierende Führung der Mehrheitssozialdemokratie, denen schon von linken Zeitgenossen ein bürgerlicher Standpunkt zugeschrieben wird, von dem aus sie gar keinen Verrat begehen konnten, scheint in diesem Sinne zwar argumentativ plausibel, ist aber logisch nur eine andere Lesart des Verratsvorwurfs. Denn es war nun einmal die Sozialdemokratische Führung, die ihre eigene programmatisch erklärte „soziale Revolution“ verriet. Theoretisch scheinen auch 100 Jahre danach wichtige Probleme immer noch unklar zu sein, was keinesfalls den Autoren Beutin angelastet werden kann. Berücksichtigt man allerdings das marxistisch induzierte Erfurter Parteiprogramm steht staatsrechtlich dahinter nichts anderes als eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie mit sozialem Charakter, auch sehr weitgehenden Sofortforderungen, die noch nie erfüllt wurden. Dieses Ziel hat die MSPD-Führung ebenso wenig verraten, wie der Parteivorsitzende Ebert, der seinen Parteifreund Scheidemann dafür wütend rüffelte, weil dieser mit der Ausrufung der Republik der Nationalversammlung zuvorkam. Eberts tradiert stures weltfremdes Demokratieverständnis verkannte, dass die elementaren tatsächlichen systemischen Veränderungen von der revolutionären Aktion und nicht von den parlamentarischen Gremien hervorgebracht werden. Die deutsche Revolution war von Anfang an mit dem Defizit einer unglaublichen Leichtgläubigkeit und Illusion gegenüber der Gegenrevolution belastet. Das zeigte sich sowohl in der Delegierung der revolutionären Beseitigung der materiellen Grundlagen des preußischen Ancien régimes (Großgrundbesitz, Beamten- und Militärapparat) vom Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte an die Nationalversammlung wie an der Rückgabe des beschlagnahmten Büros der Antibolschewistischen Liga durch die revolutionären Matrosen. Und das Sozialisierungsprojekt war de facto mit dem Stinnes-Legien-Pakt erledigt.

   Drittens: Eduard Bernstein prognostizierte 1899 in seiner theoretischen Grundlegung des Reformismus den Marx’schen Begriff „Diktatur des Proletariats“ als Charakterisierung des künftigen Staatstyps mit folgendem bedenkenswerten knappen Absatz: „Die Diktatur des Proletariats heißt, wo die Arbeiterklasse nicht schon starke eigene Organisationen wirtschaftlichen Charakters besitzt und durch Schulung und Selbstverwaltungsköper einen hohen Grad von geistiger Selbständigkeit erreicht hat, die Diktatur von Klubrednern und Literaten. Ich möchte denjenigen, die die Unterdrückung und Schikanierung der Arbeiterorganisationen und Ausschluss der Arbeiter aus der Gesetzgebung und Verwaltung den Gipfel der Regierungskunst erblicken, nicht wünschen, einmal den Unterschied in der Praxis zu erfahren. Ebenso wenig würde ich es für die Arbeiterbewegung selbst wünschen.“ (Bernstein, Voraussetzungen des Sozialismus… Dietz Berlin 1991 [1899], S.206 f.) dieses Resümé, ob als Vorwegnahme einer vorgeblich im proletarischen Interesse mit revolutionärem Terror durchgesetzten parteirichtungsideologischen Minderheitenrevolution und ihrer verheerenden Folgen oder als blanquistische Fehlinterpretation der Marx/Engels‘schen Schlussfolgerungen aus Pariser Kommune, entspricht de facto der Luxemburgschen Kritik an der Russischen Revolution zwei Jahrzehnte später.

    Viertens: Die Autoren haben mit ihren „Fanfaren der Freiheit einen bemerkenswerten Ansatz für die Bewältigung der Vereinigung von revolutionärer Spontaneität und intellektuellem Potential im Zusammenbruchsaugenblick gewählt und gefunden. Und sie machen sich die Darstellung des Problems nicht mit den Stereotypen des Klassenstandpunktes leicht, die den Intellektuellen nach leninistischer Lesart in den Pro- und Konterrevolutionär teilen. Sie stellen aber am Ende trotz ihres wichtigen Rückgriffs auf frühere Geschichtsepochen bis zurück in die Antike dennoch nicht die Gretchenfrage, mit der das Problem der Spaltungen sowohl in der modernen Kapital- und Lohnarbeitsgesellschaft, der Intelligenz aber auch innerhalb des sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Lagers sowie speziell der intellektuellen Linken im engeren Sinne erklärt werden kann: nämlich die erkenntnistheoretische und damit philosophische Frage nach der historische materiellen Determiniertheit und wechselseitigen Beeinflussung aller Gesellschaftserscheinungen und dem daraus resultierenden permanenten konkret-praxisorientierten Erkenntnis- und fortwährendem Theorieentwicklungsprozess im Gegensatz zum ideellen, von humanistischen und bürgerlichen Freiheitswerten bestimmten. Umso höher ist die marginale Bezugnahme der Autoren auf diesen Aspekt in der Einleitung (S. 15 unten) zu bewerten, die beweist, dass die Autoren sich dessen bewusst sind!

   In den weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Gegenwart, in der mehr denn je pluralistisch fragmentarische Unverbindlichkeit gegen mystische und populistische Manipulation wirkungslos verteidigt wird, geht es in Wirklichkeit um einen wissenschaftlichen Blick auf die Geschichte. Die enorme Schwierigkeit dessen ist historisch erklärbar. Erkenntnistheoretisch musste von der Liquidierung des heidnisch materialistischen Denkens seit der Zerstörung der Bibliothek von Alexandria bis zur Neuentdeckung des Materialismus durch die intelligentesten Köpfe des aufklärerischen und klassischen Bürgertums, vor allem durch die Hegelsche dialektische Veredelung des Materialismus Feuerbachs nicht nur eine eineinhalb Jahrtausende platonische Denktradition überwunden werden, um die wissenschaftliche Kontinuität zum antiken Denken wieder herzustellen. Zugleich musste die im Gefolge der Rezeption dieser dialektisch-historisch-materialistischen Denkrevolution durch permanente Weiterentwicklung gegen deren Vulgarisierung und bürgerliche Revision angegangen werden. Für diesen Kraftakt fehlten schlicht die fähigen intellektuellen Köpfe nicht zuletzt wegen der fehlenden strukturellen Bildungsvoraussetzungen. Für den Kapitalismus, ob in seiner aktiengesellschaftlichen oder kommunistisch drapierten staatskapitalistischen Variante ist wissenschaftliche Gesellschaftserkenntnis eine existenzielle Bedrohung.

Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die NovemberrevolutionVerlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) (1. August 2018)
• Gebundene Ausgabe: 308 Seiten, EUR 49,95
• ISBN-10: 3534270452
• ISBN-13: 978-3534270453

Neuerscheinung: Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution

Coverbild Beutin, Fanfaren -1-

Fanfaren -2-
Klappentext

Fanfaren -3-

Fanfaren -4-

Heidi Beutin / Wolfgang Beutin: Fanfaren einer neuen Freiheit. Deutsche Intellektuelle und die Novemberrevolution  

Verlag: wbg Academic in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG) (1. August 2018)

Gebundene Ausgabe: 308 Seiten, EUR 49,95
ISBN-10: 3534270452, ISBN-13: 978-3534270453

 

 

 

 

Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit (Buchtipp)

Buchtipp:

Die Erfindung des Landes Israel

Shlomo Sand

Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit

Gehört Israel den Juden? Was bedeutet überhaupt Israel? Wer hat dort gelebt, wer erhebt Ansprüche auf das Land, wie kam es zur Staatsgründung Israels? Shlomo Sand, einer der schärfsten Kritiker der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern, stellt den Gründungsmythos seines Landes radikal in Frage. Überzeugend weist er nach, dass entgegen der israelischen Unabhängigkeitserklärung und heutiger Regierungspropaganda die Juden nie danach gestrebt haben, in ihr „angestammtes Land“ zurückzukehren, und dass auch heute ihre Mehrheit nicht in Israel lebt oder leben will.

Es gibt kein „historisches Anrecht“ der Juden auf das Land Israel, so Sand. Diese Idee sei ein Erbe des unseligen Nationalismus des 19. Jahrhunderts, begierig aufgegriffen von den Zionisten jener Zeit. In kolonialistischer Manier hätten sie die Juden zur Landnahme in Palästina und zur Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aufgerufen, die dann nach der Staatsgründung 1948 konsequent umgesetzt wurde. Nachdrücklich fordert Sand die israelische Gesellschaft auf, sich von den Mythen des Zionismus zu verabschieden und die historischen Tatsachen anzuerkennen.

Rezension:

»Detailliert und quellenreich zeichnet Sand nach, wie territoriale Ansprüche auf das „Land der Väter“ begründet wurden.«, Deutschlandradio, Sigrid Brinkmann, 29.11.2012

Portrait:

Shlomo Sand, geboren 1946 als Kind polnischer Juden in Linz. 1949 Übersiedlung der Familie nach Israel. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften in Paris lehrt Sand Geschichte an der Universität Tel Aviv. Er zählt zu den führenden Intellektuellen Israels und zu den schärfsten Kritikern der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern. Bei Propyläen erschienen »Die Erfindung des jüdischen Volkes« (2010), »Die Erfindung des Landes Israel« (2012) und »Warum ich aufhöre, Jude zu sein« (2013).

Propyläen Verlag 2012, 400 S. (gebundene Ausgabe, Taschenbuch, eBook)

Uri Avnery: Eine Geschichte der Idiotie

ICH BIN wütend. Und ich habe gute Gründe, wütend zu sein.

 Ich war im Begriff, einen Artikel über ein Thema zu schreiben, über das ich seit langer Zeit nachgedacht habe.

 In dieser Woche öffnete ich die New York Times und siehe da, mein noch ungeschriebener Artikel erscheint auf ihrer Meinungsseite im Ganzen, ein Argument nach dem anderen.

 Wie kommt es dazu? Ich habe nur eine Erklärung: der Autor – ich habe den Namen vergessen – hat die Ideen mit einem magisches Mittel, das gewiss als kriminell bezeichnet werden muss, aus meinem Kopf gestohlen. Eine Person versuchte, einmal, mich deswegen umzubringen.

 Doch habe ich mich trotz allem entschieden, diesen Artikel zu schreiben.

DAS THEMA ist Idiotie. Speziell die Rolle der Idiotie in der Geschichte.

Je älter ich werde, umso überzeugter werde ich, dass reine Idiotie eine größere Rolle in der Geschichte der Nationen spielt.

Große Denker, verglichen mit denen ich nur ein intellektueller Zwerg bin, haben andere Faktoren verfolgt, um zu erklären, wie die Geschichte in ein Schlamassel verwandelt wurde. Karl Marx klagte die Wirtschaft an. Die Wirtschaft hat die Menschheit von Anfang an begleitet.

Andere klagen Gott an. Die Religion hat schreckliche Kriege verursacht und tut es noch immer. Schauen wir uns die Kreuzzüge an, die fast zweihundert Jahre in meinem Land gewütet haben. Schauen wir auf den 30jährigen Krieg, der Deutschland verwüstet hat. Kein Ende in Sicht.

Einige klagen die Rasse an. Weiße gegen die Indianer. Arier gegen Untermenschen. Nazis gegen Juden. Schrecklich.

Oder Geopolitik. Die Bürde des Weißen Mannes. Der Drang nach Osten.

Seit vielen Generationen haben große Denker nach einer tiefsinnigen Erklärung gesucht, der den Krieg verursacht. Es muss solch eine Erklärung geben. Schließlich können schreckliche Ereignisse sich nicht nur ereignen. Da muss es etwas Unerklärliches geben, etwas Unheimliches, das all dieses unerhörte Elend verursacht. Etwas, das die menschliche Rasse von Anfang an begleitet und das unser Schicksal leitet.

ICH HABE die meisten dieser Theorien meiner Zeit akzeptiert. Viele von ihnen beeindruckten mich sehr. Große Denker. Tiefsinnige Gedanken. Ich las viele dicke Bände. Aber am Ende ließen sie mich unbefriedigt.

Am Ende hat es mich getroffen. Es gibt tatsächlich eine allgemeine Kraft, die all diese historischen Ereignisse verursacht hat: die Idiotie, die Torheit.

Ich weiß, dass dies unglaubwürdig klingt. Idiotie? All diese Tausenden von Kriege? All diese Hunderte von Millionen von Opfern? All diese Tausenden Herrscher, Könige, Staatsmänner, Strategen? Alle Toren?

Vor kurzem wurde ich um ein Beispiel gebeten. „Zeige mir, wie das funktioniert,“ fragte ein ungläubiger Zuhörer.

Ich erwähnte den Ausbruch des ersten Weltkrieges, ein Ereignis, das das Gesicht Europas und der Welt für immer veränderte und der nur fünf Jahre, bevor ich geboren wurde, endete. Meine früheste Kindheit wurde im Schatten der Katastrophe verbracht.

Es geschah folgendermaßen:

Ein österreichischer Erzherzog wurde in der Stadt Sarajewo von einem serbischen Anarchisten getötet. Es geschah fast durch Zufall. Der geplante Versuch scheiterte, aber der Terrorist stieß zufällig später noch einmal auf den Herzog und tötete ihn.

Und nun? Der Herzog war eine ganz unbedeutende Person. Tausende solchef Aktionen haben sich vorher und danach ereignet. Aber dieses Mal dachten österreichische Staatsmänner, dass dies eine gute Gelegenheit wäre, den Serben eine Lektion zu lehren. Sie nahm die Form eines Ultimatums an.

Keine große Sache. So etwas geschieht immer wieder. Aber das mächtige russische Reich war mit Serbien verbündet, deshalb hat der Zar eine Warnung erlassen: er befahl, die Mobilisierung seiner Armee, nur um seine Ansicht durchzusetzen.

In Deutschland gingen alle roten Lichter an. Deutschland liegt in der Mitte Europas und hat keine unüberwindlichen Grenzen, keine Meere, kein hohes Gebirge. Es war umgeben von zwei großen Militärmächten, Russland und Frankreich. Jahrelang hatten deutsche Generäle darüber nachgedacht, wie das Vaterland gerettet werden kann, wenn es von beiden Seiten gleichzeitig angegriffen wird.

Ein Meisterplan entwickelte sich. Russland war ein riesiges Land, und es würde mehrere Wochen dauern, bis die russische Armee mobilisiert war. Diese Wochen müssen ausgenützt werden, um Frankreich zu zerschlagen, die Armee umzudrehen und die Russen anzuhalten.

Es war ein brillanter Plan, der bis ins kleinste Detail von brillanten militärischen Planern ausgearbeitet war. Aber die deutsche Armee wurde vor den Toren von Paris angehalten. Die Briten intervenierten und halfen Frankreich. Die Folge war ein Krieg von vier Jahren, in denen sich wirklich nichts bewegte, außer dass Abermillionen menschlicher Wesen hingeschlachtet oder zum Krüppel gemacht wurden.

Am Ende wurde ein Frieden geschlossen, ein Frieden, der so dumm war, dass er einen zweiten Weltkrieg unvermeidbar machte. Dieser brach kaum 21 Jahre später aus mit einer viel größeren Anzahl von Todesfällen/ Gefallenen.

VIELE BÜCHER sind über den „Juli 1914“ geschrieben worden, den entscheidendsten Monat, in dem der 1. Weltkrieg unvermeidbar wurde.

Wie viele Leute waren in die Entscheidungsfindung in Europa involviert? Wie viele Herrscher, Könige, Minister, Parlamentarier. Generäle – ganz abgesehen von Akademikern, Journalisten, Schriftstellern und anderen?

Waren sie alle dumm? Waren sie alle blind gegenüber dem, was sich in ihrem Lande und auf ihrem Kontinent zutrug?

Unmöglich, man ist versucht, aufzuschreien. Viele von ihnen waren äußerst kompetente, intelligente Leute, Leute, die die Geschichte kannten. Sie wussten alles über die früheren Kriege, die während Jahrhunderten in Europa gewütet haben.

Aber all diese Leute spielten ihre Rolle, den schrecklichsten Krieg in den Annalen der Geschichte zu verursachen. Ein Akt reinster Idiotie-

Der menschliche Verstand kann solch eine Wahrheit nicht akzeptieren. Da muss es andere Gründe geben. Tiefsinnige Gründe. Sie schrieben unzählige Bücher, um zu erklären, warum dies logisch war, warum es geschehen war, welches die „hintergründigen“ Ursachen waren.

Die meisten dieser Theorien sind sicherlich plausibel. Aber verglichen mit den Auswirkungen, sind sie kümmerlich. Millionen Menschen marschierten hinaus, um geschlachtet zu werden, singend und fast tanzend vertrauten sie ihrem Herrscher, König, Präsident, Oberkommandeur. Und kehrten nie zurück.

Konnten all diese Führer Idioten sein? Sicherlich konnten sie und sie waren es.

ICH BRAUCHE nicht die Beispiele von tausenden ausländischer Kriege und Konflikte zu nennen, weil ich mitten in solch einem gerade jetzt lebe.

Es ist egal, wie er zustande kam. Die gegenwärtige Situation ist die, dass in dem Land, das gewöhnlich Palästina genannt wird, zwei Völker von verschiedenen Ursprüngen, Kulturen, Geschichte, Religion, Sprachen, Lebensstandard u.a. m. leben. Sie sind jetzt von mehr oder weniger gleichem Umfang.

Zwischen diesen beiden Völkern hat sich seit mehr als einem Jahrhundert ein Konflikt abgespielt.

Theoretisch gibt es nur zwei vernünftige Lösungen: entweder sollen die beiden Völker zusammen als gleiche Bürger in einem Staat leben oder sie sollen Seite an Seite in zwei Staaten leben.

Die dritte Möglichkeit ist keine Lösung – ein ewiger Konflikt, ein ewiger Krieg.

Dies ist offensichtlich so einfach, sie zu leugnen, ist reine Idiotie.

In einem Staat zusammen zu leben, klingt logisch, ist es aber nicht. Es wäre ein Rezept für einen ständigen Konflikt und internen Krieg. Es bleibt also nur, was „Zwei-Staaten für zwei Völker“ genannt wird.

Als ich direkt nach dem 1948er-Krieg, in dem Israel gegründet wurde, darauf hinwies, war ich mehr oder weniger allein. Jetzt ist es ein weltweiter Konsens, überall – außer in Israel.

Gibt es eine Alternative? Es gibt keine. Man macht mit der gegenwärtigen Situation weiter: ein kolonialer Staat, in dem 7Millionen israelische Juden 7 Millionen palästinensische Araber unterdrücken. Die Logik sagt, dass dies eine Situation ist, die so auf Dauer nicht bestehen kann. Früher oder später wird sie zusammenbrechen.

Was sagen unsere Führer dazu? Nichts. Sie geben vor, sich dieser Wahrheit nicht bewusst zu sein.

An der Spitze der Pyramide haben wir einen Führer, der intelligent aussieht, der gut spricht, der kompetent erscheint. Tatsächlich ist Benjamin Netanjahu ein mittelmäßiger Politiker, ohne Vision, ohne Tiefe. Er gibt nicht einmal vor, dass er eine andere Lösung hat. Auch seine Kollegen und möglichen Erben haben keine Lösung.

Was ist das also? Es tut mir leid, dies zu sagen: es gibt dafür keine andere Definition als dass dies die Herrschaft der Idiotie ist.

Uri Avnery vertritt seit 1948 die Idee des israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: des Staates Israel und des Staates Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Uri Avnery schuf eine Weltsensation, als er mitten im Libanonkrieg (1982) die Front überquerte und sich als erster Israeli mit Jassir Arafat traf.

Uri Avnery und Arafat
Uri Avnery trifft Jassir Arafat – Foto Uri Avnery 1982

Er stellte schon 1974 die ersten geheimen Kontakte mit der PLO-Führung her. 1993 begründete er mit Freunden die israelische Friedensinitiative Gusch Schalom , erhielt 1997 den Aachener Friedenspreis , 2008 die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte und viele andere Auszeichnungen.

Der 1923 in Beckum geborene jüdische Politiker, Schriftsteller und Journalist war als Kind mit seinen Eltern aus dem Münsterland nach Israel ausgewandert und zehn Jahre lang Abgeordneter der Knesset.

[Uri Avnery-Texte, 18. November 2017., dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert]

Neuerscheinung: Dietrich Stahlbaum: Pfingsten am Reihersee und der Heilige Geist (eBook)

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Neuerscheinung: Dietrich Stahlbaum: Pfingsten am Reihersee und der Heilige Geist

Erlebtes, Erdachtes

Kurzgeschichten, Satiren, Reportagen, Berichte, Reime

Klappentext:

Literatur nach der Maxime „Vielfalt statt Einfalt“: Storys aus fast neunzig ereignisreichen Lebensjahren des Autors – vom Ende der Weimarer Republik bis zur Gegenwart. Auch Realsatiren sind dabei. Spontane Einfälle. Fotos.

INHALT:

 Meine ersten anatomischen Kenntnisse

Pfingsten am Reihersee. Erinnerung

Deutschland 1933. Kindheit im Faschismus. Romankapitel

Erst Kaiser-treu, dann Hitler-treu. Von deutschem Bürgertum. Romankapitel

Luftsprünge mit dem Schulgleiter

So war das in der Nazizeit. Romankapitel

Ich kann nicht mehr auf harten Stühlen sitzen. Eine autobiografische Rekonstruktion

Begegnungen in Algerien 1950. Fremdenlegionäre gehen fremd. Romankapitel

Ein Schuss vor den Bauch (1978). Aus der Arbeitswelt

Plogoff: 6 000 Jahre Widerstand in der Bretagne. Foto-Text-Reportage 1980

Eine Reise nach gestern. Mit Ostvertriebenen in Schlesien

Die Grünen wollten es dem Sozialminister einmal zeigen. Realsatire

Die Grünen, die Kriegsgräberfürsorge und der Kleine Mann. Realsatire

Der Atheist und das Vaterunser. Realsatire

Auf der Erde ist der Teufel los oder Jesus, Anarchist. Satire

Der Glaube an einen unbekannten Herrn. Satirischer Dialog

Aphorismen, Reime, Bilder etc. pp.

Hinweise zu einem Blogbeitrag und weiteren eBooks

Stichwörter:

Anti-Atombewegung, Aphorismen, Arbeitswelt, Atheismus, Autobiografie, Autobiografisches, Belletristik, Christentum, Flugsport, Fotografie, Fotos, Frankreich, Fremdenlegion, Glaube, Humor, Jesus, Kindheit, Kindheitserlebnisse, Krieg, Kurioses, Légion Étrangère, Literatur, Nationalismus, Nationalsozialismus, Ökologie, Ostvertriebene, Politik, Protest, Rassismus, Reime, Religion, Reportagen, Satiren, Unternehmer/innen, Zeitzeuge, Zweiter Weltkrieg

Dietrich Stahlbaum: Pfingsten am Reihersee und der Heilige Geist    Erlebtes, ErdachtesKurzgeschichten, Satiren, Reportagen, Berichte, Reime                    

BookRix 2017, 11589 Wörter. ISBN: 978-3-­7396-9749-9

Das eBook kann für 3,99 € auf Ihren Computer oder ein Lesegerät hier heruntergeladen werden →  https://www.bookrix.de/_ebook-dietrich-stahlbaum-pfingsten-am-reihersee-und-der-heilige-geist/

Siegfried Born: „Ein Bistum will Buße tun“ – Zur Entschädigung der Opfer der ehemaligen Regensburger Domspatzen

Im Missbrauchsskandal um die Regensburger Domspatzen ist offenbar ein Durchbruch erzielt worden im Sinne der von körperlicher und sexueller Gewalt betroffenen ehemaligen Knaben eines der ältesten Knabenchöre der Welt. Zum online-Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 12. Oktober 2016 nimmt Siegfried Born kritisch Stellung, der seit Jahren die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle durch die Katholische Kirche hier in Deutschland beobachtet:

Entschädigung der Opfer bis spätestens Ende 2017

Von 5000 bis 20.000 Euro pro Einzelfall

Die Aussage „ein Bistum will Buße tun“ ist der erste Schritt in die richtige Richtung. Wenn der Regensburger Bischof, Rudolf Voderholzer (sein Vorgänger im Amt, Gerhard Ludwig Müller, ist mittlerweile Glaubenspräfekt in Rom!) davon spricht, die Opfer bis Ende 2017 finanziell zu entschädigen und zwar je nach Schwere der körperlichen und sexuellen Übergriffe zwischen 5-tausend und 20-tausend Euro, ist dies ein echter Beweis dafür, dass erstmalig und ernsthaft auf die zahlreichen Opfer zugegangen wurde, dass die Verfehlungen zwischen 1945 und 2014 konkret eingeräumt und beziffert worden sind.

 Bistum will Buße tun

 Die Verfehlungen an den zahlreichen Opfern wurden erstmalig, wohl vor allem dank der unermüdlichen Aufarbeitungsarbeit durch den Anwalt Ulrich Weber, festgestellt, bei dem sich seit Januar 2016 weitere 129 betroffene Opfer gemeldet haben, so dass die Gesamtopferzahl auf derzeit 422 angestiegen ist. Webers Schätzungen zufolge liegt die Dunkelziffer sogar bei 600 bis 700 Opfern. Demzufolge ist es nur konsequent, wenn das Bistum Buße tun will.

Die Opfer empfinden erstmalig so etwas wie Wiedergutmachung, wenn es überhaupt eine Wiedergutmachung für Schläge und/oder sexuelle Übergriffe durch Lehrer, Priester und Erziehern geben kann!

 Wichtiger zweiter Schritt der Aufarbeitung fehlt noch

Wer sind die Täter? Wie heißen sie? Werden sie belangt? Oder werden sie nur versetzt?

 Ganz wichtige Frage sind aber immer noch offen geblieben: Wer sind die Täter? Wie heißen sie? Sind sie noch in Amt und Würden? Sind sie noch als Lehrer, Priester oder Erzieher tätig? Wie wird mit ihnen umgegangen? Lassen die Verantwortlichen der katholischen Kirche sie weiter machen wie bisher? Werden die Täter in forensischen Kliniken, ähnlich den Sexualstraftätern in unserer Gesellschaft, von medizinischem Fachpersonal behandelt? Werden sie kirchenrechtlich bestraft oder strafrechtlich nach dem Strafgesetzbuch belangt? Werden sie in andere Diözäsen versetzt, wo sie nicht mehr der Gefahr ausgesetzt sind, gegenüber Schutzbefohlenen gewaltsam vorzugehen oder gar diese sexuell zu missbrauchen?

 Genaues Hinsehen und den Opfern glauben, hätte viel Leid verhindern können

 Zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle um die Regensburger Domspatzen gehört ja nicht nur die Anerkennung von Missbrauchsfällen und die daraus resultierende finanzielle Wiedergutmachung gegenüber den Opfern sondern vielmehr die Erkenntnisse über die Täter innerhalb der eigenen Reihen.

Lehrer, Priester und Erzieher, die eindeutig von den Opfern identifiziert worden sind als ehemalige Täter, als Männer, die in Ausübung ihrer Ämter körperliche und sexuelle Missbräuche gegenüber Schutzbefohlenen vorgenommen haben, müssen jetzt zu allererst davon abgehalten werden, auch künftig derartige Missbräuche weiterhin an gleicher oder anderer Stelle vorzunehmen.

 Fürsorgepflicht gegenüber den Opfern und den Tätern

 Nicht nur die Opfer bedürfen der besonderen Fürsorge durch die katholische Kirche. Zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers Katholische Kirche gehört es auch, dass er seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schützt und ihnen Hilfe angedeihen lässt bei bestimmten Verhaltensfragen in Ausübung des jeweiligen Berufs als Lehrer, als Priester oder Erzieher. Wenn die jeweiligen Vorgesetzten Auffälligkeiten erkannt hätten, wäre es ihre unbedingte Pflicht gewesen, sofort zu reagieren und die Täter von dem jeweiligen Umfeld zu suspendieren und ihnen wenn nötig, medizinische oder psychologische Hilfe zu gewähren. Und nur, weil dies bisher unzureichend geschehen ist, war es möglich, dass die Täter unbekümmert ihre Schutzbefohlenen quälen und sexuell missbrauchen konnten.

Siegfried Born