Wilhelm Neurohr: PERSONENKULT DER SPD STATT GLAUBWÜRDIGE INHALTLICHE KEHRTWENDE?

Leserbrief an die Recklinghäuser Zeitung zur aktuellen Berichterstattung und Kommentierung der Nominierung von Martin Schulz zum SPD-Kanzlerkandidaten (Ende Januar 2017)

 „PERSONENKULT  DER SPD

STATT  GLAUBWÜRDIGE  INHALTLICHE  KEHRTWENDE?“

 Der lange Zeit deprimierten und nun euphorischen SPD-Basis will ich ungern ihre Vorfreude  auf den Wahlkampf mit dem „Hoffnungsträger“ Martin Schulz verderben. Aber erzeugt sie nicht mit dem „Personenkult“ um den von Herrn Gabriel ausgesuchten neuen Spitzenmann und Kanzlerkandidaten der SPD völlig überzogene Erwartungen und falsche Hoffnungen auf einen wirklichen Politikwechsel?

Wenn Martin Schulz gleich in seiner ersten Antrittsrede ausdrücklich betonte: „Auch ein Gerhard Schröder hat Deutschland gut getan“, dann ist das alles andere als ein Abschied von der neoliberalen und sozial verheerenden Agenda 2010 der SPD, die ja Hauptursache für die Armutsentwicklung bei Löhnen und Renten sowie für die Steuerungerechtigkeit war und  ist. Martin Schulz gehört ebenso wie Sigmar Gabriel und der von diesem vorgeschlagene Präsidentschaftskandidat Walter Steinmeier – als ein Architekt der Agenda 2010 unter Schröder – dem „Seeheimer Kreis“ an, also dem neoliberal orientierten rechten Flügel der SPD. Dennoch stellt er sich nun gefühlsselig und phrasenhaft als „Anwalt der kleinen, hart arbeitenden Leute“ mit Bauchgefühl dar, wie am Sonntagabend bei Anne Will.

Im EU-Parlament war Martin Schulz als Architekt der dortigen informellen „großen Koalition“ eng befreundet mit dem konservativen und neoliberalen EU-Kommissionspräsidenten Jean Claude Juncker. Als dieser in Bedrängnis geriet beim „Luxembourg-Leak-Skandal“ wegen der Luxemburger Steueroase für Reiche und Konzerne, verhinderte Martin Schulz einen vom Parlament geforderten Untersuchungsausschuss, um Juncker vor einem Rücktritt zu bewahren. Und nun redet Schulz von angestrebter „Steuergerechtigkeit“  und „Verhinderung von Steuerflucht“. Hatten nicht die SPD-Finanzminister Eichel, Clement und Steinbrück  als Agenda 2010-Projekt großzügige Steuergeschenke für die Reichen und ein steuerliches Ausbluten der Kommunen zu verantworten? Und hat nicht  die SPD seitdem die jährlichen „Armuts-Reichtums-Berichte“ stur ausgesessen statt gegen zusteuern? Warum wehrt sich die SPD immer noch gegen höhere Vermögens- und Erbschaftssteuern?

Ganz zu schweigen vom Engagement des Martin Schulz im EU-Parlament für die umstrittenen und von fast 70 Prozent der Bevölkerung abgelehnten neoliberalen und lobbygeprägten Freihandelsverträge, mit denen Arbeitnehmerrechte, Verbraucherschutz und demokratische Gewaltenteilung gefährdet würden zugunsten des Primats der Wirtschaft über dem Primat der Politik. Schulz hat auch mit Nachdruck die gnadenlose Spar- und Austeritätspolitik von CDU-Finanzminister Schäuble in der EU unterstützt, als Griechenland und andere in die Staatsschuldenkrise gerieten. Ergebnis: über 50% Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa und Höchststand der Arbeitslosigkeit in der EU mit 22 Mio. arbeitslosen Menschen und der höchsten Obdachlosigkeit. Und auch die von Gabriel als Wirtschaftsminister noch schnell vorbreiteten sogenannten PPP-Modelle zugunsten der Privatisierung  der Autobahnen wird Martin Schulz wohl nicht ausbremsen.

In der Polit-Talkshow am Sonntagabend hat Anne Will es sträflich versäumt, dem hochgejubelten SPD-Kanzlerkandidaten zu all diesen Punkten auf den Zahn zu fühlen. Stattdessen betrieb sie eine halbe Stunde lang psychologisierendes Befragen über die Motive für die Kandidatur und beteiligte sich wie die übrigen Medien an dem unerträglichen „Personenkult“ in unserer „Zuschauerdemokratie“.  Fazit: Oberflächliches Bauchgefühl und Emotionen mit der Überbewertung von „Führungsgestalten“ siegen in der „postfaktischen Ära“ über rationale politische Bewertungen. Die Ernüchterung kommt spätestens nach dem Wahltag am 24. September, aber der Wahlkampf wird eine große „Kleine-Leute-Show“.

Wilhelm Neurohr

(Haltern am See)

Neuerscheinung: »Verschiedene Ansichten. Neue zeitkritische Beiträge« von Dietrich Stahlbaum

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Klappentext:

Auch für den 90-Jährigen ist es eine „Selbstverständlichkeit, das Zeitgeschehen kritisch zu begleiten und im Netz mitzudebattieren.“ Dies ist nun sein 10. eBook, Fortsetzung des neunten mit Beiträgen des letzten Jahres (2016) zu den gleichen Themen (aktuelle Politik, Globalisierung, Kolonialismus, Krieg und Pazifismus, Flüchtlinge, Fluchtursachen, alte und Neue Rechte, ihr Rassismus, ihre Ängste; philosophische Betrachtungen…) Dazu: Die Arier.  Der folgenschwere Missbrauch eines Begriffes durch Rassisten, Verschwörungstheorien; Entwicklungshelfer – ein Afrika-Fest in Bild und Text, Wer war Martin Luther?… – Rezension eines außergewöhnlichen Buches und ein Zeitungsbericht zu Stahlbaums 90.

Der Autor: geboren 1926, aufgewachsen in einem völkisch deutsch-nationalen Milieu, militaristisch erzogen, faschistisch indoktriniert. „Hitlerjugend“, Militär, I944-45 an zerbröckelnden Fronten, 1949-54 bei der Fallschirmtruppe der französischen Legion in Algerien und Vietnam. Heimkehr als Kriegsgegner. Engagement in Bürgerinitiativen und in der Friedens- und Ökologiebewegung. Berufe: u. a. Fabrikarbeiter, Buchhändler, Verlagsangestellter, Bibliothekar. Publikationen: Prosa, Lyrik, Essays, Reportagen etc. Ein Roman, ein „Lesebuch“, Print- und eBooks.

INHALT:

Verschiedene Ansichten – – Warum feiert heute der Nationalkonservatismus Urständ in Europa? – – Gesamtkultur, Menschheitskultur – – „Fremde“ Kulturen und Verhaltensweisen – – Historische Fluchtursachen – – Deutsche Auswanderer, deutsche Kolonialherrschaft – – PEGIDA, AfD und CO. verbreiteten verschwörungstheoretische Übertreibungen – – „Völkisch“ – – Muslimvereine – – Araberinnen – – Die Arier. Der folgenschwere Missbrauch eines Begriffes durch Rassisten – – Verschwörungstheorien. Eine WDR-Sendung und kritische Anmerkungen – – Multi-ethnischer Staat in Syrien? – – Zur Klimaerwärmung – – Afrika-Fest am 11.Juni 2016 auf dem Schulbauernhof in Recklinghausen (Bild und Text) – – Pazifisten – – Raus aus der NATO? Die Friedensbewegung im „Kalten Krieg“. Wortprotokoll einer Diskussion (1983) – – Der Gewalt (in uns) ein Ende setzen – – Das zurück gegebene Schwert. Eine vietnamesische Legende – – Barack Obama – – Herz und Hirn – – Frauen, die für Gleichberechtigung kämpfen – – Der SPD ist die soziale Kompetenz verloren gegangen – – Wer war Martin Luther? Was hat er gelehrt? Was hat er gewollt? Rezension – –  90 Jahre mitten im Strom der Zeit. Ein Lebensbericht

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Dietrich Stahlbaum:  »Verschiedene Ansichten- Neue zeitkritische Beiträge«                   BookRix-eBook  2017, 11658 Wörter, € 3,99, ISBN: 978-3-7396-9350-7

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Wer war Martin Luther? Was hat er gelehrt? Was hat er gewollt? Rezension

War er „Der radikale Doktor Martin Luther“, den Wolfgang Beutin uns in seinem gleichnamigen Buch präsentiert? Oder war er ein innerlich zerrissener, daher auch in seinem Denken widersprüchlicher Psychopath?

    Das eine schließt das andere nicht aus. Denn auch ein von Selbstzweifeln getriebener Mensch kann über sich hinaus wirken und die Welt verändern – negativ und positiv, vorsätzlich und wider Willen. Luthers Widersprüchlichkeit, wie sie sich in seinen Schriften äußert, machte es seinen Gegnern leicht, ihn der Doppelzüngigkeit zu überführen und zu verteufeln, seinen Anhängern wiederum, ihn zu verherrlichen, und politischen Akteuren, ihn für ihre Zwecke einzuspannen. Die evangelischen Deutschen Christen (DC) zum Beispiel beriefen sich auf Luthers Hetzschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ und hatten nach 1933 großen Einfluss auf den Protestantismus. Auch der Katholik Hitler lobte und verehrte ihn:  „Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung, sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen.“ (Dietrich Eckart, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin – Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir, München 1924, S. 35)

Wer ihn bewunderte, verachtete oder nur benutzte, der hatte eine Vorstellung von Luther, die der eigenen Anschauung entsprach, aber nicht der ganzen Wirklichkeit. So sind infolge partieller Wahrnehmung lauter verschiedene Lutherbilder entstanden.

Da erscheint nun zur rechten Zeit die dritte überarbeitete und erweiterte Auflage eines Buches, das uns den ganzen Luther nahe bringt. Sein Autor ist kein Theologe, kein Kirchenmann, sondern Literaturwissenschaftler: Germanist und Mediävist, ein Historiker, der sich in der Geistesgeschichte des Abendlandes auskennt. Er befasst sich seit den sechziger Jahren mit der Reformation und ihren Akteuren und hat dabei Ludwig Feuerbachs These, „dass Theologie Anthropologie sei“ (20), im Hinterkopf. Schon sehr früh wird er auf die gesellschaftspolitische Bedeutung Luthers aufmerksam. Diesen Aspekt hatte die Forschung bisher zu wenig, wenn überhaupt im Blick. Deshalb versucht Beutin zu ermitteln, „ob Luther, die historische Gestalt, und sein Werk unter dem demokratischen Gesichtspunkt historisch gerecht erfasst werden können..“ (Einl. 1.,2.Aufl. 64)

Er hat nahezu das gesamte Mittelalter und die Neuzeit durchforscht und bisher auch unbekanntes authentisches Textmaterial ans Licht gebracht: Reden, Briefe, Aufzeichnungen – Würdigungen, Kritiken und Schmähschriften – von Klerikern, Theologen, Historikern, Biografen, Politikern, Dichtern und Philosophen, darunter Melanchthon, Erasmus von Rotterdam, Goethe, Heinrich Heine, Friedrich Engels, Karl Marx, Franz Mehring, Gotthold Ephraim Lessing, Heiner Geißler und Margot Käßmann. Vor allem aber sind es die vielen langen Textpassagen, mit denen Beutin Luther selber zu Wort kommen lässt. Teile davon hat er in unsere heutige Sprache übertragen. Beweismaterial, mit dem die vielen Missverständnisse, Fehldeutungen und Lutherbilder und – legenden aus dem Weg geräumt werden sollen.

Was hat er gelehrt? Was hat er gewollt? Beutin: „Als Luther daran ging, die für ihn unerträglichen Mißstände in der Kirche seiner Zeit und die aufgeschwemmte Kirchenlehre, wie er sie vorfand – verunstaltet durch nicht bibelgemäße, nicht von Jesus herrührende ´Zusätze`–, zu reformieren, war es sein Vorhaben, ausgehend vom ´Wort Gottes` die frühere, genuine Kirche wiederherzustellen, die vorgefundene also soweit möglich in den Urzustand zurückzuversetzen, wie ihn die Evangelien beschreiben.“

Ein Grundgedanke Luthers war die „Gleichheit aller Christenmenschen“ in seiner  Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation… (1520). Daraus: „Es hat sich eingebürgert, daß Papst, Bischöfe, Priester und Klosterinsassen als ´geistlicher Stand` bezeichnet werden, Fürsten, Adlige, Handwerks- und Ackersleute als ´weltlicher Stand: in Wirklichkeit eine ausgeklügelte, aufpolierte Lüge. (…) In Wahrheit sind nämlich alle Christen geistlichen Standes, und es besteht unter ihnen keinerlei Unterschied. (…) Das kommt daher, daß wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben, also gleiche Christen sind. Denn die Taufe, das Evangelium und der Glaube, die allein machen geistlich, konstituieren die Christenheit. Aber daß der Papst und Bischof salbt, Mönche erschafft, Pfarrer ordiniert, Gebäude weiht, sich anders kleidet als die Laien, macht aus ihm vielleicht einen Blender und Ölgötzen, aber nimmermehr einen Christen oder geistlichen Menschen. Nämlich nur durch die Taufe werden wir allesamt zu Priestern geweiht. (…)  Da wir ja alle gleichberechtigte Priester sind, darf sich niemand selber hervortun und sich unterstehen, ohne unser Einverständnis und ohne daß wir ihn gewählt haben, dasjenige auszuüben, wozu wir alle gleich bevollmächtigt sind.“

Beutin: „Wie Luthers Gleichheitslehre, so ist seine Freiheitslehre von den berufenen evangelischen Theologen im wesentlichen mißdeutet, verdeckt, versteckt worden. (…) Der sich selbst bestimmende Mensch, der keine Macht sucht, sondern die Unterordnung in Freiheit; der schöpferische Mensch, der in Freiheit seiner selbstgewählten freien Arbeit nachgeht, auch der untergeordneten; der neue Mensch, der die Ketten des alten abgeworfen hat, – das ist Luthers geistlicher Entwurf. Es ist das ideale Bild eines Christen, der in Vereinigung mit anderen Christen, brüderlich verbunden mit ihnen in einem Personenverband, dem Reich Gottes, die Zeiten durchwandert.“

Der Autor zeigt den Reformator als radikalen Vorkämpfer der Demokratie – samt Gleichberechtigung der Geschlechter – und der Säkularisierung. Sein Buch soll aber auch „Laien“ aller Konfessionen zu kritischer Beschäftigung mit Glaubensfragen anregen. Agnostiker und Atheisten haben das längst getan.

Beutin hat ein immenses Material zusammengetragen und zum Teil neu bewertet. Deshalb kann hier nicht auf alle Aspekte seiner gründlichen Darstellung der „Streitsache Luther“ eingegangen werden. Erwähnt werden soll aber noch, dass der Germanist die Bibelübersetzung als „die größte sprachschöpferische Leistung des Reformators und der gesamten frühen Neuzeit“ würdigt: Luther „verschmolz“ „das Schriftdeutsch der Amtsprache“ „mit der Sprache des Volks, mit Wörtern und Wendungen, die der Vorstellungs- und Gedankenwelt des gemeinen Mannes Ausdruck gaben.“ Sprache auch als Mittel der Kommunikation, „das nicht bloß der Befehlsgebung von oben her diente, sondern hervorragend die Verständigung der Menschen untereinander ermöglichte, in den Massen, des gemeinen Mannes mit dem gemeinen Mann.“

Wolfgang Beutin: Der radikale Doktor Martin Luther. Peter Lang-Verlag, Frankfurt a. M 2016, 3. Aufl. 378 Seiten. € 59,95