Angelika Claußen: 30 Jahre Leben mit Tschernobyl: Überblick über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe

 

Vor 30 Jahren, am 26. April 1986, fand die Mär von der „sicheren Atomkraft“ mit dem Super-GAU von Tschernobyl ein abruptes Ende. Millionen Menschen wurden zu Opfern radioaktiver Verstrahlung. Riesige Territorien wurden unbewohnbar.

Straße nach Tschernobyl
Straße nach Tschernobyl

 

Die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe 

Von Dr. Angelika Claußen

Die radioaktive Wolke zog um die ganze Erde und in den Köpfen zahlloser Menschen wuchs die Erkenntnis von den Gefahren der Atomenergienutzung. Auch in Deutschland erkrankten und starben Menschen aufgrund der mit Nahrung und Atemluft in den Körper aufgenommenen radioaktiven Partikeln.

Bereits 1991 stellten MedizinerInnen als eine der ersten gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Tschernobyl eine erhöhte Zahl von Schilddrüsenkrebsfällen fest. Von den Organisationen der Atomlobby wie UNSCEAR oder der IAEO wurden diese jedoch trotz erdrückender Beweise zunächst nicht der Kernschmelze von Tschernobyl zugeschrieben. Dies änderte sich erst 1996.

Die Analyse der gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl wird bis heute durch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Sachverhalte erschwert: Wesentliche Daten zum Ablauf der Tschernobyl-Katastrophe und zu den gesundheitlichen Folgen sind nicht frei zugänglich und unterliegen der Geheimhaltung. Bis heute besteht unter Wissenschaftlern keine Einigkeit darüber, wie viel an radioaktivem Inventar durch die Explosion im Reaktor ausgetreten ist. Die unterschiedlichen Schätzungen reichen von 3,5 % bis 95 % des ursprünglichen Reaktorinventars.

In den ersten Jahren nach der Katastrophe sprachen das Ministerium für Gesundheitswesen der UdSSR und der KGB zudem zahlreiche Verbote aus, die zur Folge hatten, dass für die Beurteilung der Lage wesentliche Informationen nicht gewonnen, geheim gehalten oder verfälscht wurden.

Der Super-GAU von Tschernobyl betrifft noch immer Millionen von Menschen, darunter schätzungsweise 830.000 Liquidatoren, mehr als 350.000 Evakuierte aus der 30 km-Zone und weiteren sehr stark kontaminierten Regionen, ca. 8,3 Millionen Menschen aus den stark strahlenbelasteten Regionen in Russland, Weißrussland und der Ukraine sowie ca. 600 Millionen Menschen in anderen Teilen Europas, die geringeren Strahlendosen ausgesetzt wurden.

Rund 36 % der Gesamtradioaktivität ging damals über Weißrussland, Russland und der Ukraine nieder, etwa 53 % über dem Rest Europas. 11 % verteilten sich über den restlichen Globus. Die Angaben zur Kollektivdosis bewegen sich von 2,4 Millionen Personensievert (Quelle: Sowjetunion 1986, weltweit, Zeitraum 70 Jahre) bis zu 55.000 Personensievert (Quelle; IAEO/WHO 2005, nur Weißrussland, Russland und Ukraine, Zeitraum 20 Jahre).

Und die gesundheitlichen Folgen zeigten sich anders als von den Wissenschaftlern der Atomindustrie und ihrer Lobby prognostiziert.

Hamm-Uentrop 1987

Krebserkrankungen

Unerwartet schnell zeigte sich schon 3-4 Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe ein rasanter Anstieg von Schilddrüsenkrebsen bei Kindern, besonders in der hoch belasteten Zone von Gomel, Weißrussland. IAEO und WHO erkannten den Zusammenhang zum Super-GAU erst 10 Jahre später an. UNSCEAR gab 2008 6.848 behandelte Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Menschen an, die 1986 unter 18 Jahre alt waren. Auch in Russland und der Ukraine stiegen die Schilddrüsenkrebszahlen bei Kindern. Und nicht nur Kinder, auch Erwachsene und ganz besonders Frauen zeigen in den betroffenen Gebieten zunehmende Schilddrüsenkrebsraten.

In Weißrussland kam es laut Daten des nationalen Krebsregisters zu einem generellen Anstieg diverser Krebsarten neben Schilddrüsenkrebs. Besonders betroffen waren dabei die Prostata, die Haut, die Nieren, der Darm, das Knochenmark, das lymphatisches System und die weibliche Brust. Auch stellten die MedizinerInnen einen signifikanten Anstieg von Brustkrebs und Kinderleukämien sowohl in Weißrussland als auch in der Ukraine fest. Ivanov et al. berichteten 2002 zudem von einem erhöhten Auftreten von Krebserkrankungen in den besonders strahlenbelasteten russischen Gebieten von Kaluga und Bryansk. Vor allem in der Gruppe der Liquidatoren wurden vermehrt Leukämien und Schilddrüsenkrebs diagnostiziert.

Nichtkrebserkrankungen

Bei allen hochbestrahlten Populationen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken findet sich zudem ein deutlicher Anstieg von Nichtkrebserkrankungen wie z.B. benignen Tumoren, kardiovaskulären, zerebrovaskulären, respiratorischen, gastrointestinalen, endokrinologischen und psychischen Erkrankungen, Katarakten und Störungen der Intelligenzentwicklung. Die Anzahl dieser Erkrankungen übersteigt die Anzahl der Krebserkrankungen bei weitem. Es dauerte 23 Jahre, bis UNSCEAR kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Erkrankungen sowie Katarakte bei Liquidatoren als strahlungsbedingt anerkannt hat. Frühe Studien aus Weißrussland, Russland und der Ukraine an belasteten Evakuierten und Kindern zeigen zudem einen Anstieg von Veränderungen der Blutzellen und daraus resultierender Abwehrschwäche sowie von obstruktiven und nichtobstruktiven Lungenerkrankungen.

Störungen des Erbguts

Fehlbildungen, chromosomale Aberrationen und die Erhöhung der perinatalen Sterblichkeit (Totgeburten, Fehlgeburten) wurden bereits in den ersten Jahren der Atomkatastrophe in Weißrussland, der Ukraine und in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern registriert. In Weißrussland und in West-Berlin stieg die Anzahl von Neugeborenen mit Down-Syndrom. Alfred Körblein und Hagen Scherb wiesen in verschiedenen Untersuchungen eine erhöhte Perinatalsterblichkeit in Deutschland, Polen, Ungarn und in den skandinavischen Ländern nach und stellen eine Relation zur Cäsium-Belastung her. Scherb und Sperling haben die Anzahl der zusätzlichen Tot- und Fehlgeburten in Deutschland auf 1.000 – 3.000 geschätzt. Für drei skandinavische Länder schätzte Körblein die Zahl der zusätzlichen Tot- und Fehlgeburten auf ca. 1.200. In neuen Studien konnten Scherb und Weigelt zeigen, dass sich auch das Geschlechterverhältnis zwischen weiblichen und männlichen Neugeborenen zugunsten des männlichen Geschlechts veränderte. 220.000 Mädchen fehlen demnach in West-Europa. Diese Studien sowie die ausführlichen weißrussischen Arbeiten zu Fehlbildungen, Tot- und Fehlgeburten werden allerdings bisher von den internationalen Institutionen (UNSCEAR, IAEO, ICRP) nicht in Betracht gezogen. Deren Wissenschaftler halten an einer Schwellendosis für teratogene und chromosomale Schäden fest. Diese Annahme wurde inzwischen von zahlreichen Studien widerlegt .

Hamm-Uentrop 1987

Gesundheit der Liquidatoren

Die Liquidatoren stellen die am schwersten betroffene Gruppe im Rahmen der Atomkatastrophe von Tschernobyl dar. Bezüglich des Ausmaßes der Morbidität und Mortalität bei den Liquidatoren existieren zwar unterschiedliche Zahlenangaben, aber über die Tatsache, dass die meisten von ihnen an mehreren verschiedenen schweren Krankheiten leiden (Multimorbidität) und deshalb arbeitsunfähig sind, herrscht in den medizinischen Studien Einigkeit. Yablokov schätzt aufgrund verschiedener Studien, dass bis 2005 schon 112.000-125.000 Liquidatoren verstorben sind. Die Hauptursache sind Schlaganfälle und Herzinfarkte, die zweithäufigste Todesursache sind Krebserkrankungen. Die Tschernobylforscher Burlakova und Bebeshko identifizierten viele somatische Veränderungen als strahlenbedingte, vorzeitige Alterungsprozesse.

Die medizinisch-biologische Bewertung von Strahlenfolgen ist bis heute eine kontroverse Angelegenheit. Es geht um den Streit, wie viel radioaktive Kontamination eine Gesellschaft aus industriepolitischen Gründen heraus ertragen muss – ähnlich wie bei der Bewertung von chemisch und toxisch bedingten Umweltschäden. Doch jenseits des alten Streits zwischen den Befürwortern der sogenannten friedlichen Nutzung von Atomenergie und deren Gegnern um das Ausmaß der gesundheitlichen Schäden nach Atomunfällen und die Folgen langfristiger Strahlenexposition, mehren sich die von beiden Seiten anerkannten Forschungsergebnisse, die nachweisen, dass ionisierende Strahlung gefährlicher ist als bislang angenommen.

IPPNW-Report „30 Jahre Tschernobyl – 5 Jahre Fukushima

[Via Sonnenseite Newsletter ( noreply@sonnenseite.com ) vom 23. April 2016]

Weitere Beiträge in diesem Blog (u. a. eine Foto-Textdokumentation über den Anti-AKW-Widerstand in der Bretagne 1980) unter dem Stichwort ATOMKRAFT

 

Wilhelm Neurohr: „TIEFSTAPELEI ÜBER DIE WIRKLICHE ZAHL DER TTIP-KRITIKER UND IGNORANZ GEGENÜBER IHREN BERECHTIGTEN BEDENKEN“

Leserbrief  zum Leitartikel und Kommentar in den Zeitungen des Medienhauses Bauer, Marl , vom 25. April 2016: „An TTIP scheiden sich die Geister“

„TIEFSTAPELEI ÜBER DIE WIRKLICHE ZAHL DER TTIP-KRITIKER UND IGNORANZ GEGENÜBER IHREN BERECHTIGTEN BEDENKEN“

Was uns im Leitartikel auf der Titelseite vom 25.April 2016 unter der Überschrift „An TTIP scheiden sich die Geister“ als „Analyse unserer Nachrichtendienste“ aufgetischt wurde, war aus meiner Sicht ein journalistisches Armutszeugnis, das keinem Faktencheck standhält und keinen wirklichen Informationsgehalt hat, sondern zur Desinformation beiträgt. Der Gipfel der Unseriösität war der dazu abgedruckte Kommentar von Thorsten Henke, der den TTIP-Kritikern fälschlich  „Anti-Amerikanismus unterstellt“ und in diesem Zusammenhang quasi ihre Undankbarkeit gegenüber den damaligen Befreiern von der Nazi-Herrschaft beklagt. Geht es sein wenig sachlicher beim Thema Freihandel, Herr Henke, bei Ihrem kläglichen Versuch, die Leser über vermeintliche „Vorteile“ des TTP“ Abkommens-„aufzuklären“? Ganz offensichtlich sind die Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen und Gruppierungen weitaus besser und fundierter über TTIP aufgeklärt als die meisten Medienvertreter, die scheinbar vorgefertigte Argumentationsbausteine der EU-Kommission, des Wirtschaftsministers oder der Wirtschaftsverbände abschreiben statt sauber zu recherchieren.

Der fragwürdige Leitartikel beginnt mit der in den Medien mittlerweile üblichen Tiefstapelei über die tatsächliche Zahl der Demonstrationsteilnehmer in Hannover anlässlich des TTIP-Werbefeldzuges von Obama und Merkel. (Letztere ist übrigens nach eigenen Worten „Treiberin des Abkommens“ und weniger die Amerikaner, die vorzugsweise ihr transpazifisches Abkommen TPP mit dem asiatischen Raum dem auch in den USA ungeliebten TTIP mit Europa vorzogen). Anstatt die von den Organisatoren tatsächlich gezählten 90.000 Demonstrationsteilnehmer am Samstag wahrheitsgetreu zu erwähnen, beginnt der Artikel mit 200 Demonstranten der Nachhut am nachfolgenden Sonntag. Immerhin werden im Nachsatz die von der Polizei lediglich geschätzten 35.000 Demonstranten vom Samstag erwähnt, derweil andere Zeitungen diese Zahl nochmals auf 25.000 einfach heruntersetzten.

Schon bei der großen Anti-TTIP-Demonstration mit 250.000 Teilnehmern im Oktober in Berlin – die größte Demonstration seit Jahrzehnten in Deutschland – drückten fast alle Medien die Teilnehmerzahl auf 100.000, sofern sie überhaupt darüber angemessen berichteten. Einige Leitmedien spekulierten sogar in ihren Kommentaren , die Hunderttausende seien von der rechten Pegida-Bewegung gelenkt worden – bis eine seriöse Untersuchung der Universität Göttingen die genaue Teilnehmerstruktur als zu 90 % aus dem eher rot-rot-grünen Spektrum  stammend belegte. Wollen manche Medien den Rechtspopulisten damit den Gefallen tun, dem Vorwurf der „Lügenpresse“ Nahrung zu geben, nur um den Interessen der TTIP-Lobby nachzukommen und die breite Widerstandsbewegung als klein und unbedeutend oder fremdgesteuert darzustellen? (Darunter die kommunalen Spitzenverbände, die Kirchen, die Sozial- und Umweltverbände, die Gewerkschaften und Berufsverbände, der Kulturrat u.v.m.) Nicht nur jeder Dritte ist gegen TTIP, wie die Medien schreiben, sondern Umfragen zufolge weit über 50%!

Unverantwortlich geht es im Leitartikel weiter mit den inhaltlichen Behauptungen zu TTIP, indem überholte und längst widerlegte Zahlen und Gutachten über die Wachstums,- Wohlstands und Beschäftigungseffekte zitiert werden, obwohl die EU-Kommission  und die Wirtschaftsverbände diese falschen Zahlen kleinlaut von ihrer Homepage genommen haben.

Sodann werden lediglich die von Kritikern angeführten Gefahren für den Umwelt- und Verbraucherschutz und die „sinnvolle Standardanpassung“ erwähnt sowie der Streit über die Sonderklagerechte der Konzerne. Die Kernkritik an TTIP wird völlig ignoriert, nämlich die Gefahr für die Demokratie und die Gewaltenteilung: Wieso verhandeln nicht gewählte Handelskommissare und einbezogene Lobbyisten unter Ausschluss der Öffentlichkeit über gesellschaftliche Grundsatz- und Zukunftsfragen wie  Arbeits- Sozial- und Tarifrechte, über Umwelt, Gesundheits- und – und Verbraucherschutz sowie Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und dergleichen. Alles gesellschaftspolitische Entscheidungen, die zuvor in jahrelangen öffentlichen Diskursen und nach mühsamem politischem Ringen durch Parlamente und mit Bürgerbeteiligung demokratisch entschieden wurden. Das alles wird jetzt in bloßen Fußnoten von Handelsverträgen zu bloßen Handelsfragen degradiert und  unter dem Aspekt von „zu beseitigenden Handelshemmnissen“  nebenbei abgehandelt – etliche Verfassungs- und Völkerrechtsexperten und ehemalige Verfassungsrichter sehen darin eindeutige Verstöße gegen das Grundgesetz..

Die Freihandelsverträge sind immerhin völkerrechtliche Verträge, die über der nationalen Gesetzgebung und über dem EU-Recht stehen und deshalb normalerweise von Regierungen und Parlamenten verhandelt und demokratisch verantwortet werden. Hiezur ist auch die Schlussbehauptung in dem fragwürdigen Leitartikel falsch, wonach es „als sicher gilt, das TTIP auch dem Bundestag zur Abstimmung vorgelegt wird“.  Diese Notwendigkeit bestreitet die EU-Kommission und hat deshalb den Europäischen Gerichtshof gebeten, das zu bestätigen, denn laut EU-Lissabon-Vertrag ist für Handelsverträge die EU-Kommission alleinzuständig – und dem hatte der Bundestag seinerzeit zugestimmt….Das alles haben die Nachrichtendienste nicht  recherchiert und die Politikredaktion  des Medienhauses Bauer weder hinterfragt noch überprüft? Also, liebe Leser: Skepsis bei allen TTIP-Artikeln in Ihrer Tageszeitung!

Wilhelm Neurohr

Wir befinden uns in einem asymmetrischen Dritten Weltkrieg. Was tun?

Bis jetzt sind wir davongekommen, verschont geblieben im asymmetrischen Dritten Weltkrieg, der selbst gutwillige Politiker/innen ratlos macht. Total verfahrene Situationen. Heraushelfen könnte wohl nur eine allseitige Generalamnestie, denn fast alle Regierenden, Superreichen und sonstigen Machthaber oder Macht Anstrebenden haben Dreck am Stecken und an den Händen Blut.

Friedensfahne in Rom am 12.4.2003
Friedensfahne in Rom am 12. 4. 2003

Mit gegenseitigen Schuldzuweisungen lässt sich kein allseitiger Konsens erreichen. Ein solcher ist aber nötig, um gerechte und friedliche Verhältnisse schaffen zu können. Gefragt ist ein von allen Dogmen und Doktrinen freier, aufs Ganze gerichteter sozialer und Frieden stiftender Pragmatismus.

VATERLAND, ein historisch belasteter Begriff, und der Neonationalismus (AfD, PEGIDA, NPD etc.)

In seiner Rede nach der Wahl zum Bundespräsidenten am 23. 05. 1999  sagte Johannes Rau: „Ich will nie ein Nationalist sein, aber ein Patriot wohl. Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.“

30 Jahre vorher hat ein anderer Bundespräsident und Sozialdemokrat auf die Frage, ob er diesen Staat denn nicht liebe, geantwortet: „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig!“ Gustav Heinemann laut SPIEGEL vom 13. Januar 1969

Es gibt hier also grundverschiedene Auffassungen, wenn wir davon ausgehen können, dass Heinemann sehr wohl gewusst hat, der Begriff PATRIOTISMUS ist historisch belastet und mit dem Staatsbegriff gleichgesetzt worden.

Hierzu mein Essay »Des Deutschen Vaterland“ – Eine zeitgemäße Betrachtung«

„Dulce et decorum est pro patria mori.“ Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben sang der römische Dichter Horaz. Er starb allerdings als alter Mann im Jahre acht vor unserer Zeitrechnung vermutlich im Bett. Auch wir sollten sterben: “für Führer, Volk und Vaterland”. Spätestens 1945. (Da hatte ich gerade mal 19 Jahre gelebt.)

„Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an!“ ließ ein deutscher Dichter einen Schweizer rufen: Schiller den Tell.

“Was ist des Deutschen Vaterland?“ fragte 1913 ein anderer Deutscher in einem Gedicht: E. M. Arndt.

“Mit Gott und Vaterland“ stand auf einem Kreuz aus weißem Blech, das auf Anordnung Friedrich Wilhelms III. ab 1813 jeder Landwehrmann an seiner Mütze tragen musste. Auf dem Koppelschloss stand lediglich: “Mit Gott“.

Max von Schneckenburger hingegen, dem das Mutterland offenbar mehr bedeutet hat, beschwichtigte seine Landsleute 1840: “Lieb Vaterland, magst ruhig sein.“

Und in den 1870er Jahren beschimpfte der deutsche Kaiser (oder war es Bismarck?) die Sozialdemokraten als “vaterlandslose Gesellen”, weil bei ihnen die Kriegstreiberische Politik der deutschen Herrenkaste auf Ablehnung stieß.

Ein „Vaterland“ ist ebenfalls die französische Fremdenlegion, auch wenn ich das nicht so empfunden habe, 1949-54, ein Vaterland „Vaterlandsloser“: “LEGIO PATRIA NOSTRA“ (Die Legion ist unser V.) …

Volltext oben verlinkt!

Mehr hierzu in diesem Blog unter dem Stichwort NATIONALISMUS

In der Frankfurter Rundschau fragt Stephan Hebel nach den Erscheinungsformen und Motiven der neuen Rechten:

„Nationalistische Denke ist nicht länger tabu. Die Mitte der Gesellschaft verliert sich im Ressentiment und schimpft nicht auf die Elite, der man doch so gerne angehören würde. Das Feindbild sind die Schwachen und Fremden.

Deutschland bewegt sich, und zwar nach rechts. Pegida ist sicher nicht die stärkste Bewegung, aber an Einfluss auf die öffentlichen Debatten hat sie manche Initiative mit breiterer Basis deutlich überrundet – begleitet von Wahlerfolgen ihrer Geistesverwandten von der AfD.

´Wir sind das Volk´ rufen sie in Dresden, als gäbe es im ´Volk` nicht mindestens ebenso viele Willkommensbefürworter wie Abschottungspropheten. Und sie verkehren den im Kern emanzipatorischen Ruf von 1989 ins Gegenteil…“

Volltext: Neue Rechte: Angst vor der Konkurrenz von „unten“

Das trifft sicherlich nicht auf alle Wähler/innen der AfD und Teilnehmer/innen an den Montags-Friedenswinter-Demonstrationen und nicht auf alle zu, die bei PEDIGA mitlaufen. Viele von ihnen sind Menschen, die sich von der Politik übergangen fühlen, Angst haben, von den Flüchtlingen überflutet zu werden und, ohne viel nachzudenken, denen folgen, die ihnen die einfachsten Problemlösungen bieten.

Stephan Hebel meint auch nicht sie, sondern die „geistigen Brandstifter und Anführer der Neonationalen“ mit „geschlossenen rassistischen Weltbildern“, die Wortführer von AfD, PEGIDA und den Montagsdemos, und folgert:

„Wer sich aber deren große Gefolgschaft erklären will, kommt mit dem Verweis auf verbreiteten Rassismus allein nicht weiter. Es ist zwar richtig, dass Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus oder Homophobie auch in der ´Mitte der Gesellschaft`  nie ausgestorben waren: Seit Jahren beziffern Studien das Potenzial an ´gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit` auf etwa 20 Prozent.“ Und fragt: „Aber wie konnten sich solche Strömungen in eine offen agierende Bewegung verwandeln, wie sich zu einer zumindest momentan erfolgreichen Partei formieren?“

Stephan Hebel  begnügt sich nicht mit schnellen Antworten, geht diesen Fragen auf den Grund und zitiert Soziologen, Historiker und andere Wissenschaftler/innen wie Cornelia Koppetsch: „Viele ´ganz normale Bürger´ hätten `die Spielregeln des Neoliberalismus längst verinnerlicht und erwarten nun auch von anderen Wettbewerbsgeist, Bereitschaft zur Selbstoptimierung und Disziplin. Wer sich dem nicht unterwirft, wird ausgegrenzt. (…) Man schimpft nicht mehr auf die Eliten, sondern möchte am liebsten selbst dazu gehören und grenzt sich nach unten ab.` Und ´unten´, da sind unter anderem ´die Fremden`.“

In der Weimarer Zeit stand der bürgerliche deutsch-völkische Nationalismus/Patriotismus in der Tradition des Kaiser-Reiches und ebnete dem so genannten Nationalsozialismus den Weg zur Macht. Heute erleben wir eine ähnliche Entwicklung. Und es sind nicht nur Mittelstandsbürger, die in ihrer Existenz gefährdet, sich nach einem starken Mann und einem starken, nämlich autoritären, im Grunde undemokratischen Staat sehnen, sondern auch viele, vor allem junge Menschen in prekären Verhältnissen, die zum ersten Mal überhaupt und dann die AfD gewählt haben und nicht die einzige Partei, die konsequent für eine soziale Wirtschafts- und Finanzpolitik eintritt und sich nicht kaufen lässt.

Der anachronistische  Antikommunismus steckt heute noch in vielen Köpfen und tabuisiert alles, was sich im politischen Spektrum links einordnet oder eingeordnet wird. Das Übrige besorgen die systemkonformen, mehr oder minder opportunistischen, vom Kapital abhängigen Medien, indem sie DIE LINKE dadurch klein halten, dass sie diese Partei aus dem demokratischen Disput und der Meinungsbildung nahezu ganz ausschließen.

Die linksliberale Frankfurter Rundschau ist eine der wenigen Ausnahmen. Eine Zeitung, die umfassend informiert und durch eine Vielfalt von Ansichten zur eigenen Meinungsbildung geradezu herausfordert.

 

Wilhelm Neurohr: „Wir sollten den Niederländern mit ihrem Referendum dankbar sein“

Zum Kommentar von Rasmus Buchsteiner über das Referendum in den Niederlanden „Es gibt viele Verlierer“. Recklinghäuser Zeitung vom 8. April 2016:

„Wir sollten den Niederländern mit ihrem Referendum dankbar sein“

In seinem Kommentar zum Referendum in den Niederlanden (mit einem Mehrheitsvotum gegen den Ukraine Assoziationsvertrag der EU) spricht der Kommentator Rasmus Buchsteiner davon, dass es daraufhin viele Verlierer gebe“ und angeblich die „populistischen Euroskeptiker von links und rechts“ das Abkommen für ihre Zwecke instrumentalisiert hätten. Ist das nicht eine völlig verzerrte Einschätzung der wirklichen Verhältnisse?

Seine Behauptung (im Einklang mit den übrigen „Mainstream-Medien“) hält nämlich einer differenzierten Betrachtung nicht stand. Zunächst einmal ist nicht jeder EU-Kritiker ein „Europa-Skeptiker oder gar „Europa-Gegner“, wie die Medien populistisch etikettieren – im Gegenteil: Die meisten (wahren) Europäer wollen alternativ ein anderes vereinigtes Europa als das neoliberale EU-Projekt der Eliten mit ihren Demokratie-Defiziten, nämlich ein demokratisches, soziales und humanistisches Europa. Die EU als „Friedensnobelpreisträger“ ist ja gerade dabei, in allen Feldern das Gegenteil zu praktizieren: Sei es in der nationalistisch geprägten Flüchtlingspolitik und zuvor in der Griechenlandkrise, sei es bei den unfairen Freihandelsverträgen mit Afrika als Verstärkung statt Beseitigung von Fluchtursachen, oder sei es die von Eigeninteressen geleiteten Interventions-Kriegseinsätze mitsamt Waffenhandel weltweit, sowie nicht zuletzt bei der anhaltenden neoliberalen Umverteilungspolitik zugunsten der Reichen und zu Lasten der Armen.

Sollen EU-Kritiker das nicht thematisieren? Wenn Rasmus Buchsteiner vorwurfsvoll von Populisten in der Bevölkerung spricht, so trifft der Populismus-Vorwurf doch am ehesten auf die Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU selber zu, die in vorauseilendem Gehorsam den rechten Rand der Gesellschaft bedient und dabei in bedenklicher Weise den Boden des Völker- und Menschenrechtes sowie des Verfassungsrechtes schrittweise verlässt.

Noch schlimmer ist die EU-Geheimpolitik bei den umstrittenen Freihandelsverträgen, zu denen auch der sogenannte „Assoziationsvertrag“ mit der Ukraine gehört – in Wirklichkeit nämlich ein fragwürdiger Freihandelsvertrag mit dem willfährigen Oligarchen Poroschenko, der als ukrainischer Staatspräsident ganz oben auf den enthüllten Panama-Papieren mit seinen Briefkastenfirmen steht. (In den Medien wird in diesem Zusammenhang aber nur das nähere Putin-Umfeld erwähnt, seitdem die annähernde Ostpolitik durch neuen kalten Krieg ersetzt wurde). Der Milliardär und „Schokoladenkönig“ Poroschenko hat auch seine Zusage nicht eingehalten, als Staatspräsident seine Firmenbeteiligungen abzugeben. Wenn das Abkommen, von dem er persönlich profitiert, auch ohne Zustimmung aller 28 EU-Staaten vorläufig d. h. unbefristet in Kraft tritt – nach dem Ausscheren der Niederlande durch eine demokratische Volksabstimmung, die in Deutschland leider verwehrt wird – wird das Demokratiedefizit der EU mehr als deutlich.

Und das soll sich bei den von einer Bevölkerungsmehrheit abgelehnten Freihandelsabkommen TTIP und CETA fortsetzen: Letzteres wird nun sogar ohne die versprochene Beteiligung der Nationalparlamente „vorläufig“ von der EU einfach in Kraft gesetzt, obwohl darin weitere demokratische Grundregeln übergangen werden. Warum also der Vorwurf von Rasmus Buchsteiner, die Niederländer hätten „wieder einmal Nein gesagt“? Dabei hatten sie schon 2005 den „richtigen Riecher“, als sie ebenso wie die Franzosen und Iren, den neoliberal geprägten „EU-Verfassungsentwurf“ per Referendum ablehnten, der dann aber durch den gleichlautenden „EU-Lissabon-Vertrag“ ohne Bürgerbeteiligung einfach ersetzt wurde. Und darin steht eben im Artikel 207, dass die EU-Kommission ohne nationale Parlamentsbeteiligung solche Freihandelsverträge abschließen kann. Dem Grundsatz hatte der Bundestag seinerzeit so zugestimmt und wundert sich nun, dass er außen vor ist und die Bevölkerung dagegen rebelliert.

Wir sollten den Niederländern also dankbar sein, statt ihnen Vorwürfe zu machen, Herr Buchsteiner, denn dort gibt es wenigstens so etwas wie Basisdemokratie .mit der Chance, das Projekt „Europa von unten“ vor dem Zugriff der neoliberalen Eliten auf demokratische Weise zu retten und damit auch den politischen Rechtstrend in Europa zu stoppen. Dann gibt es wieder viele Gewinner und wenige Verlierer statt umgekehrt, um die Überschrift von Rasmus Buchsteiner zurechtzurücken.

Wilhelm Neurohr