Nach der Bundestagswahl hochaktuell: Kirche von unten, Kirche von oben – Der Fall „Heinrich Knechten “ – Offener Brief an den Bischof von Münster. 18. März 1984

Von Dietrich Stahlbaum

Im September 1982 übernimmt ein junger Priester sein Amt als Kaplan in Oer-Erkenschwick, einer kleinen Bergarbeiterstadt im Kreis Recklinghausen. Er macht bald die Erfahrung, daß – wie er später schreibt – „politische ´Neutralität` die herrschenden Kräfte unterstützt, die Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Kriegsgefahr und Elend in der ´3. Welt` verursachen.“

Er wird im Januar 1983 Mitglied der Grünen Wählergemeinschaft Oer-Erkenschwick, baut einen „3. Welt“- Laden auf und bezahlt die 400 DM Miete aus seiner Tasche.

Er engagiert sich in der Friedensbewegung, wendet sich in einer Predigt zum Thema „Frieden bei Franziskus und heute“ und in einem Leserbrief gegen die sogenannte Nachrüstung, moderiert eine Podiumsdiskussion zum Thema „Atomwaffenfreie Zone Oer-Erkenschwick“ und betreut als Seelsorger vor allem Jugendliche, Senioren und Frauen.

Sein Eintritt in die Grüne Wählergemeinschaft löst eine Auseinandersetzung aus, die seine Pfarrgemeinde, die Kirchenbehörde und den Bischof von Münster, die örtliche Presse und natürlich auch ihn ein Jahr lang beschäftigt.

Er gibt eine öffentliche Erklärung ab, in der er zu seiner Parteinahme für die Grüne Wählergemeinschaft Stellung nimmt.

Er nennt vier Gründe:

  1. „Einsatz für die soziale Not der ´3. Welt´ erfordert nicht nur karikative Tätigkeit, sondern auch politische Arbeit, da die Verursacher der Not (Banken, internationale Konzerne) auch in Deutschland anzutreffen sind.“
  2. „Friedensarbeit: Es ist meine Überzeugung, daß wir in Christus Frieden finden, aber diese Überzeugung hat auch Konsequenzen. Wenn das Überleben der Menschheit in Frage gestellt ist durch die augenblickliche Hochrüstung, wenn Millionen verhungern, weil das notwendige Geld anstatt in Entwicklungsprogramme in Rüstungsausgaben geht, darf ich als Priester nicht neutral bleiben.“
  3. „Ökologie: Wenn unsere Umwelt stirbt, kann ich es nicht mit bloßen Appellen bewenden lassen. Gott hat die Welt geschaffen, nicht damit wir sie zerstören und damit der Generation nach uns die Lebensmöglichkeiten nehmen.“   
  4. „Frauenbewegung: Gewalt gegen Frauen, ungleiche Ausbildung und Bezahlung, ungerechte Renten, anstehender Militärdienst der Frauen, ungenügender Mutterschutz; die doppelte Unterdrückung der Frauen in der ´3. Welt´ – all das erfordert politische Arbeit.

Dies sind auch die Ziele der Wählergemeinschaft der Grünen Oer-Erkenschwick.“

Er erhält anonyme Anrufe, z. B.: „Wir brauchen einen Kaplan und keine grüne Tomate.“ Drohungen, Briefe. Die Leiterin der Seniorengruppe schreibt unter anderem: „Es ist mir mich unvorstellbar, daß sich ein Priester so erniedrigt… Ich kenne viele Mütter, die sehr traurig darüber sind, weil ihre Kinder sich auch in diesem grünen Milieu bewegen.“

Die Erkenschwicker Zeitungen veröffentlichen Leserbriefe und Erklärungen des Pfarrgemeinderats gegen den „grünen Kaplan – oder wie es heißt – „grünen Wolf im Schafspelz“.   

Und ein Mitglied des Pfarrgemeinderats erklärt: „Eine Mitgliedschaft (des Kaplans) in der Union hätte keinen so großen Wirbel ausgelöst…“

Im Februar 1983 erklären sich sechs katholische Pfarrer und Kapläne aus den Nachbargemeinden öffentlich mit ihm solidarisch.

Weitere Leserbriefe, in denen für den Kaplan Stellung genommen wird, erscheinen.

Im Juni, bei einem Gespräch mit zwei Leuten aus der Kirchenleitung, zitiert einer von ihnen aus einem Heft „Die chaotische Welt der Grünen“, herausgegeben von einem evangelischen Pastor, den Ausspruch der Alternativen Liste Berlin: „Wir sind gegen die Ehe“ und behauptet, die Grüne Wählergemeinschaft Oer-Erkenschwick sei gegen die Ehe eingestellt.

Ihm wird eine Versetzung angedroht. Er bittet den Bischof, halbtags seelsorgerisch in der Gemeinde, halbtags körperlich arbeiten zu dürfen, weil ihm „die Notwendigkeit, sich auf Dauer in der Arbeitswelt (und in der Welt der Arbeitslosen) zu engagieren, deutlicher“ wird.

Er will als Priester seinen Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit verdienen und nicht von der Kirchensteuer leben, deren Abschaffung er fordert.

Er will nicht im Pfarrhaus wohnen, weil dies ein Privileg ist, das einem Priester nicht zusteht, sondern in einem Wohngebiet einfacher Menschen und so wie sie.

Im November 83 wird er vom Bischof von seinen Aufgaben als Kaplan der Pfarrgemeinde St. Josef „befreit“. Dazu der Pfarrgemeinderat in einer öffentlichen Erklärung: „Wir respektieren den Entschluß unseres Kaplans, wenn er den Wunsch hat, sich nach einem neuen Betätigungsfeld umzusehen. Und der Bischof weigert sich, die Gründe für die Amtsenthebung des Kaplans öffentlich zu nennen. Schließlich stimmt der Kaplan dem Vorschlag des Bischofs zu, für mein Jahr, also für eine begrenzte Zeit, als Pfleger in einem Bildungs- und Pflegeheim für Schwerbehinderte zu arbeiten, um danach halbtags Gemeindearbeit und halbtags körperliche Arbeit zu verrichten.

Bei einem Vorstellungsgespräch in diesem Heim wird ihm erklärt, er werde für mehrere Jahre acht Stunden lang als Pfleger eingesetzt, er wolle ja Arbeiterpriester werden. Und: „Wenn die Mitarbeiter den Eindruck haben, hier sollte ihnen eine verkrachte Existenz zwischengeschoben werden, würde er bei denen kein Bein auf die Erde bekommen.“

Im Januar 84 erfolgt die Versetzung in das Bildungs- und Pflegeheim in Gescher. Er wird vom Bischof zum „Mitarbeiter“ ernannt, im Vertrauen des Bischofs darauf, daß er sein „Amt als ´guter und treuer Knecht` (Mt. 25, 21 ff.)  zur Ehre Gottes und zum Heil der Menschen versehen“ wird.

Er weigert sich, diese Stelle anzutreten, weil er sich betrogen sieht.

Er wird für drei Jahre beurlaubt und ist seit vorgestern nach einem befristeten Arbeitsvertrag in den Opelwerken Bochum wieder arbeits- und mittellos.

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Offener Brief an den Bischof von Münster

Herrn Dr. Lettmann

Domplatz 27

4400 Münster

Sehr geehrter Herr Bischof Lettmann!

Wir – die Delegierten der GRÜNEN aus NRW, darunter viele katholischen Glaubens, die z. Zt. hier in Marl versammelt sind, sind bestürzt über die von ihnen verfügte Amtsenthebung und Strafversetzung des Kaplans Heinrich K n e c h t e n aus Oer-Erkenschwick.

Dieser junge Kaplan, übrigens kein Mitglied unserer Partei, hat sich in vorbildlicher Weise um soziale und ökologische Probleme gekümmert.

Er hat Partei ergriffen für die Armen und Schwachen. Er hat vielen, vor allem jungen Menschen geholfen, wieder Mut zu fassen. Er hat sich für den Frieden eingesetzt und damit gegen die menschen- und völkerverachtende Politik der atomaren Abschreckung, gegen die Zerstörung der Natur durch militärische und industrielle Gewalt, gegen die Ausplünderung der Rohstoffländer und der Völker der „Dritten Welt“ durch die Industrienationen und gegen Engstirnigkeit und Apathie in unserer Gesellschaft.

Er hat seinen Wehrpaß zerschnitten und mit einem Begleitschreiben je zur Hälfte an das Bundesverteidigungsministerium und an das Kreiswehrersatzamt Recklinghausen geschickt.

Er hat sich so verhalten, wie es auch Nichtchristen von einem Menschen, der das Leben des Jesus von Nazareth nachzuleben versucht, erwarten. Er hat, wie dieser Unruhe in seine Gemeinde gebracht. Er hat, wie dieser, Menschen schockiert und erschüttert. Er hat aufgerüttelt.

Die Folge war, daß führende und einflußreiche Mitglieder der Pfarrgemeinde St. Joseph, in der Mehrzahl Mitglieder der CDU und sogar Ratsherren der CDU-Fraktion, gegen Kaplan Heinrich Knechten agitiert und seine Kaltstellung betrieben haben. Die Folge waren Unterstellungen, Beschimpfungen, Drohungen und Behinderungen seiner Arbeit, aber auch solidarische Interventionen durch zahlreiche Mitglieder seiner Pfarrgemeinde und Pfarrer aus Nachbargemeinden.

Die Mitgliedschaft eines katholischen Geistlichen in einer Grünen Wählergemeinschaft und seine Kandidatur für den Stadtrat kann kein Grund zur Amtsenthebung und Strafversetzung sein; denn es gibt viele katholische Priester, die Mitglied, Mandatsträger und Funktionäre der CDU und der CSU sind.

Wir bestreiten der Kirche das Recht, Menschen zu verknechten, auch wenn sie Knechten heißen.

Wir erwarten, daß Sie bei künftigen Konflikten dieser Art Entscheidungen treffen, die die im Grundgesetz verankerten Rechte aller Bundesbürger nicht einschränken.

Mit freundlichen Grüßen

Die Landesversammlung der GRÜNEN NRW.

Gez. Dietrich Stahlbaum, Kreissprecher

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Dr. Heinrich Michael Knechten (71) ist seit 1991 Pfarrer der russisch-orthodoxen Gemeinde der heiligen Boris und Gleb in Datteln-Horneburg dst.