„biodeutsch“

Der Begriff „biodeutsch“ ist rassistisch und nicht nur deshalb abwegig. Denn auch wir „Biodeutschen“ wissen nicht, ob Vorfahren von uns eben keine „Biodeutschen“ waren, die im Zuge der Völkerwanderungen oder als Söldner fremder Heere, als Handelsreisende oder Flüchtlinge nach Germany gekommen und hier ansässig geworden sind.

Uri Avnery: Tag der Schande

Uri Avnery und Arafat
Uri Avnery trifft Jassir Arafat – Foto Uri Avnery 1982

AM BLUTIGEN MONTAG dieser Woche, als die Anzahl der getöteten und verwundeten Palästinenser von einer Stunde zur anderen stieg, habe ich mich gefragt: Was hätte ich getan, wenn ich ein 15-jähriger Junge im Gazastreifen gewesen wäre?

Ohne zu zögern, gab ich mir die Antwort: Ich hätte mich nahe an den Grenzzaun gestellt und demonstriert und damit jeden Augenblick Leib und Leben riskiert.

Wie kommt es, dass ich mir da so sicher bin?

Ganz einfach: Genau das habe ich getan, als ich 15 war.

Ich war Mitglied der Nationalen Militär-Organisation (der “Irgun”), einer bewaffneten Untergrundgruppe, die von den Briten als „terroristisch“ eingestuft wurde.

Damals war Palästina von den Briten besetzt (das wurde „Mandat“ genannt). Im Mai 1939 erließen die Briten ein Gesetz, das die Rechte von Juden, Land zu erwerben, einschränkte. Ich bekam Befehl, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort in der Nähe des Strandes von Tel Aviv zu sein, um an einer Demonstration teilzunehmen. Ich musste das Trompetensignal abwarten.

Die Trompete erschallte und wir begannen den Marsch die Allenby-Straße runter, die damals Tel Avivs Hauptverkehrsstraße war. Nahe der Großen Synagoge erstieg jemand die Treppe und hielt eine leidenschaftliche Rede. Dann marschierten wir weiter bis zum Ende der Straße, wo die Büros der britischen Verwaltung lagen. Dort sangen wir die Nationalhymne HaTikwa, während einige erwachsene Mitglieder die Büros in Brand setzten.

Plötzlich kamen einige Lastwagen voller britischer Soldaten und hielten an. Eine Salve ertönte. Die Briten schossen über unsere Köpfe hinweg und wir rannten.

Wenn ich jetzt, 79 Jahre danach, daran denke, geht mir durch den Kopf, dass die Jungen von Gaza größere Helden sind, als wir damals waren. Sie sind nicht weggelaufen. Sie hielten stundenlang stand, während die Anzahl der Toten auf 61 und die Anzahl der durch scharfe Munition Verwundeten auf etwa 1500 anstieg. Dazu kamen noch die 1000, die vom Tränengas beeinträchtigt waren.

 AN DIESEM Tag teilten die meisten Fernsehsender in Israel und in anderen Ländern ihren Bildschirm in zwei Teile. Auf der rechten Seite sah man die Ereignisse in Gaza. Auf der linken die Eröffnungsfeier der US-Botschaft in Jerusalem.

Im 136. Jahr des zionistisch-palästinensischen Krieges entspricht der geteilte Bildschirm der Realität: die Feier in Jerusalem und das Blutbad in Gaza. Das geschieht nicht auf zwei verschiedenen Planeten und nicht auf zwei verschiedenen Kontinenten, sondern kaum ein Stunde Autofahrt voneinander entfernt.

Die Feier in Jerusalem begann als unsinnige Veranstaltung. Ein paar Männer in Anzügen und voll aufgeblasener Selbstgefälligkeit, die etwas feiern – was eigentlich? Den symbolischen Umzug eines Büros von einer Stadt in eine andere.

Jerusalem ist der wichtigste Zankapfel. Alle wissen, dass es keinen Frieden geben wird, nicht jetzt und niemals, wenn für die Stadt kein Kompromiss gefunden wird. Für alle Palästinenser, alle Araber, alle Muslime in der Welt ist es undenkbar, Jerusalem aufzugeben. Nach muslimischer Tradition ist von dort der Prophet Muhammad in den Himmel aufgefahren, nachdem er sein Ross an den Felsen gebunden hatte, der jetzt der Mittelpunkt des heiligen Ortes ist. Nach Mekka und Medina ist Jerusalem die drittheiligste Stadt des Islam.

Für die Juden ist Jerusalem natürlich der Ort, an dem vor etwa 2000 Jahren der Tempel stand, den der grausame König Herodes hatte bauen lassen. Ein Übrigbleibsel der äußeren Mauer steht noch dort und wird als „Westmauer“ verehrt. Früher wurde die Mauer „Klagemauer“ genannt. Sie ist für Juden der heiligste Ort.

Staatsmänner haben die Quadratur des Kreises versucht, um eine Lösung zu finden. Das Komitee der Vereinten Nationen, das 1947 die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat anordnete – eine Lösung die von der jüdischen Führung begeistert gutgeheißen wurde –, schlug vor, Jerusalem von beiden Staaten zu trennen und es als getrennte Einheit innerhalb dessen zu konstituieren, was einmal eine Art Konföderation werden sollte.

Der Krieg von 1948 führte dazu, dass die Stadt geteilt wurde: Der östliche Teil wurde von der arabischen Seite (Königreich Jordanien) besetzt und die westliche Seite wurde zur Hauptstadt Israels. (Meine bescheidene Rolle war es, in der Schlacht um die Landstraße zu kämpfen.)

Niemand war mit der Teilung der Stadt zufrieden. Deshalb rieten meine Freunde und ich zu einer dritten Lösung. Diese wurde inzwischen zum Weltkonsens: die Stadt bleibt auf Gemeindeebene vereint und wird politisch geteilt: der westliche Teil wird zur Hauptstadt Israels und der östliche zur Hauptstadt des Staates Palästina. Der Führer der dort wohnenden Palästinenser Faisal al-Husseini befürwortete diese Lösung öffentlich. Er war ein Spross der vornehmsten Jerusalemer Familie und der Sohn eines Nationalhelden, der nicht weit von meiner Stellung entfernt in derselben Schlacht fiel, an der auch ich teilnahm. Jasser Arafat gab mir seine stillschweigende Zustimmung.

Wenn Präsident Donald Trump Westjerusalem zur Hauptstadt Israels erklärt und seine Botschaft dorthin verlegt hätte, hätte sich wohl niemand aufgeregt. Indem Trump den Wortteil „West“ wegließ, entzündete er ein Feuer. Vielleicht wusste er nicht, was er tat, oder wahrscheinlich war es ihm schnurzegal.

Für mich bedeutet der Umzug der US-Botschaft gar nichts. Er ist eine symbolische Handlung, die die Wirklichkeit nicht verändert. Falls und wenn der Frieden kommt, wird sich niemand um irgendeine dämliche Handlung eines dann schon halbvergessenen US-Präsidenten kümmern. Inschallah.

DA WAREN sie also, dieser Haufen unbedeutender Wichtigtuer: Israelis, Amerikaner und die dazwischen. Sie feierten ihr kleines Fest, während in Gaza Ströme von Blut flossen. Menschen wurden dutzendweise getötet und Tausende wurden verwundet.

Die Zeremonie begann als zynische Versammlung, wurde schon bald grotesk und endete unheilvoll. Nero spielte Geige, während Rom brannte.

Nachdem die letzte Umarmung stattgefunden hatte und das letzte Kompliment (besonders der eleganten Iwanka) gemacht worden war, blieb Gaza, was es war: ein riesiges Konzentrationslager mit einigen überfüllten Krankenhäusern und dem Mangel an Medizin, Nahrungsmitteln, Trinkwasser und Elektrizität.

Eine lächerliche weltweite Propaganda-Kampagne wurde entfesselt, die der weltweiten Verurteilung entgegenwirken sollte. Ein Beispiel: die Geschichte, dass die terroristische Hamas die Bewohner Gazas zum Demonstrieren gezwungen hätte – als ob irgendjemand dazu gezwungen werden könnte, sein Leben bei einer Demonstration aufs Spiel zu setzen.

Oder: die Geschichte, dass Hamas jedem Demonstranten 50 Dollar gezählt hätte. Würden Sie Ihr Leben für 50 Dollar aufs Spiel setzen? Würde das irgendjemand tun?

Oder: Die Soldaten hatten keine Wahl, sie mussten sie töten, weil sie den Grenzzaun stürmten. Tatsächlich tat das niemand – die riesige Ansammlung israelischer Armee-Brigaden hätte das, falls es sich angebahnt hätte, leicht, auch ohne zu schießen, verhindern können. Tatsächlich gibt es kein einziges Foto, das zeigen würde, dass die Menge versucht hätte, den Zaun zu stürmen.

Fast vergessen war eine kleine Nachricht aus den vorangegangenen Tagen: Hamas hatte diskret eine Hudna für zehn Jahre angeboten. Eine Hudna ist ein heiliger Waffenstillstand, der nie gebrochen werden darf. Die Kreuzfahrer, unsere fernen Vorgänger, schlossen während ihres 200 Jahre dauernden Aufenthalts im Land viele Hudnas mit ihren arabischen Feinden.

Die israelischen Führer wiesen das Angebot unmittelbar zurück.

WARUM WURDE also den Soldaten befohlen zu töten? Es ist dieselbe Logik, die in der gesamten Geschichte zahllose Besatzungsmächte angetrieben hat: die „Eingeborenen“ so sehr in Schrecken versetzen, dass sie aufgeben. Leider ergab sich daraus fast immer genau das Gegenteil: Die Unterdrückten wurden härter und entschlossener. Genau das geschieht jetzt.

Der blutige Montag wird später vielleicht einmal als der Tag angesehen, an dem die Palästinenser ihren Nationalstolz und ihren Willen, sich zu erheben und für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, zurückerobert haben.

Seltsamerweise wurden am folgenden Tag – dem Haupttag des geplanten Protests, dem Naqba-Tag – nur zwei Demonstranten getötet. Israelische Diplomaten im Ausland hatten wahrscheinlich angesichts der weltweiten Empörung SOS-Botschaften nach Hause geschickt. Offenbar hatte die israelische Armee ihre Befehle geändert. Es wurden nur nicht tödliche Mittel eingesetzt und die genügten.

MEIN GEWISSEN erlaubt mir nicht, diesen Artikel ohne Selbstkritik abzuschließen.

Ich hätte erwartet, dass, noch während das Schießen andauerte, alle bekannten Schriftsteller Israels gemeinsam eine heftige Verurteilung veröffentlich hätten. Das ist nicht geschehen.

Das Verhalten der politischen „Opposition“ ist verachtungswürdig. Kein Wort kam von der Arbeitspartei. Kein Wort von Ja’ir Lapid. Die neue Führerin der Merez-Partei Esther Sandberg hat wenigstens die Feier in Jerusalem boykottiert. Die Arbeitspartei und Lapid taten nicht einmal das.

Ich hätte erwartet, dass die Dutzende unserer tapferen Friedensorganisationen sich zu einer dramatischen Verurteilung vereint hätten, einer Verurteilung, die die Welt wachgerüttelt hätte. Auch das ist nicht geschehen. Vielleicht waren sie starr vor Schreck.

Am folgenden Tag demonstrierten die ausgezeichneten Jungen und Mädchen der Friedensgruppen gegenüber dem Büro des Likud in Tel Aviv. Etwa 500 nahmen an der Demonstration teil. Weit, weit weniger als die Hunderttausende, die vor einigen Jahren gegen den Preis von Quark demonstriert hatten.

Kurz gesagt: Wir haben unsere Pflicht nicht getan. Ich klage mich selbst ebenso an wie alle anderen.

Wir müssen uns sofort auf die nächste Gräueltat vorbereiten. Wir müssen uns jetzt organisieren!

ABER WAS allem die Krone aufsetzte, war die riesige Maschinerie, die zur Gehirnwäsche angekurbelt wurde. Seit Jahren habe ich nichts Derartiges erlebt.

Fast alle sogenannten „Militärkorrespondenten“ verhielten sich wie Armee-Propagandisten. Tag für Tag unterstützen sie die Armee damit, dass sie wie diese Lügen und Verzerrungen verbreiteten. Der Öffentlichkeit blieb nichts anderes übrig, als das alles Wort für Wort zu glauben. Niemand sagte ihr etwas anderes.

Dasselbe trifft auf fast alle anderen Kommunikationsmittel, Moderatoren, Ansager und Korrespondenten zu. Sie wurden zu bereitwilligen Lügnern im Dienste der Regierung. Vielen von ihnen wurde das wahrscheinlich von ihren Chefs befohlen. Das ist wirklich kein ruhmreiches Kapitel.

Nach dem blutigen Tag, als sich die Armee der Verurteilung durch die Welt ausgesetzt sah und das Schießen einstellen musste (’’nur’’ zwei unbewaffnete Demonstranten wurden getötet), waren sich alle israelischen Medien darin einig, die Sache zum großen Sieg Israels zu erklären.

Israel musste die Grenzübertritte öffnen und Nahrungsmittel und Medizin nach Gaza schicken. Ägypten musste seinen Gaza-Grenzübertritt öffnen, um viele Hunderte Verwundeter zu Operationen und anderen Behandlungen aufzunehmen.

Der Tag der Schande ist vorüber. Bis zum nächsten Mal.

(Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler)

[Uri Avnery-Texte, 19. Mai 2018]

Uri Avnery: Diese Frau

Uri Avnery und Arafat
Uri Avnery trifft Jassir Arafat – Foto Uri Avnery 1982te

Ben-Gurion sagte über sie: „Das Einzige, was Golda kann, ist hassen!“

Mich hasste Golda Meir nicht. Das wäre eine Untertreibung. Sie verabscheute mich zutiefst: Die Art, wie ich spreche, die Art, wie ich mich kleide, die Art, wie ich aussehe. Einfach alles.

Einmal mitten in einer Rede in der Knesset (ich glaube, es ging darum, ob wir den Beatles erlauben sollten, in Israel aufzutreten) unterbrach ich mich und sagte: „Jetzt möchte ich der Abgeordneten Golda Meir antworten …“

„Aber die Abgeordnete Meir hat ja gar nichts gesagt!“, wandte der Vorsitzende ein.

„Ich antworte nicht auf einen Zwischenruf“, erklärte ich. „Ich antworte auf ihr Grimassieren!“

Und tatsächlich grimassierte Golda: Jeder ihrer Gesichtsmuskeln verkündete ihren Abscheu.

DIE DRITTE Folge von Rawiw Druckers interessanter Serie über die ersten Ministerpräsidenten Israels ist Golda gewidmet.

Levi Eschkol starb plötzlich im Februar 1969 an einem Herzinfarkt. Es gab viele beliebte Kandidaten für die Nachfolge, aber – wie schade! – keiner von ihnen war Mitglied der regierenden Arbeitspartei (Mapai). Deshalb wurde Golda Meir gewählt, die aus dem Nichts kam. Sie war damals nicht einmal Ministerin.

Dann geschah ein Wunder. Am Vorabend ihrer Machtübernahme war ihr Beliebtheitsgrad in den Meinungsumfragen noch fast bei Null gewesen. Über Nacht stieg er auf über 80%.

In den Jahren darauf war ihre Macht unbegrenzt. Dafür gibt es keine Erklärung. Sie persönlich hatte keine Machtgrundlage, keine politische Organisation stand hinter ihr. Sie beherrschte den Staat mit der bloßen Macht ihrer Persönlichkeit.

Ich erinnere mich lebhaft an die Szene: 1973 musste ein neuer Staatspräsident gewählt werden. Golda war entschlossen, ihren eigenen Kandidaten, den würdigen Universitätsprofessor Ephraim Katzir, wählen zu lassen. Auch der Gegenkandidat war eine würdige Person.

Zur selben Zeit war die Knesset im Begriff, ein neues Gesetz zu verabschieden, das die Methode betraf, nach der die Wahlergebnisse auf die tatsächliche Größe der Fraktionen zugeschnitten werden sollten. Wir nannten es „die Bader-Ofer-Verschwörung“. Es war so angelegt, dass die größten Fraktionen davon profitieren und die kleinsten – darunter meine – Schaden nehmen würden.

Es gelang mir, eine Koalition aller kleinen – linken, rechten, religiösen und säkularen – Parteien zu bilden. Gemeinsam hatten wir die Macht, darüber zu entscheiden, wer Präsident werden würde. Also stellten wir dem starken Mann der Arbeitspartei, dem Finanzminister Pinchas Sapir, ein Ultimatum: Nehmen Sie den Gesetzesentwurf zurück, dann stimmen wir für Katzir, im anderen Fall stimmen wir für den Gegenkandidaten.

Sapir zog sein legendäres kleines Notizbuch hervor, zählte die Zahlen zusammen und entschied, dass tatsächlich wir die Macht hätten. „Wartet hier“, sagte er zu uns. „Ich gehe zu Golda.“

Was dann kam, war verblüffend. Wir sahen, wie er Goldas Raum betrat. Nach zehn Minuten war es ein anderer Mann, der herauskam. Der allmächtige Sapir mit dem Spitznamen „der Direktor des Staates“ kam als Zwerg wieder heraus. Er vermied es, uns in die Augen zu schauen, und ging sofort zum Telefon. Er rief eine ultra-orthodox-religiöse Fraktion an, versprach ihr eine Bank und bekam die Stimmen ihrer Abgeordneten. Golda hatte zu ihm gesagt: „Ich werde nicht Uri Avnery die Entscheidung darüber überlassen, wer Präsident Israels wird!“

ABER DIES sind nur kleine Episoden im Vergleich zum größten Ereignis in ihrem Leben und dem Leben der Nation, dem Jom-Kippur-Krieg.

Im Sechstagekrieg 1967 unter Eschkol hatte Israel riesige Gebiete erobert, darunter besonders die Sinaihalbinsel. Unsere Armee hatte sich längs des Suez-Kanals festgesetzt.

Der neue ägyptische Präsident Anwar al-Sadat war entschlossen, die Sinaihalbinsel zurückzubekommen. Er streckte diskret seine Fühler aus und machte ein unglaubliches Angebot: Wenn sich die Israelis an ihre früheren Grenzen zurückziehen würden, würde Ägypten mit Israel Frieden schließen. Als das Golda berichtet wurde, wies sie das Angebot voller Verachtung zurück.

Wie gewöhnlich bringt Drucker lauter Tatsachen ans Licht, von denen viele bis jetzt unbekannt waren. Und doch bin ich wieder nicht sicher, ob er ein wirklich zutreffendes Bild von Golda zeichnet.

Golda wurde 1898 in der Ukraine geboren. Als sie sieben Jahre alt war, wanderte ihre Familie, nachdem ihre Angehörigen Zeugen – so sagt Golda – eines großen Pogroms geworden waren, in die USA ein. Sie wuchs als amerikanische Jüdin auf, heiratete und zog im Alter von 26 Jahren nach Palästina. Das junge Paar lebte in einem Kibbuz und Golda wurde in der Mapai-Partei aktiv.

Zwar war sie nie eine attraktive Frau gewesen, und doch hatte sie eine Menge Liebesbeziehungen mit älteren Partei-Führern. Ich erinnere mich an viele Gerüchte darüber zu jener Zeit und verstehe, warum Drucker diesen Beziehungen viel Zeit widmet. Ich allerdings finde sie ganz und gar uninteressant.

Die Grundtatsache ist, dass Golda von Anfang an die Araber abgrundtief verachtete. Ebenso wenig wie alle ihre Vorgänger (außer Mosche Scharett, wie schon gesagt) hatte sie jemals Kontakt mit Arabern. Sie kannte die arabische Kultur überhaupt nicht und verachtete die Araber von Herzensgrund.

Die Leichtigkeit, mit der die israelische Armee 1967 drei arabische Armeen besiegt hatte, vervielfachte diese Verachtung. Golda fiel es nicht im Traume ein, dem verachtenswerten arabischen Staat Ägypten die Sinaihalbinsel zurückzugeben. Schon gar nicht zu einer Zeit, in der Ägypten von Sadat geführt wurde, einem Mann, der sogar von seinem großen Vorgänger Gamal Abd-al-Nasser als Weichling angesehen wurde.

Wenn Golda irgendetwas von der arabischen Welt verstanden hätte, hätte sie gewusst, dass die Ägypter ein außerordentlich stolzes Volk sind. Selbst in ihrer heutigen Armut sind sie sich bewusst, dass sie die Erben einer 8000 Jahre alten Kultur sind. Auch der Kanal gehört zu den Dingen, auf die sie stolz sind. Der Gedanke, sie würden ihn jemals aufgeben, ist kindisch – ebenso wie der Gedanke, dass das palästinensische Volk jemals den arabischen Teil Jerusalems aufgeben würde.

Ein palästinensisches Volk? Golda spottete über diesen Begriff. „So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht!“, erklärte sie einmal in der Knesset, als ich das Thema zur Sprache brachte.

DIESE FRAU also führte Israel in einem seiner entscheidendsten Augenblicke.

Kurz vor Jom Kippur 1973 wurde der Chef des israelischen Geheimdienstes zu einem dringenden Treffen mit Israels wertvollstem Spion, dem ägyptischen Verräter und Schwiegersohn Nassers, nach London gerufen. Er kam eilig zurück und deckte auf, dass die ägyptische Armee Israel am Jom Kippur angreifen werde.

Auf Golda machte das keinen Eindruck. Die Ägypter? Was könnten die schon ausrichten? Sie rief ihre Generäle zusammen und eine lebhafte Diskussion fand statt. Sollten Reservisten der Armee einberufen werden? Und wenn ja, wie viele? 200.000, wie der Armee-Stabschef David Elasar vorschlug, oder nur 50.000, wie der Verteidigungsminister Mosche Dajan vorschlug? Golda wählte als typische Politikerin einen Kompromiss: 100.000 wurden einberufen.

Später wurde das zum springenden Punkt. „Warum wurden die Reservisten nicht einberufen?!“, donnerte der Oppositionsführer Menachem Begin immer wieder.

In Druckers Film wird Golda als hilflose alte Frau dargestellt, die von jungen und dynamischen Generälen umgeben ist. In Wahrheit war es ganz anders. Golda war bei den Beratungen die dominante und dominierende Persönlichkeit; wenn sie anwesend war, wurden die Generäle zu Kindern.

Als die verachteten Ägypter den Kanal überquerten und alle ruhmreichen israelischen Stützpunkte überrannten, war Israel verblüfft. Der wie immer inkompetente und doch vergötterte Mosche Dajan ging umher und prophezeite „die Zerstörung des Dritten Tempels“ (des Tempels, der auf die beiden Tempel im Altertum folgte). Glücklicherweise erwies sich David Elasar (mit Spitznamen Dado) als kompetent und schließlich gewann Israel die Oberhand.

Das Ende kam schnell. Eine Untersuchungskommission verurteilte Dado und entlastete Golda und Dajan, aber das Land war in Aufruhr: Golda und Dajan mussten gehen.

Sadat kam nach Israel, um Frieden zu schließen. Ein Treffen zwischen ihm und Golda wurde anberaumt. Golda bestand aus einem einzigen Lächeln, schüttelte ihm die Hand und nannte sich „die alte Dame“. Die im Krieg Gefallenen erhoben sich nicht aus ihren Gräbern.

Sind die gegenwärtigen Führer klüger als Golda? Achten sie die Araber mehr? Sind sie bereit, die besetzten Gebiete zurückzugeben?

Nein. Und nein. Und nein.

(Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler. In: Texte von Uri Avnery, 05.05.2018)

Das Kreuz als Waffe damals und heute

Friedrich Gehring: Das Kreuz war eine brutale Waffe der Unterdrücker

Zu: „Nun wendet sich das Kreuz gegen Söder“ , FR-Politik vom 30. April 2018

Sowohl Markus Söder als auch die meisten seiner Kritiker übersehen, dass das Kreuz kein urchristliches Symbol ist. Für das Christentum stand symbolisch ursprünglich der Fisch oder das Boot. Das Kreuz wird im Christentum erst populär einige Zeit nach der konstantinischen Wende, als das Christentum staatstragend geworden war im römischen Reich. Es ist tatsächlich zunächst als grausame Todesfolter mit öffentlicher Abschreckung eine Waffe bei der Unterdrückung von Widerstand gegen die kaiserliche Macht.

Historisch-kritisch betrachtet ist es tragisch und paradox, dass es der Opfertheologie gelungen ist, diese brutale Waffe als Heilstatt Gottes für alle Welt zu interpretieren. Die Folge war, dass im Abendland brutale Machtausübung hoffähig wurde ganz im Gegensatz zu dem, was der Religionsgründer Jesus von seinen Nachfolgern forderte (Mk 10,42-44). In einem solchen unchristlichen Abendland darf es nicht wundern, dass Söder dieses Kreuz wieder als Waffe einsetzt in Konkurrenz zur ebenso unchristlichen AfD.

Alle, die sich jetzt als Christen über Söder aufregen, wären gut beraten, zunächst Kritik am Kreuz als christliches Symbol zu üben und das Boot in Erinnerung zu bringen, in dem wir alle sitzen und das uns an weltweite christliche Solidarität gemahnt, nicht erst, wenn die Flüchtlinge an Bayerns Grenze stehen, sondern schon wenn eine unchristliche Politik Fluchtursachen schafft. Da geht es zunächst um die Waffenexporte und die Machtpolitik angeblich christlicher Länder, die Stellvertreterkriege schürt oder selbst andere Länder überfällt, destabilisiert und ausbeutet, aber genauso um eine aggressive Handels- und Wirtschaftspolitik dieser Länder, die tötet. Wenn die unchristliche westliche Welt die Balken aus dem eigenen Auge entfernt haben wird, mag sie sich um die Splitter in den Augen der muslimischen Länder kümmern (Mt 7, 1-5). Dann könnte Markus Söder Boote als christliche Symbole gegen muslimischen Terrorismus aufhängen lassen und sich mit den Muslimen verbünden, die an einen barmherzigen Allah glauben wollen.

Friedrich Gehring, Backnang

[Leserbrief in der Frankfurter Rundschau vom 4. Mai 2018]

Zwei Legionäre in einem „Freudenhaus“

Sétif, Algerien 1950. Die Sonne ist hinter dem Berg weggetaucht, und ein kühler Wind weht herüber, vermischt sich mit der Backofenwärme, ausgestrahlt von den Hauswänden, den Steinplatten des Bürgersteigs und der Asphaltstraße. Die Gleichzeitigkeit von heiß und kalt. Später werden wir in einem Araberdorf mit glühendem Gesicht vor offenem Feuer sitzen, während uns die Nachtkälte den Rücken heraufkriecht.

Wir [Reinhard und Miros] bezahlen unseren Kaffee und gehen ins Bordell. Ein altes, graues Gebäude, mehrgeschossig, in einer schmalen Seitenstraße. Eine große Holztür, gefertigt vor vielen Generationen, mit Klappfenster und Klopfer. Der Lack ist rissig, teilweise abgeplatzt, am Klopfer und am Türgriff abgenutzt.

Miros hat es wohl eiliger als ich und betätigt den Klopfer. Das Türfenster wird aufgeklappt. Es erscheint ein breites, ältliches Gesicht. Es ist maskenhaft geschminkt. Eine Araberin. Sie mustert uns wie ein Unteroffizier beim Abendappell. Das Fenster klappt  wieder zu. Jetzt wird die Tür geöffnet, und wir dürfen eintreten.

Vor uns ein langer, hoher Korridor mit kahlen, weißgekalkten Wänden und vielen Türen. An jeder Tür… Da werden wir von der alten Araberin, die auf einem Rohrstuhl an einem kleinen Tisch sitzt, mit einer Handbewegung auf einen Blechteller aufmerksam gemacht. Sie nennt einen Betrag, den ich vergessen habe. Wir blättern ein paar Scheine hin und wollen schnurstracks in den Korridor.

„Messieurs, ici!“ Ihre Hand weist auf die nächste Tür, die erste gleich hinter ihr. Diese öffnen wir und identifizieren, noch bevor wir eingetreten sind, den scharfen Geruch eines Desinfektionsmittels als denselben Stoff, mit dem wir die Latrinen gesäubert haben.

An einem Holztisch, roh gezimmert und blankgescheuert, steht ein Mensch in weißem Kittel und herrscht uns an: „Schwänze raus! Vorhaut, wenn vorhanden, hochziehen!“

Wir folgen diesem Befehl, ohne an eine andere Möglichkeit überhaupt zu denken; und der Mensch, ein Sanitäter unseres Regiments, betrachtet die beiden Penisse, nickt zustimmend, taucht einen Holzspachtel in einen großen, weißen Keramiktopf, schmiert uns eine Salbe auf den Zeigefinger und befiehlt: „Einreiben!“

Als dies geschehen, langt er in einen hohen Pappkarton voller Präservative und entläßt uns jeden mit einem dieser Gummi und den Worten: „So, jetzt könnt ihr feuern! Oder seid ihr katholisch?“ Sein Grinsen verrät uns, daß diese Frage nicht ernst gemeint ist.

Bei vollem Bewußtsein sind wir erst wieder auf dem Korridor, wo an jeder Tür eine Frau steht oder auf dem Boden hockt: Araberinnen, ein paar Europäerinnen, fast jeden Alters, Dunkelhäutige, Hellhäutige, alle sehr sparsam bekleidet, einige in schwarzen, andere in dunkelroten Dessous, dazwischen in weiße, durchsichtige Schleier Gehüllte, behängt mit Fuß- und Armreifen und silbernen Ketten um Stirn und Hals, daran münzenartige Plättchen, die bei jeder Bewegung klimpern.

Wir gehen an erwartungsvollen, einladenden Blicken vorbei und lassen uns schließlich von zwei Europäerinnen hineinziehen in ihre Kammer. Auch hier der uns bekannte Geruch, mit dem wir es zehn Tage lang zu tun hatten, oder nur die Erinnerung daran, und auf der Haut der beiden Frauen ein offenbar billiges Veilchenparfüm.

Die Lust ist uns vergangen, noch bevor wir uns ausgezogen haben. Dies wird uns, nachdem wir es erklärt haben, nicht übel genommen: „Das kommt hier öfters vor.“

Gemeinsam trinken wir eine Tasse arabischen Tee und erzählen uns unsere Geschichten, bis an die Kammertür geklopft und an die Zeit erinnert wird.

Die beiden Frauen, wie alle Europäerinnen in algerischen Bordellen natürlich „aus wohlhabenden Familien“, waren bei einem Afrikatrip hier gelandet und besaßen nichts mehr als ihre Haut. Nun sparen sie für ein anderes und besseres Leben, das wohl ein Traum bleiben wird; es sei denn, ein alter, ausgedienter Legionär holt sie hier heraus und tut sich mit ihnen zusammen.

[Aus: Der Ritt auf dem Ochsen oder auch Moskitos töten wir nicht, Aachen 2000 und eBook 2012]