Lorenz Gösta Beutin*, DIE LINKE, im Bundestag: „..ohne dass nur eine Glühbirne im Lande flackert!“

Der Ausstieg aus Kohle, aus Öl, aus Gas ist machbar ohne Wohlstandsverlust, Stromausfälle oder Deindustrialisierung. Wirtschaftsministerium und Bundesnetzagentur haben vorgerechnet, dass mindestens 7 Gigawatt Kohlekraft vom Netz gehen können. Sofort, ohne dass nur eine Glühbirne im Lande flackert. Die neue Wirklichkeit ist längst nicht mehr so, wie es die Querfront der Klimaschutzverweigerer von AfD, FDP, Union und Groko-SPD immer wieder an die Wand malt.

[Fraktion DIE LINKE. im Bundestag , 21.11.2017]

*Es ist die erste Rede des am 24. September 2017 in den Bundestag gewählten Landessprechers der Linken in Schleswig Holstein.

 

Wilhelm Neurohr: „GESCHEITERTER ANGRIFF AUF DIE VERFASSUNG“

Leserbrief an das Medienhaus Bauer zum Verfassungsgerichtsurteil über die Sperrklausel in NRW:

 „GESCHEITERTER ANGRIFF AUF DIE VERFASSUNG“

Das Landesverfassungsgericht Münster hat dem seltsamen Demokratieverständnis der etablierten Parlamentsparteien im NRW-Landtag glücklicherweise einen Riegel vorgeschoben. Denn das unlautere Ansinnen, ihre Pfründe und Privilegien sowie gewohnten Machtmonopole mit der Einführung einer Sperrklausel von 2,5%  für die örtlichen Gemeinderäte und Kreistage dauerhaft zu sichern, erwies sich als eindeutig verfassungswidrig. Ursprünglich erwogen sie sogar eine 3%-Klausel.

Initiator dieses gescheiterten verfassungswidrigen Ansinnens war ausgerechnet die inzwischen abgestrafte und offenbar nicht lernfähige SPD. Sie hatte zuvor – mit Hilfe eines  fragwürdigen „Gefälligkeits-Gutachtens“ und einer suggestiven Bürgermeister-Umfrage –  auch die CDU, die FDP und die Grünen im Landtag für ihren Angriff auf die Verfassung und das dort verankerte Prinzip der Stimmengleichheit im Wahlrecht gewonnen. Von  angeblicher „Unregierbarkeit der Kommunen“ oder „Weimarer Verhältnissen“ in den Stadträten war sogar dramatisierend die Rede statt von demokratischer Bereicherung und Belebung.

Einerseits das Wehklagen über die sinkende Wahlbeteiligung oder die „zweitgrößte Partei der Nichtwähler“, anderseits die als Argument vorgeschobene Beschwerde über die vielen demokratisch engagierten Bürgerinnen und Bürger in den zahlreichen lokalen Wählergruppen und in den kleineren Parteien, die sich durch die großen Parteien nicht mehr repräsentiert fühlen. Die Behauptung, diese würden die Funktionstüchtigkeit der oft erstarrten Gemeinderäte und Kreistage behindern, weil sie die demokratischen Meinungsbildungsprozesse „zeitaufwendig in ermüdenden Debatten“ erschweren, hat das Verfassungsgericht zurückgewiesen.

Am besten schaffen wir die anstrengende Demokratie gleich ganz ab? Sollten wir nicht froh sein, wenn in den Kommunalparlamenten überhaupt noch debattiert wird, statt nur Tagesordnungspunkte durchzuwinken? Wo steht geschrieben, dass es bei demokratischen Entscheidungsprozessen auf möglichst bequemes, reibungsloses und schnelles „Durchregieren“ der jeweiligen Mehrheitspartei oder -koalition ankommt – am besten mit den üblichen vorherigen Hinterzimmer-Absprachen unter Ausschluss oppositioneller Grüppchen?

Die Sperrklausel hätte in NRW über 1 Mio. Wählerstimmen unter den Tisch fallen lassen, die sich von den etablierten „großen Volksparteien“ nicht mehr vertreten fühlen. Sie haben auf der Suche nach demokratischen Alternativen bei der letzten Kommunalwahl 2014 den insgesamt 543 lokalen Wählergruppen stattdessen ihre Stimmen gegeben oder den 23 angetretenen kleinen Parteien oder sind als Einzelbewerber selber angetreten. Geringschätzig von „Splitterparteien“ zu reden, sollte sich die SPD hüten, weil es sie bald selber treffen könnte, wenn sie so weiter macht.

Die Rechtspopulisten hätte man übrigens mit der Sperrklausel auch nicht fernhalten könne, weil diese landesweit leider die 2,5 % spielend überspringen. Aber offenbar hatte die SPD in NRW die irrige Hoffnung, dass nach Einführung der Sperrklausel die abtrünnigen Wähler mangels Alternativen dann wieder reumütig als Stimmvieh zu ihr zurückkehren – in Wirklichkeit wäre das aber ein Beitrag zur weiter sinkenden Wahlbeteiligung. Mit Sperrklauseln gegen eine Mitmach-Demokratie vor Ort kann meine keine engagierten Wählerinnen und Wähler überzeugen und auch keine Verbündeten in den Kommunalparlamenten gewinnen.

Wilhelm Neurohr

Uri Avnery: Eine Geschichte der Idiotie

ICH BIN wütend. Und ich habe gute Gründe, wütend zu sein.

 Ich war im Begriff, einen Artikel über ein Thema zu schreiben, über das ich seit langer Zeit nachgedacht habe.

 In dieser Woche öffnete ich die New York Times und siehe da, mein noch ungeschriebener Artikel erscheint auf ihrer Meinungsseite im Ganzen, ein Argument nach dem anderen.

 Wie kommt es dazu? Ich habe nur eine Erklärung: der Autor – ich habe den Namen vergessen – hat die Ideen mit einem magisches Mittel, das gewiss als kriminell bezeichnet werden muss, aus meinem Kopf gestohlen. Eine Person versuchte, einmal, mich deswegen umzubringen.

 Doch habe ich mich trotz allem entschieden, diesen Artikel zu schreiben.

DAS THEMA ist Idiotie. Speziell die Rolle der Idiotie in der Geschichte.

Je älter ich werde, umso überzeugter werde ich, dass reine Idiotie eine größere Rolle in der Geschichte der Nationen spielt.

Große Denker, verglichen mit denen ich nur ein intellektueller Zwerg bin, haben andere Faktoren verfolgt, um zu erklären, wie die Geschichte in ein Schlamassel verwandelt wurde. Karl Marx klagte die Wirtschaft an. Die Wirtschaft hat die Menschheit von Anfang an begleitet.

Andere klagen Gott an. Die Religion hat schreckliche Kriege verursacht und tut es noch immer. Schauen wir uns die Kreuzzüge an, die fast zweihundert Jahre in meinem Land gewütet haben. Schauen wir auf den 30jährigen Krieg, der Deutschland verwüstet hat. Kein Ende in Sicht.

Einige klagen die Rasse an. Weiße gegen die Indianer. Arier gegen Untermenschen. Nazis gegen Juden. Schrecklich.

Oder Geopolitik. Die Bürde des Weißen Mannes. Der Drang nach Osten.

Seit vielen Generationen haben große Denker nach einer tiefsinnigen Erklärung gesucht, der den Krieg verursacht. Es muss solch eine Erklärung geben. Schließlich können schreckliche Ereignisse sich nicht nur ereignen. Da muss es etwas Unerklärliches geben, etwas Unheimliches, das all dieses unerhörte Elend verursacht. Etwas, das die menschliche Rasse von Anfang an begleitet und das unser Schicksal leitet.

ICH HABE die meisten dieser Theorien meiner Zeit akzeptiert. Viele von ihnen beeindruckten mich sehr. Große Denker. Tiefsinnige Gedanken. Ich las viele dicke Bände. Aber am Ende ließen sie mich unbefriedigt.

Am Ende hat es mich getroffen. Es gibt tatsächlich eine allgemeine Kraft, die all diese historischen Ereignisse verursacht hat: die Idiotie, die Torheit.

Ich weiß, dass dies unglaubwürdig klingt. Idiotie? All diese Tausenden von Kriege? All diese Hunderte von Millionen von Opfern? All diese Tausenden Herrscher, Könige, Staatsmänner, Strategen? Alle Toren?

Vor kurzem wurde ich um ein Beispiel gebeten. „Zeige mir, wie das funktioniert,“ fragte ein ungläubiger Zuhörer.

Ich erwähnte den Ausbruch des ersten Weltkrieges, ein Ereignis, das das Gesicht Europas und der Welt für immer veränderte und der nur fünf Jahre, bevor ich geboren wurde, endete. Meine früheste Kindheit wurde im Schatten der Katastrophe verbracht.

Es geschah folgendermaßen:

Ein österreichischer Erzherzog wurde in der Stadt Sarajewo von einem serbischen Anarchisten getötet. Es geschah fast durch Zufall. Der geplante Versuch scheiterte, aber der Terrorist stieß zufällig später noch einmal auf den Herzog und tötete ihn.

Und nun? Der Herzog war eine ganz unbedeutende Person. Tausende solchef Aktionen haben sich vorher und danach ereignet. Aber dieses Mal dachten österreichische Staatsmänner, dass dies eine gute Gelegenheit wäre, den Serben eine Lektion zu lehren. Sie nahm die Form eines Ultimatums an.

Keine große Sache. So etwas geschieht immer wieder. Aber das mächtige russische Reich war mit Serbien verbündet, deshalb hat der Zar eine Warnung erlassen: er befahl, die Mobilisierung seiner Armee, nur um seine Ansicht durchzusetzen.

In Deutschland gingen alle roten Lichter an. Deutschland liegt in der Mitte Europas und hat keine unüberwindlichen Grenzen, keine Meere, kein hohes Gebirge. Es war umgeben von zwei großen Militärmächten, Russland und Frankreich. Jahrelang hatten deutsche Generäle darüber nachgedacht, wie das Vaterland gerettet werden kann, wenn es von beiden Seiten gleichzeitig angegriffen wird.

Ein Meisterplan entwickelte sich. Russland war ein riesiges Land, und es würde mehrere Wochen dauern, bis die russische Armee mobilisiert war. Diese Wochen müssen ausgenützt werden, um Frankreich zu zerschlagen, die Armee umzudrehen und die Russen anzuhalten.

Es war ein brillanter Plan, der bis ins kleinste Detail von brillanten militärischen Planern ausgearbeitet war. Aber die deutsche Armee wurde vor den Toren von Paris angehalten. Die Briten intervenierten und halfen Frankreich. Die Folge war ein Krieg von vier Jahren, in denen sich wirklich nichts bewegte, außer dass Abermillionen menschlicher Wesen hingeschlachtet oder zum Krüppel gemacht wurden.

Am Ende wurde ein Frieden geschlossen, ein Frieden, der so dumm war, dass er einen zweiten Weltkrieg unvermeidbar machte. Dieser brach kaum 21 Jahre später aus mit einer viel größeren Anzahl von Todesfällen/ Gefallenen.

VIELE BÜCHER sind über den „Juli 1914“ geschrieben worden, den entscheidendsten Monat, in dem der 1. Weltkrieg unvermeidbar wurde.

Wie viele Leute waren in die Entscheidungsfindung in Europa involviert? Wie viele Herrscher, Könige, Minister, Parlamentarier. Generäle – ganz abgesehen von Akademikern, Journalisten, Schriftstellern und anderen?

Waren sie alle dumm? Waren sie alle blind gegenüber dem, was sich in ihrem Lande und auf ihrem Kontinent zutrug?

Unmöglich, man ist versucht, aufzuschreien. Viele von ihnen waren äußerst kompetente, intelligente Leute, Leute, die die Geschichte kannten. Sie wussten alles über die früheren Kriege, die während Jahrhunderten in Europa gewütet haben.

Aber all diese Leute spielten ihre Rolle, den schrecklichsten Krieg in den Annalen der Geschichte zu verursachen. Ein Akt reinster Idiotie-

Der menschliche Verstand kann solch eine Wahrheit nicht akzeptieren. Da muss es andere Gründe geben. Tiefsinnige Gründe. Sie schrieben unzählige Bücher, um zu erklären, warum dies logisch war, warum es geschehen war, welches die „hintergründigen“ Ursachen waren.

Die meisten dieser Theorien sind sicherlich plausibel. Aber verglichen mit den Auswirkungen, sind sie kümmerlich. Millionen Menschen marschierten hinaus, um geschlachtet zu werden, singend und fast tanzend vertrauten sie ihrem Herrscher, König, Präsident, Oberkommandeur. Und kehrten nie zurück.

Konnten all diese Führer Idioten sein? Sicherlich konnten sie und sie waren es.

ICH BRAUCHE nicht die Beispiele von tausenden ausländischer Kriege und Konflikte zu nennen, weil ich mitten in solch einem gerade jetzt lebe.

Es ist egal, wie er zustande kam. Die gegenwärtige Situation ist die, dass in dem Land, das gewöhnlich Palästina genannt wird, zwei Völker von verschiedenen Ursprüngen, Kulturen, Geschichte, Religion, Sprachen, Lebensstandard u.a. m. leben. Sie sind jetzt von mehr oder weniger gleichem Umfang.

Zwischen diesen beiden Völkern hat sich seit mehr als einem Jahrhundert ein Konflikt abgespielt.

Theoretisch gibt es nur zwei vernünftige Lösungen: entweder sollen die beiden Völker zusammen als gleiche Bürger in einem Staat leben oder sie sollen Seite an Seite in zwei Staaten leben.

Die dritte Möglichkeit ist keine Lösung – ein ewiger Konflikt, ein ewiger Krieg.

Dies ist offensichtlich so einfach, sie zu leugnen, ist reine Idiotie.

In einem Staat zusammen zu leben, klingt logisch, ist es aber nicht. Es wäre ein Rezept für einen ständigen Konflikt und internen Krieg. Es bleibt also nur, was „Zwei-Staaten für zwei Völker“ genannt wird.

Als ich direkt nach dem 1948er-Krieg, in dem Israel gegründet wurde, darauf hinwies, war ich mehr oder weniger allein. Jetzt ist es ein weltweiter Konsens, überall – außer in Israel.

Gibt es eine Alternative? Es gibt keine. Man macht mit der gegenwärtigen Situation weiter: ein kolonialer Staat, in dem 7Millionen israelische Juden 7 Millionen palästinensische Araber unterdrücken. Die Logik sagt, dass dies eine Situation ist, die so auf Dauer nicht bestehen kann. Früher oder später wird sie zusammenbrechen.

Was sagen unsere Führer dazu? Nichts. Sie geben vor, sich dieser Wahrheit nicht bewusst zu sein.

An der Spitze der Pyramide haben wir einen Führer, der intelligent aussieht, der gut spricht, der kompetent erscheint. Tatsächlich ist Benjamin Netanjahu ein mittelmäßiger Politiker, ohne Vision, ohne Tiefe. Er gibt nicht einmal vor, dass er eine andere Lösung hat. Auch seine Kollegen und möglichen Erben haben keine Lösung.

Was ist das also? Es tut mir leid, dies zu sagen: es gibt dafür keine andere Definition als dass dies die Herrschaft der Idiotie ist.

Uri Avnery vertritt seit 1948 die Idee des israelisch-palästinensischen Friedens und die Koexistenz zweier Staaten: des Staates Israel und des Staates Palästina, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Uri Avnery schuf eine Weltsensation, als er mitten im Libanonkrieg (1982) die Front überquerte und sich als erster Israeli mit Jassir Arafat traf.

Uri Avnery und Arafat
Uri Avnery trifft Jassir Arafat – Foto Uri Avnery 1982

Er stellte schon 1974 die ersten geheimen Kontakte mit der PLO-Führung her. 1993 begründete er mit Freunden die israelische Friedensinitiative Gusch Schalom , erhielt 1997 den Aachener Friedenspreis , 2008 die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte und viele andere Auszeichnungen.

Der 1923 in Beckum geborene jüdische Politiker, Schriftsteller und Journalist war als Kind mit seinen Eltern aus dem Münsterland nach Israel ausgewandert und zehn Jahre lang Abgeordneter der Knesset.

[Uri Avnery-Texte, 18. November 2017., dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert]

Wilhelm Neurohr: „ES IST NOCHMAL GUT GEGANGEN“

Leserbrief an die Lokalredaktion der Recklinghäuser Zeitung:

 „ES IST NOCHMAL GUT GEGANGEN“

 Da wird rückblickend die Verwaltungsspitze im Recklinghäuser Rathaus vorige Tage  erleichtert aufgeatmet haben – und zwar mit Blick auf die Stadt Pforzheim und ein dort jetzt vom Landgericht Mannheim ergangenes Gerichtsurteil mit Bewährungsstrafen für die  ehemalige Oberbürgermeisterin und die Kämmerin. Denn auch die Stadt Recklinghausen hatte sich, ähnlich wie Pforzheim, eine Zeitlang unter dem damaligen Kämmerer Christoph Tesche zwecks angestrebter Haushaltsentlastung auf das derivate Finanzinstrument namens „Zins-swaps“ eingelassen – also auf riskante spekulative Zinswetten oder -geschäfte mit Banken für 20- 30% der städtischen Zinslast. Verkauft wurde das als „neues kommunales Schulden- und Zinsmanagement“.

Trotz aller Warnungen von Finanzexperten und dem Bund der Steuerzahler hatten  damals allein in NRW 289 Kommunen, darunter auch Recklinghausen, in ihrer Finanznot verzweifelt auf diese Spekulationsgeschäft als das „dicke Geschäft zur erhofften Zinseinsparung“ gesetzt. Die Stadt Recklinghausen hatte Glück und kassierte tatsächlich unter dem Strich 5,3 Mio. €, ähnlich wie 34 weitere Kommunen in NRW mit positiven Effekten.

Die Nachbarstadt Marl hingegen hatte einen Verlust von 4,7 Mio. € und etliche weitere Kommunen verloren teils zweistellige Millionensummen zu Lasten der Bürger und Steuerzahler. So auch die Stadt Hagen mit 40 Mio. €; hohe Verluste verbuchten auch die Kämmerer in Remscheid, Neuss, Ennepetal, Hückeswagen sowie im Kreis Euskirchen. Sie hatten Glück, dass nach einem Gerichtsurteil die Banken (Deutsche Bank und WestLB) wegen „unzureichender Risiko-Aufklärung“ wenigstens einen Teil der Verluste an die Kommunen zurückzahlen mussten.

Unser damaliger Stadtkämmerer Christoph Tesche hatte zuvor im überregionalen Fachverband der Kämmerer laut Protokoll für die umstrittenen „swaps-Derivate“ geworben, indem er die nach seiner Meinung relativ risikoarmen „normalen swaps“ dort den Kommunen empfahl. Einige Städte wie Pforzheim hatten sich jedoch auch auf die noch riskanteren  „Speed-Ladder-Swaps“ eingelassen und prompt hohe Verluste eingefahren. Wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und Pflichtverletzungen erhielten dafür jetzt die ehemalige Oberbürgermeisterin und die Kämmerin zweijährige Bewährungsstrafen. Ihnen drohen nun obendrein hohe Schadenersatzforderungen und der Verlust ihrer Beamtenpensionen. (Das konnte auch ihr Rechtsanwalt Wolfgang Kubicki, Träger der „Weißen Weste“ des Recklinghäuser Karneval-Vereins, nicht verhindern.)

Mangelndes Gespür für risikoreiche Geschäfte der Kommunen bewies unser damaliger Recklinghäuser Kämmerer Tesche auch seinerzeit bei den umstrittenen Leasing-Geschäften („Cross Border Leasing“) mit den städtischen Abwässerkanälen – gegen den heftigen Widerstand aus der Recklinghäuser Bürgerschaft. Er hatte Riesenglück, dass auch hier nach dem Straucheln der US-Versicherung AIG als Geschäftspartner unter dem Strich keine Verluste entstanden, anders als bei anderen Kommunen.

Bei „Glücksspielen“ mit öffentlichen Haushaltsmitteln kann man zwar als „Spielernatur“ auch mal Glück haben, aber seriöse Haushaltspolitik sieht meines Erachtens anders aus. Das Mannheimer Urteil sollte jedenfalls Warnung und Anlass sein, trotz Haushaltsnot in Recklinghausen in Zukunft die Finger von solcherart Spekulationsgeschäften zu lassen!

Wilhelm Neurohr

(Haltern am See, vorher 35 Jahre Recklinghäuser Bürger)

Lorenz Gösta Beutin: Deutschland vermasselt Weltklimagipfel

Lorenz Gösta Beutin

Zwei Wochen lang schaute die Welt auf die Klimakonferenz am Rhein. Die Bundesregierung hat die Chance für echten Klimaschutz verstreichen lassen. Nicht nur ein Image-Schaden, findet Lorenz Gösta Beutin, der für die Linksfraktion den UN-Gipfel begleitete.

Langsam dreht sich das bunte Karussell, das hinter dem Konferenzgelände der Klimakonferenz am Rheinufer für herbstlichen Jahrmarktflair sorgt.

Langsam dreht sich das bunte Karussell, das hinter dem Konferenzgelände der Klimakonferenz am Rheinufer für herbstlichen Jahrmarktflair sorgt.

Langsamer walzen sich auf dem Gelände des einstigen Bundestages die Verhandlungen über die Zukunft der internationalen Klimapolitik durch die November-Tage. Doch während die Welt eine immer rasantere Klima-Achterbahn fährt, regiert im Kanzleramt unbeirrt der tagespolitische Stillstand des Merkelschen Machterhalts durch. Im Hubschrauber vom Berliner Balkon der Sondierungsgespräche eingeflogen, machte die Gastgeberin auch auf internationalem Parkett eine schwächliche Figur.

Merkel war an ihre alte Wirkungsstätte als Kohls Umweltministerin zurückgekehrt. Von ihrem anschließendem Wortgeblubber vor den Staatenlenkern, das weder das Wort „Kohleausstieg“, „Ende des Verbrennungsmotors“ noch irgendeine zusätzliche, konkrete Klimaschutzmaßnahme enthielt, wurde einem schlechter als auf einem Segelboot bei Seegang.

Denn die Erde ist in einem üblen Zustand. Allgemeinplätze über den menschengemachten, vom Turbokapitalismus angefeuerten Klimawandel helfen längst nicht mehr weiter. Das Pariser Abkommen von 2015 hat ein sinnvolles, ein notwendiges Ziel: Die Erderwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit unter zwei Grad zu begrenzen. Für die Inselstaaten und Ländern mit viel Küste wurde sogar „wenn möglich“ ein 1,5-Grad-Limit vertraglich festgeschrieben. Bis Ende des Jahrtausends, wohlgemerkt. Muss das Ticket für Klimaschutz also erst später gelöst werden? Nein! Kurz vor der Konferenz rechneten UN-Experten alle gemachten Versprechen der Staaten, weniger Klimagase auszustoßen, zusammen. Das Ergebnis kennen auch Merkel&Koalitionäre: Ein Anstieg von mindestens drei Grad bis 2100 ist „sehr wahrscheinlich“. Eine Insel wie Fidschi, das Pazifik-Land hatte in Bonn turnusmäßig die Präsidentschaft inne und Deutschland mangels Kraft und Infrastruktur als Austragungsort angefragt, wäre dem Untergang geweiht, würde im Meer versinken.

Dass endlich gehandelt statt verhandelt werden muss, auch das ist der mächtigsten Physikerin der Welt klar. Für 2017 rechnen Forscher mit einem Anstieg der CO2-Emissionen, erstmals seit drei Jahren verpestet die Menschheit wieder mehr ihre Lebensgrundlagen. Und das im Jahr zwei nach dem bejubelten Accord de Paris. Auch Deutschland trägt sein schmutziges Scherflein bei, der Verkehr, also PKW, LKW und andere Autos, stößt heute mehr statt weniger Klimagase als noch 1990 aus. Auch ist Deutschland dreckiger Braunkohleweltmeister, trotz Energiewende ist der Exportweltmeister weiter böser Bube des Klimawandels. Ein Klimawandel, der jährlich Hunderttausende durch Stürme, Fluten und Dürren tötet, vertreibt oder in Armut stürzt.

Berlin hat sich in Bonn bis auf die Knochen blamiert. Die Rechnung neoliberaler Tatenlosigkeit zahlen Mensch und Umwelt. Längst ist Deutschland kein Klima-Vorreiter mehr. Für gute Nachrichten sorgten andere. Trump zum Trotz kamen klimaschutzwillige Bundesstaaten der Vereinigten Staaten auf die Rheinwiesen. Eine Allianz von mehr als 20 Staaten, auch hier machte Deutschland mit dem Hinweis auf das Sondierungsgezerre nicht mit, versprach bis 2030 den letzten Kohlemeiler vom Netz zu nehmen. In den komplizierten UN-Klimaprozess-Dschungel konnten Frauen und Indigene Völker, die am härtesten von Klimawandelfolgen betroffen sind, eine kleine Schneise schlagen und sich mehr Rechte für Mitbestimmung und Unterstützung erstreiten.

Dass Klimaverhandlungen wichtig sind sollte niemand bestreiten. Ohne Verhandlungspoker, wie zäh und kleinteilig die Ergebnisse auch seien, wird es Klimagerechtigkeit nie geben. Werden die mächtigen Staaten die Regeln der Welt bestimmen, die reichen Länder keine Entschädigungen für Schäden gen Süden zahlen, keine Gelder für Deiche und Solarpaneele hergeben, Klimageflüchteten keinen Flüchtlingsstatus eingestehen, keine Anstrengungen unternehmen, auf Kohle, Gas und Erdöl zu verzichten. Auf die Politik aber sollte sich keiner verlassen dem Klimaschutz, Gerechtigkeit und Demokratie etwas bedeuten. Der Druck auf der Straße, in den Kohlegruben, Druck auf Energieriesen, Autoindustrie, Landwirtschaftsmultis und Immobilienwirtschaft muss mehr werden. System Change, not Climate Change, das muss der laute Slogan der nächsten Jahre sein.

Lorenz Gösta Beutin ist Landessprecher von Die Linke in Schleswig-Holstein und 2017 zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag eingezogen.

[Facebook Lorenz Gösta Beutin, 17.11.2017]

Wilhelm Neurohr: Kennt Bundespräsident Steinmeier nicht den Artikel 72 des Grundgesetzes?

Leserbrief zum Artikel „Wellness-Reise ins Pegida-Land“ (taz vom 15.11.2017) über Steinmeiers Reise nach Sachsen

Kennt Bundespräsident Steinmeier nicht den Artikel 72 des Grundgesetzes?

 

Der bislang nur schwach in Erscheinung getretene Bundespräsident Steinmeier, der am liebsten als „Neben-Außenminister“ weiterhin auf Staatsbesuche ins Ausland fährt, nun also auf Rundtour bei seinen Staatsbürgern in der sächsischen Provinz. Hier bleibt der maßgebliche Mitschöpfer der Agenda 2010 seiner neoliberalen Ideologie auf arrogante Weise treu: Er belehrt die Sachsen in den ländlichen Regionen darüber, dass man „Bahn und Post nicht verpflichten könne, unwirtschaftliche Dienstleistungen aufrecht zu erhalten“.- nach dem Motto:“Tut mir leid – kann man nichts machen“.

Wie bitte? Offenbar kennt „unser“ Bundespräsident nicht den Artikel 72 (2) des Grundgesetzes, der die Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land“ (vormals sogar „einheitliche“ Lebensverhältnisse) als Grundrecht garantiert. Die Verantwortung für „die Fläche“ ist ein Kernelement des Sozialstaates (Art. 20 GG).

Und das Raumordnungsgesetz des Bundes konkretisiert gleich im ersten Grundsatz: „Im Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und in seinen Teilräumen sind ausgeglichene soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse anzustreben“ (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 ROG). Länderverfassungen und Landesplanungsgesetze zitieren den Begriff ihrerseits und verpflichten sich damit zu einer entsprechenden Strukturpolitik und Entwicklung ihres Landesgebietes. Bund und Länder gewährleisten gleichwertige Lebensverhältnisse z. B. dadurch, dass sie die Aufgabenträger im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge zur Vorhaltung einer Grundversorgung verpflichten.

Laut Steinmeier haben jedoch rein betriebswirtschaftliche Erwägungen (der mit sozialdemokratischer Zustimmung  privatisierten bzw. privatrechtlich organisierten Staatsbetriebe) Vorrang vor der staatlichen Daseinsvorsorge für die Bevölkerung? Folglich war er Mitbefürworter der Privatisierung von Post und Bahn, die 1994 unter der letzten Kohl-Regierung begann und dann unter der rot-grünen Schröder-Regierung konsequent weiter betrieben wurde – mit Steinmeier als Chef des Bundeskanzleramtes von 1999-2005 und danach als Kabinettsmitglied bis 2017. Zwischen 2006 bis 2009 ließ die Regierung Merkel als große Koalition (mit Kabinettsmitgliedern Steinmeier, Müntefering, Gabriel und Steinbrück) der Bahn AG unter Chef Mehdorn freie Hand und gab ihren Segen für die vollständige  Bahn-Privatisierung mit Börsengang an, die dann aber scheiterte und vertagt wurde. Doch alle Vorbereitungen waren bereits getroffen.

Mit der fatalen Folge, dass seither etwa die Hälfte aller Bahnstrecken im ländlichen Raum stillgelegt und Bahnhöfe an Privatinvestoren verkauft wurde und vergammeln  – und damit die grundgesetzlich garantierte Versorgung in der Fläche beendet wurde – anstatt etwa durch eine Mischkalkulation mit lukrativen Bahnstrecken die ländlichen Streckenabschnitte zu subventionieren. Tochterunternehmen wurden vollprivatisiert und Bahninfrastruktur als „Volksvermögen“ an Private verschleudert.

Die privatrechtlich organisierte Bahn erhält übrigens trotzdem mit über 10 Mrd. € mehr staatliche Zuschüsse als die vormalige bestens  funktionierende staatliche „Beamtenbahn“, die man für „unwirtschaftlich“ erklärte  – aber die heutige unzuverlässige „Bahn AG“ erfüllt nicht mehr ihren gesetzlichen Versorgungsauftrag, weil der Staat als Alleineigentümer darauf verfassungswidrig nicht besteht.

Ähnlich war es bei der 1994 privatisierten Bundespost – der damals größte Arbeitgeber in der Bundesrepublik mit einer halben Mio. Beschäftigten – als  „Deutsche Post AG“, die sogleich die Filialen in der Fläche schloss und die Briefkästen abmontierte sowie den Service einschränkte, dafür aber die Gebühren drastisch erhöhte.

Über 40 Jahre lang wurde in der Bundesrepublik der zitierte Artikel 72 GG zur gleichwertigen Daseinsvorsorge in der Fläche konsequent eingehalten und nicht in Frage gestellt – von der Regierungs-Ära Adenauer und Erhard über Kiesinger, Brandt und Schmidt bis zu den Anfängen von Kohl. Der neoliberale Privatisierungswahn nahm erst so richtig Fahrt auf unter den Agenda-Politikern Schröder, Steinmeier & Co.

Und nun stellt sich Steinmeier als Bundespräsident im Pegida-Land Sachsen achselzuckend vor sein Staatsvolk in der Provinz und  bedauert, dass der Staat ja nun nichts mehr machen könne, weil es nunmehr nur noch um betriebswirtschaftliche Erwägungen gehe. Er hat nicht einmal mitbekommen, dass es längst politische Erwägungen gibt, auch die jungen Hausärzte mit staatlichen Anreizen für die ländlichen Regionen zu gewinnen, da „man sie nicht zwingen kann“. Denn auch das öffentliche Gesundheitswesen wurde weitgehend privatisiert.

Steinmeier hat den Weckruf in Sachsen und in ganz Deutschland nicht gehört, sonst würde dieser blasse Bundespräsident endlich mal ein paar Ruck-Reden halten zugunsten der Überwindung der ungleichen Reichtumsverteilung und der Armut von einem Viertel der Bevölkerung und drohender Armutsrenten, für mehr Steuergerechtigkeit oder auch einen Appell an die zögerliche Regierung zugunsten des Klimaschutzes gegen die Lobbyisten.

Doch das ist von diesem überzeugten Anhänger der Agenda-Politik nicht zu erwarten, der lieber Autogrammstunden beim „Bad in der Menge“ in der sächsischen Provinz gibt und glaubt, damit dem Rechtsruck bei den Frustrierten zu begegnen. Doch ein Präsident der Bürger und der Herzen kann er damit niemals werden, auch wenn die Medien versuchen, ihn „sympathisch rüberzubringen“, und sei es mit der rührseligen Story von der Nierenspende an seine Frau. Aus den Armutsregionen gäbe es noch viel rührseligere Geschichten – aber leider hat eine betriebswirtschaftliche Grundgesetz-Interpretation neuerdings Vorrang?

Wilhelm Neurohr (Haltern am See)

Tisa von der Schulenburg (um 1980)
Zeichnung von Tisa von der Schulenburg (um 1980) mit einem Gedicht von Ernesto Cardenal 

Tisa von der Schulenburg (*1903 als Elisabeth Karoline Mary Margarete Veronika Gräfin von der Schulenburg) war die Tochter des preußischen Generals und späteren SS-Obergruppenführers Friedrich Bernhard Graf von der Schulenburg und die Schwester von Fritz-Dietlof, der dem Widerstandskreis um Graf von Stauffenberg angehört hat und nach dem misslungenen Hitler-Attentat hingerichtet worden ist. Tisa war schon sehr früh eine politisch engagierte linke Künstlerin. Im Mittelpunkt ihres Werkes (Zeichnungen, Grafiken, Skulpturen und Schriften) stehen der Bergarbeiter, Arbeitslose, Verfolgte, Flüchtlinge: Menschen, die unter den sozialen Verhältnissen leiden, und antifaschistischer Widerstand. 1949 konvertierte Tisa zum katholischen Glauben und starb 2001 als Schwester Paula im Dorstener Ursulinenkloster.

Ernesto Cardenal (*1925) ist katholischer Priester, Befreiungstheologe, Politiker und Dichter. Er war von 1979 bis 87 Kulturminister von Nicaragua.

Ich habe Tisa um 1980 in Dorsten besucht und eine Ausstellung mit Zeichnungen von ihr in der Stadtbücherei Recklinghausen organisiert. Als Dank dafür hat sie mir dieses Bild geschenkt.