Siegmar Gabriel schmeißt hin, beerbt Frank Walter Steinmeier in der Rolle des Außenministers und präsentiert seinen Parteifreund Martin Schulz, der es bei den Sozialdemokraten als Kanzlerkandidat und auch als Parteivorsitzender nun richten soll. Die Bundesfraktion der SPD ist oben auf, und Martin Schulz hält eine eindrucksvoll Rede im Berliner Willy-Brandt-Haus.
Aber reicht das schon aus, um die Bundestagswahl am 24. September in diesem Jahr zu gewinnen und Angela Merkel vom Posten der Bundeskanzlerin zu verdrängen? Was müsste verändert werden, damit die Wählerinnen und Wähler wieder Vertrauen in eine sozialdemokratische Politik der SPD gewinnen und ihren Kanzlerkandidaten nach Kräften unterstützen? Oder bleiben am Ende wieder nur salbungsvolle Worte übrig ohne grundlegende Veränderungen, ohne weitreichende Verbesserungen für diejenigen, die ausgegrenzt sind durch die Agenda 2010, die die SPD unter ihrem Kanzler Schröder zu verantworten hat, durch Hartz IV, durch Arbeitslosigkeit, durch prekäre Arbeitsverhältnisse, durch Minijobs, von denen man nicht leben kann, durch Rente, die zum Leben nicht reicht, oder durch Rente erst mit dem 67. Lebensjahr?
Antworten hierauf zu geben versucht Siegfried Born als kritischer Beobachter der SPD, die sich seit Willy Brandt sehr stark verändert hat zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und zu Gunsten der Wirtschaft, der Unternehmerschaft und der Großkonzerne hier in Deutschland.
Martin Schulz will mehr Zeit für Gerechtigkeit und
das Vertrauen zurückgewinnen
Martin Schulz hat davon gesprochen, dass es wieder gerecht zugehen müsse, und er meinte damit den so genannten kleinen Mann/die kleine Frau in unserer Gesellschaft, der/die trotz Arbeit so wenig Geld überwiesen bekommt, dass am Ende des Monats kaum die Miete oder andere Kosten bezahlt werden können. Ja, möchte man sagen, da hat Martin Schulz so Recht! Aber allein das Wort Gerechtigkeit in den Mund zu nehmen und so zu tun, als habe er Verständnis für die ungerechte Situation des kleinen Mannes/der kleinen Frau reichen bei weitem nicht aus. Es müssen Taten folgen, die diese prekäre Situation von Millionen von Menschen in Deutschland verändern. Wenn von Gerechtigkeit die Rede ist, dann muss sich Martin Schulz die Frage gefallen lassen, weshalb er zuzeiten der Agenda 2010 unter Gerhard Schröder (genannt auch: Kanzler der Bosse) die enormen Einschnitte gegen die Arbeitnehmer bzw. gegen die Arbeitslosen mitgetragen hat. Wenn von Gerechtigkeit die Rede ist, dann muss sich Martin Schulz die Frage gefallen lassen, weshalb die Arbeitnehmer in Deutschland Lohnsteuer zahlen müssen (wird ihnen direkt vom Lohn einbehalten), während die Unternehmen wenig oder gar keine Steuern zahlen (Stichwort: Steuergerechtigkeit). Ob er so das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen kann? Wohl kaum!
Schulz, Steinmeier und Clementwaren Architekten der Agenda 2010
Jetzt so zu tun als habe die ungerechte Agenda 2010 und die schrecklichen Auswirkungen für die Betroffenen nichts mit ihm zu tun, ist mehr als heuchlerisch. Auch Frank Walter Steinmeier, der alsbald neu gewählte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, hat maßgeblichen Anteil an der Architektur der Agenda 2010, die die Arbeitslosen bekämpfte, nicht aber die Arbeitslosigkeit. Und der damalige Superminister Wolfgang Clement in der Bundesregierung unter Schröder hatte doch tatsächlich geglaubt, dass die Zusammenlegung der Aufgaben der seinerzeitigen Sozialhilfe (örtliche Sozialhilfeträger) mit der Verwaltung der Arbeitslosen (Arbeitsamt) einen, wie er es nannte, „Synergieeffekt“ bringen würde, um so den betroffenen Menschen besser, schneller und unbürokratischer helfen zu können. Dabei hat er aber vor allem an die Sanktionen gedacht, die die späteren Arbeitsagenturen und heutigen Jobcenter gegenüber ihren „Kunden“ aussprechen konnten, denn nach seiner Sicht waren die meisten Arbeitslosen nur zu faul, einer geregelten Arbeit nachzugehen, was bestraft werden musste.
Sozialdemokratie = Für Großunternehmen und Konzerne-
gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Der Bazillus des neoliberalen Kapitalismus, von dem sich die Sozialdemokraten haben infizieren lassen, war ausschlaggebend für die zahlreichen negativen Veränderungen, unter denen heute noch Millionen von Betroffenen zu leiden haben. Jetzt so zu tun, als habe er, Martin Schulz, mit alledem nichts zu tun, und eine Rede halten, als sei er der Heilsbringer einer ganz anderen Partei, ist mehr als frech und heuchlerisch zugleich. Die beste Rhetorik über die „hart arbeitenden Menschen, die sich an die Regeln halten“, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die Sozialdemokraten waren, die, wenn sie in Regierungsverantwortung waren, sich stets für die Großunternehmen und Konzerne stark gemacht haben, aber nicht für die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Rente erst mit dem 67. Lebensjahr
Ein gewisser Franz Müntefering hat als Bundesarbeitsminister das Renteneintrittsalter vom 65. Lebensjahr auf das 67. Lebensjahr angehoben mit der Begründung, wir Menschen würden immer älter werden (demografischer Wandel) und dass die Rentenzahlungen ansonsten nicht mehr finanzierbar wären. Wohl wissend, dass schon damals die meisten Arbeitnehmer kaum das normale Renteneintrittsalter von 65 Jahren erreichten und deshalb früher aus gesundheitlichen Gründen aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen, hatte die Bundesregierung das Gesetz auf den Weg gebracht, unter dem heute und künftig viele Millionen Arbeitnehmer zu leiden haben werden. Zudem kommt noch, dass in den nächsten Jahren das Rentenniveau immer geringer sein wird (Absenkung auf bis zu 42 %), so dass die heutigen Geringverdiener jetzt schon damit rechnen müssen, später eine Rente zu erhalten, die zum Leben nicht wird reichen können. Altersarmut ist vorprogrammiert. Ob das wohl was mit Gerechtigkeit zu tun hat?
Keine guten Löhne und sichere Jobs
Wenn Martin Schulz von „guten Löhnen und sicheren Jobs“ spricht, weiß er, wie die Realität in Deutschland aussieht. Denn hunderttausende Jobs sind geprägt von prekärer Situation, d. h. es werden keine „guten Löhne“ gezahlt, die die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bekommen für ihre oftmals täglich harte Arbeit, sondern es sind entweder Mindestlöhne (dann aber für mehr Stunden) oder es sind Löhne, weit unter der Mindestlohngrenze, so dass die Betroffenen ergänzende Sozialhilfe beantragen müssen. Ob das wohl was mit Gerechtigkeit zu tun hat?
Nur Worthülsen und am Ende Ministerposten
Immer mehr soziale Errungenschaften aus früheren Jahren haben die Sozialdemokraten stückweise zurückgenommen oder verschlechtert oder waren verantwortlich für derlei Gesetzesinitiativen. Wenn Martin Schulz als Kanzler der künftigen Regierung gewählt werden will, muss sich in den nächsten Tagen und Monaten vieles verändern, um Glaubwürdigkeit und Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Aber es ist kaum anzunehmen, dass sich die Sozialdemokraten, dass sich die Entscheidungsträger innerhalb der SPD derlei deutlich und klar positionieren werden und eine echte Kehrtwende vollziehen. Nach der Wahl wird sich Martin Schulz sicherlich, so kann man heute vermuten, das Amt eines Bundesministers inne habend, am Kabinettstisch der erneut gewählten Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederfinden.
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