ASPEKTE EINER ÖKOLOGISCHEN POLITIK. Essay (1988)

1.1. Ist es bereits zu spät? Ist die Zerstörung unserer Erde schon zu weit fortgeschritten, um ein Verschwinden der Gattung Mensch noch verhindern zu können?
Immer mehr Tier- und Pflanzenarten sterben aus. Auf der nördlichen Erdhalbkugel sind ganze Wälder krank. Und dort, wo ein Überleben der Bäume noch möglich wäre, in den Tropen, werden die Regenwälder durch radikalen Raubbau vernichtet, jährlich eine Fläche fast so groß wie die Bundesrepublik. Während in unseren Breiten Lufttemperatur und Niederschlagsmenge von Jahr zu Jahr zunehmen, versteppen, verkarsten, vertrocknen immer größere Gebiete im nördlichen Afrika, in Arabien, in Zentralasien, in den USA und in der UdSSR. Die Wüsten breiten sich aus. Das Loch im Ozongürtel über der Antarktis weitet sich aus; es ist bereits so groß wie Nordamerika. Eine Klimakatastrophe kündigt sich an: der Treibhauseffekt. Luft, Wasser, Boden sind g l o b a l vergiftet und verseucht, Futter- und Lebensmittel denaturiert, die pflanzlichen durch Chemie und Gentechniken, die tierischen (Fleisch, Milch, Eier u. dgl.) zusätzlich durch pharmakologische Eingriffe, die am lebenden Tier, besonders in den Massentierställen, vorgenommen werden.
Jahr für Jahr wird allein in der Bundesrepublik eine Fläche von der Größe des Bodensees durch Asphalt und Beton versiegelt: unsere natürliche Umwelt…
„Überall, wo der Weiße Mann die Erde berührt hat, ist sie wund.“ Eine alte Indianerin.
Industrielle Gewalt. Die Produktivkräfte, die der Weiße Mann entfesselt hat, sind in Destruktivkräfte umgeschlagen. Der gekaufte – nicht der freie – Intellekt bestimmt den Kurs der wissenschaftlich-technischen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung. Er bestimmt ihn nach der Logik des Profits; während der bürokratische Sozialismus, ganze Regionen von Ökosystemen zerstörend, vor allem in Sibirien, hinter dem Kapitalismus herläuft.
Diese Beschreibung ließe sich fortsetzen; aber wissen wir das nicht längst? – und verhalten uns dennoch so, als wüssten wir nichts… So groß ist die Angst?

Belastende Gedanken werden wir nicht dadurch los, dass wir sie, wie die Gedanken an den eigenen Tod, wann immer sie auch auftauchen, sofort wieder aus dem Bewusstsein verdrängen. Wenn wir also das Ende unserer Gattung durch einen ökologischen Kollaps, eine atomare Katastrophe oder durch die Gen-Techno“bombe“ für unabwendbar halten, dann gibt es nur noch seelsorgerische Probleme. Dann brauchen wir uns nur noch um den geistlichen bzw. psychotherapeutischen Beistand zu kümmern. Vielleicht bleiben ja einige wenige von uns, wie von den Dinosauriern die Quastenflosser, übrig.
Wir verhalten uns wie Autofahrer, die bei dichtem Nebel ihre Augen schließen, das Gaspedal durchtreten, um da schneller hindurch zu kommen, und das Weitere dem Lieben Gott oder einem Schutzengel überlassen. Falls es dann noch ein Erwachen aus der Narkose gibt, heißt es: Der Nebel war daran schuld.

Wenn wir entgegen allem bisher Gesagten noch einen Funken Hoffnung haben, weil es nicht nur irreversible Entwicklungen gibt, die unausweichlich zur Selbstvernichtung ihrer Verursacher führen, sondern auch Sprünge, Quantensprünge, unvorhersehbare Geschehnisse, Prozesse, die unserer linear-mechanischen Logik widersprechen, – die Kernphysik lehrt, dass es sie gibt, dann haben wir keinen Grund zur Resignation.

Wir sind durch unser Verhalten, durch unsere Lebensweise für die Ausplünderung und Zerstörung des Planeten Erde mit verantwortlich. Deshalb ist es, unabhängig davon, wie wir unsere eigenen Überlebenschancen einschätzen, eine Frage der Selbstachtung, ob wir wenigstens versuchen, und zwar mit aller uns Menschen möglichen Ausdauer und Intelligenz, das industrielle Gewaltpotential abzubauen, indem wir unsere expansionistische, aggressive, destruktive Produktions- und Lebensweise aufgeben, damit die Natur sich erholen, sich regenerieren kann.
Es gibt keine innere Notwendigkeit dafür, dass der Mensch immer wieder versucht, die Grenzen der Machbarkeit über den Rand aller endlichen Existenz auszuweiten. Technik kann die Natur nicht vollständig ersetzen. Selbst der Computer braucht jenen Teil des Nervensystems, der sich im Schädel des Menschen befindet: dessen Gehirn. Er braucht die Natur, um zu funktionieren.
Aber wir haben uns mit eben diesem Gehirn von unserer Naturhaftigkeit weit entfernt. Wir verleugnen unsere eigene Natur. Erst wenn Schmerzen, wenn eine Krankheit oder Verletzung, wenn Kopf- oder Bauchschmerzen zum Beispiel darauf aufmerksam machen, erinnern wir uns daran. Und was fällt uns dann ein? Zunächst einmal nichts anderes als die pharmazeutische Industrie: die Schachtel mit den Pillen: Chemie.

1.2. Die technisch-industrielle Entwicklung mit solch verheerenden Folgen hat nicht in Asien, nicht in Australien, nicht in Afrika, nicht im alten Amerika begonnen, sondern im Europa des 16./17. Jahrhunderts. Das ist kein Zufall. Denn hier auf unserem Kontinent entstand damals ein Weltbild, das zum Bruch mit allen bislang die Natur schützenden Tabus geführt hat. Es entstand in den Köpfen von Männern, die noch heute als die Begründer, als die Väter der modernen Wissenschaft gefeiert werden.
Da schrieb Anfang des 17. Jahrhunderts ein nobler Herr in England, wo soeben die Hexenprozesse verschärft wurden, man solle die Natur „auf ihren Irrwegen mit Hunden hetzen“, sie „sich gefügig und zur Sklavin machen“, sie „unter Druck setzen“, sie „auf die Folter spannen, bis sie ihre Geheimnisse preisgibt“.
Sir Francis Bacon (1561-1626) hieß dieser Gentleman. Ihm kam es darauf an, „die Macht und die Herrschaft des menschlichen“ – männlichen?! – „Geschlechts über die Gesamtnatur zu begründen und zu erweitern“.
Ein Zeitgenosse Bacons in Italien sah „das Buch der Natur in mathematischen Lettern geschrieben“, in Dreiecken, Kreisen, Quadraten, Kugeln: Galileo Galilei (1564-1642). Er reduzierte, von der katholischen Kirche in die Enge getrieben, Wissenschaft auf einen mechanistischen Materialismus, der alles, was nicht messbar, nicht quantifizierbar, was nicht mathematisch, nicht logisch-linear erfassbar ist, als unwissenschaftlich auch heute noch ausschließt. So verhalf er der Kopernikanischen Hypothese, wonach die Erde sich um die Sonne und um sich selber dreht (was die Chinesen längst wussten, mindestens seit Tschuangtse, gestorben um 275 v. u. Z.), zur wissenschaftlich begründeten Theorie.
Noch einen Schritt weiter in das Labyrinth solcher Wissenschaft hinein ging ein Franzose: „Meine gesamte Physik ist nichts weiter als Geometrie.“ Und: „Ich sehe keinen Unterschied zwischen Maschinen, die von Handwerkern hergestellt wurden, und den Körpern, die allein die Natur zusammengesetzt hat.“ Und: „Für mich ist der menschliche Körper eine Maschine.“ So verglich er denn auch „einen kranken Menschen und eine schlecht gemachte Uhr mit“ seiner „Idee von einem gesunden Menschen und einer gut gemachten Uhr“. (!)
René Descartes (1596-1650) war es, der damit damals auch der Medizin den Blick so verengt hat, dass 300 Jahre später Sigmund Freud sogar seelisch-geistige Prozesse mechanistisch zu erklären versuchte.
Der Philosoph, der daraus, dass er (nach-)dachte, schloss, dass er lebt, sah, wie Bacon, Sinn und Zweck wissenschaftlicher Forschung darin, „uns“ – die Männer?! – „zu Herren und Besitzern der Natur zu machen“.
Isaac Newton (1643-1727) schließlich vollendete die kartesianische Weltmaschine zu einem in sich geschlossenen mathematischen System des Universums. Damit war der Dualismus von Geist und Materie, von Subjekt und Objekt besiegelt und die gesamte Wissenschaft für die nächsten Jahrhunderte auf eine materialistisch-mechanistische, monokausal-deterministische und reduktionistische Weltsicht festgelegt. Einer der schärfsten Gegner solcher Reduktion der Komplexität des Lebens auf Mechanik war übrigens – Goethe!
Die Natur wurde – wie die Frau zum Lustobjekt des Mannes – zum bloßen Forschungsobjekt.
Ganzheitlich orientierte Wissenschaft spaltete sich in mehr oder minder isolierte Einzelwissenschaften auf. Die ersten „Fachidioten“ wurden „geboren“, jener Typ des Wissenschaftlers, der mit eingeengtem Blick von immer weniger immer mehr zu erforschen versucht, dabei jedoch übersieht, dass jedes aus seinem ursprünglichen Gesamtzusammenhang herausgelöste Einzelteil, Element, „Bausteinchen“, Organ u. dgl. seinen Zustand, seinen Charakter, seine Qualität ändert.
Dies sind sicherlich nicht die einzigen, aber doch wohl wesentliche Faktoren, die zur Entfesselung der technisch-industriellen Entwicklung geführt haben und damit zu hemmungsloser Ausbeutung und Manipulation, zu den verstümmelnden und tödlichen Eingriffen in das Leben von Pflanze, Tier und Mensch, in die globalen Lebenszusammenhänge.

1.3 Unser Kulturverständnis ist auch heute anthropozentrisch (d.h. der Mensch gilt als Mittelpunkt, Sinn und Zweck des Seins, wobei das religiöse Überich GOTT als moralische Hypothese dient). Danach definiert sich der Mensch als Kulturwesen durch die Fähigkeit, Natur zu beherrschen, sie sich anzueignen, sie seinen Bedürfnissen anzupassen, sie zu „kultivieren“.
Daraus erklärt sich, weshalb immer erst etwas unternommen wird, wenn eine lebensbedrohliche Gefährdung einer gewissen Anzahl von Menschen nicht mehr übersehbar ist. Und das sind dann „Umweltschutzmaßnahmen“.

1.4. Ökologie auf Umweltschutz reduziert: die Natur reparierbar wie eine Maschine; beim Menschen lässt sich ja auch die „Pumpe“, das Herz, auswechseln, die Hand durch einen mechanischen Apparat ersetzen und nach den verabreichten Medikamenten – chemischen Produkten -, die „anschlagen“, eine Krankheit bestimmen. Oft folgt dann allerdings eine nach der anderen: wenn jedes dieser – harten – Medikamente „Nebenfolgen“ hat und das ökologische Gleichgewicht des Menschen stört.
So entsteht der Eindruck, die pharmazeutische Industrie sorge für immer mehr Krankheiten, um das Geschäft zu beleben. Jedenfalls trägt sie dazu bei, dass das „Spektrum“ der Krankheiten erweitert, der erkrankte Mensch, das erkrankte Tier jedoch immer mehr aus den Augen verloren wird. Es sind, genau genommen, die Symptome ein und derselben Krankheit, die wandern. Denn krank ist der ganze Mensch, nicht das Herz, die Leber, die Schilddrüse, der Darm usf..
„Umweltschutz“- gewiss, dieser Begriff wäre angebracht, wenn es darum ginge, die Welt um uns herum vor uns, vor den Menschen, zu schützen. Ein Gedanke, der, zu Ende gedacht, uns, den Menschen, als den gefährlichsten Schädling auf dem Planeten Erde entlarvt. Aber das haben die Politiker, die vom „Umweltschutz“ reden, ja wohl kaum gemeint. Sie sind nahezu alle Anthropozentriker und verstehen die Rolle des Menschen eher als die eines Mechanikers der (kartesianisch-newtonschen) Weltmaschine denn als Behüter/in und Beschützer/in allen Lebens, wie Albert Schweitzer es gefordert hat.

2.1. Mit „Umweltschutz“-Techniken allein ist nichts zu retten. Notwendig sind viel tiefer greifende Veränderungen: Wir müssen unser Kulturbewusstsein, das uns der Natur – auch der eigenen, menschlichen – entfremdet hat, mit unserem älteren Naturbewusstsein wieder verbinden, d.h. wir müssen uns unserer Natur und damit unserer Eingebundenheit in das natürliche mikro- und makrokosmische Geschehen wieder bewusst werden.
„Der Mensch ist abhängig von der Erde.“
Laotse (*604 v. u. Z.) Er bezog den Menschen in den natürlichen Stoffwechsel mit ein. Er lehrte, ökologisch zu denken und zu leben. Er dachte in Kreisläufen. Wir denken linear und bemerken dabei nicht einmal, wie unzulänglich unsere Sprache ist.
Schon im alten China war, wie jede Tendenz zur Überbewertung einer einzigen Erkenntnismethode, auch der Reduktionismus Gegenstand der Kritik:
„Der Nachteil, die Dinge als getrennte Dinge zu betrachten, ist der, dass, wer zu zerschneiden und zu analysieren anfängt, versucht, erschöpfend zu sein. Der Nachteil des Versuches, erschöpfend zu sein, ist, dass er bewusst (mechanisch) erschöpfend ist. Man gräbt immer tiefer und tiefer, vergisst die Rückkehr und sieht ein Gespenst (nur das Äußere der Dinge). Oder man geht weiter und meint, man habe es – und was man dann hat, ist nur en Lechnam Denn ein Ding, das seine Substanz behält, aber die magische Eigenschaft des Lebens verloren hat, ist bloß ein Gespenst (der Wirklichkeit).“
Tschuangtse (gestorben um 275 v. u. Z.) Schüler und Interpret Laotses. (Ergänzungen in Klammern von Lin Yutang)
Und im alten Europa: „Die Macht und die Majestät der Natur in all ihren Aspekten kann niemals wahrgenommen werden von dem, der sie nur in ihren Teilen und nicht als Ganzes betrachtet.“
Plinius d.Ä. (23/4-79 n. u. Z.).
Zu Lebzeiten Descartes und Newtons war es vor allem eine Frau, die, ohne die bleibenden wissenschaftlichen Leistungen dieser beiden Mathematiker, Physiker und Philosophen zu schmälern, deren Grenzen intuitiv erkannt und benannt hat: „Und trotzdem ist die Wirkungsweise der Natur weit mehr als bloß mechanisch… wie eine Uhr, in der kein lebendiges Prinzip der Bewegung ist; sondern ein lebendiger Körper, mit Leben und Empfindungen, welcher Körper weit sublimer ist als ein bloßer Mechanismus oder mechanische Bewegung.“
Anne Finch, Vicomtesse von Conway, Lady Conway genannt (1631-1679), eine englische Feministin. Ihr philosophisches Werk ist erst elf Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht d.h. mehr als elf Jahre lang totgeschwiegen worden, ebenso ihr Name eine noch weit längere Zeit, weil sie eine Frau war.
Achtung vor allem Leben, nicht um des Menschen willen, sondern weil es so selbstverständlich ist, dass es keiner Begründung bedarf, – in dieser Haltung manifestiert sich die ökologische Weisheit auch in den indianischen Kulturen:
„Die Menschen, die auf dieser Erde leben, müssen mit der engen Vorstellung von der Befreiung des Menschen brechen und beginnen, Befreiung als etwas zu sehen, das wir auf die ganze natürliche Welt ausdehnen müssen. Was wir brauchen, ist die Befreiung aller Dinge, die das Leben erhalten – die Luft, die Gewässer, die Bäume, – aller Dinge, die als heilige Gewebe das Leben erhalten.“
Aus einer Botschaft der Irokesen, in unseren Tagen.
Dies ist ein politischer Auftrag, wie ihn nur Völker, die der Natur näher sind als wir Kinder einer Industriegesellschaft, erteilen können; Menschen, deren Wahrnehmungsvermögen noch nicht verkümmert, noch nicht reduziert ist, wie bei uns; die noch ein Gespür haben für das Mysterium des Lebens und damit auch für die Fragwürdigkeit aller wissenschaftlichen Erklärungen.
– Und haben sie nicht seit Jahrhunderten Recht behalten mit ihren Anschauungen und ihren über lange Generationsketten weitergereichten Erfahrungen?
„…mit den engen Vorstellungen von der Befreiung des Menschen brechen und beginnen, Befreiung als etwas zu sehen, das wir auf die ganze natürliche Welt ausdehnen müssen… Befreiung aller… Dinge, die als heilige Gewebe das Leben erhalten“: das weist über Marx, Engels, Lenin, über den Alt- und den Neo-Marxismus hinaus auf die spirituellen (geistigen) Dimensionen der Politik, die uns in einer Welt plakativer Plattheiten verborgen geblieben sind.
Die soziale Frage wird hier übrigens nicht negiert. Sie wird in die Ökologie integriert. So sind alle Probleme, eben auch die sozialen, denen wir, ganz gleich, auf welcher Ebene, begegnen, alle Themen, die wir politisch aufgreifen, Teilaspekte globaler, komplexer Lebenszusammenhänge, Aspekte eines dynamischen, unteilbaren Ganzen; des planetarischen Ökosystems, das durch technokratische Systeme, deren Endprodukte die Atombombe und die Gen-Techno“bombe“ sind, gefährdet ist.
In dieses planetarische Ökosystem eingebunden sind alle anderen Ökosysteme, ist auch das menschliche Leben. So hängt alles miteinander zusammen und voneinander ab.
Das Gleichgewicht eines Ökosystems besteht durch Komplementarität *); ein Begriff, den der Physiker Niels Bohr zum besseren Verständnis des Doppelaspektes subatomarer Prozesse der „Materie“ eingeführt hat.
[*) Ergänzung, Ergänztheit]

Dieses ökologische Prinzip der Komplementarität, nach welchem im Atom, im planetarischen Ökosystem, in allen Ökosystemen eine Stabilität dynamischen Gleichgewichts erhalten bleibt, ist ein Lebensprinzip, den Chinesen seit jeher vertraut. Nichts versinnbildlicht dies wohl besser als das Ying-Yang-Symbol:   yinyang

Es ist sicherlich kein Zufall, dass bei der Erforschung dessen, „was die Welt zusammenhält“, Jahrtausende altes Wissen, intuitiv erworben, nun im 20.Jahrhundert bestätigt werden konnte: durch Atomphysiker, als sie sich vor Problemen sahen, die mit Descartes und Newton – durch Reduktion auf Mechanik und Chemie – nicht zu lösen waren.
So wurde von Max Planck, Albert Einstein, Werner Heisenberg und Niels Bohr ein für unser bisheriges, zu enges Wissenschaftsverständnis revolutionärer Umdenkungsprozess eingeleitet, eine offenbar sehr schwierige Geburt, die 1900 mit der Quantentheorie begann, 1905 mit der speziellen und 1916 mit der allgemeinen Relativitätstheorie sich fortgesetzt hat und deren Konsequenzen für uns alle noch nicht so recht erkannt worden sind, heute, 1988.

2.2. Aus ökologischer Sicht ist eine Familie, ein Volk, die Gesellschaft, eine politische Partei, also eine Organisation von Menschen ein lebender Organismus, ein dynamisches, komplexes Ganzes von zugleich emotionalen, geistig-gedanklichen und physischen Beziehungen zwischen Menschen.
Solch ein Sozialsystem ist intakt, wenn diese Beziehungen kooperativ, frei von jeglicher Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung, Bevormundung und anderen die Lebensrechte von Menschen einengenden, verletzenden, zerstörenden Denk- und Verhaltensweisen sind; eine utopische Vorstellung und daher eben eine Zielvorstellung, am ehesten zu realisieren in der Familie.
Eine Annäherung an dieses Ziel ist weder durch staatliche Gewalt noch durch oppositionelle Gegengewalt erzwingbar. Wie uns die historische Erfahrung lehrt, sind humane, demokratische Verhaltensweisen nicht das Ergebnis gewaltsamer, blutiger Auseinandersetzungen zwischen Herrschenden und Beherrschten, nicht das Resultat von Klassenkämpfen, von Hass, (legalem und illegalem) Mord, Angst und Tränen, sondern sie sind Erfolge eines langen sozialen und politischen, eines kulturellen Lernprozesses, not-wendig mehr denn je in und zwischen den Völkern.
Wir müssen also lernen, ökologisch miteinander umzugehen: nach dem Prinzip der Komplementarität auch in einem Sozialsystem eine Stabilität dynamischen Gleichgewichts zu schaffen und zu erhalten. **)
Eine ökologische Anschauungsweise, ein ökologisches Weltverständnis, eine ökologische Politik, eine ökologische Lebensweise impliziert sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei.
ÖKOLOGIE ist ein ganzheitlicher Begriff.
In ihrer Begrenztheit und mitunter auch Borniertheit nicht ökologisch wären demnach selektive Wahrnehmung, eine isolierte und isolierende Betrachtungsweise und eine Politik, bei der Einzel- oder Gruppeninteressen vorherrschen, die Richtung bestimmen oder eine demokratische Konsensbildung verhindern.

[**) Das ist kein Naturalismus oder Biologismus, den Arno Klönne in seinen „Überlegungen zur sozialen Basis und politischen Philosophie der grünen Partei“ dieser unterstellen möchte. Das passt nicht in die Schublade des Soziologen. In soziologischen Kategorien lässt sich nicht philosophisch denken, geschweige denn Philosophie verstehen.
Die Soziologie liefert wichtige Erkenntnisse; aber sie möge die Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten zur Kenntnis nehmen und auch benennen und beachten.
Philosophie, die viel belächelte, stellt die Frage nach dem Sinn dessen, was wir empfinden, sehen, denken und tun. Es wäre verantwortungslos, diese Frage nicht mehr zu stellen.
(S. Von der Machbarkeit des Unmöglichen. Junius 1985. S.171 f.)]

2.3.1. Der subjektive Faktor: Mensch stelle sich vor, DIE GRÜNEN ließen in ihrem Büro die Pflanzen vertrocknen… Ihre politische Glaubwürdigkeit wäre dahin. Es ist wohl kaum der ehrliche, offene Streit in der Partei um den richtigen Weg, viel mehr hängt der politische Erfolg ab von der inneren Glaubwürdigkeit der in einer Partei wirkenden Menschen.

2.3.2. Der subjektive Faktor: Unsere kaputte Um- und Mitwelt als Spiegelbild unserer kaputten Innenwelt. Dann ist eine Selbsterneuerung des Menschen das primäre Problem.
Carlos Castaneda: „Ich kam aus Lateinamerika, wo Intellektuelle dauernd von politischer und sozialer Revolution redeten und wo viele Bomben geworfen wurden. Aber Revolution hat nicht viel geändert. Man braucht wenig Wagemut, um ein Gebäude zu bombardieren, aber um das Rauchen aufzugeben, um seine innere Angst zu bekämpfen oder um das innere Geschwätz zu beenden, muss man sich selbst neu formen. Hier beginnt die wirkliche Reform.“
(In: psychologie heute, Dez. 87)

2.3.3. Der subjektive Faktor: Die Selbsterneuerung des Menschen. Was hindert uns daran? Pessimismus? Sind wir Pessimisten? Pessimismus ist eine Anschauungsweise, die von unserer Optik abhängt.
Wenn wir Pessimisten sind, dann bleibt uns nur zu fragen: Warum eigentlich wechseln wir nicht die Optik? Warum ändern wir nicht unsere Perspektive und gewähren uns einen freien Blick? Was steht davor? Die Erfahrung individueller und kollektiver Ohnmacht? Das Gefühl der Unzulänglichkeit, des Unvermögens? Selbstmisstrauen?
Im Laufe von sieben Jahren erneuern sich alle Zellen unseres Körpers. Genauso nötig und möglich ist eine geistige, eine kulturelle Selbsterneuerung.
Wenn wir die Freiheit haben, uns selbst zu bestimmen und Entscheidungen zu treffen, dann können wir uns auch gegen den lähmenden, destruktiven Pessimismus und gegen den ihm zu Grunde liegenden Determinismus ***) entscheiden. Der Determinismus übrigens ist seit Planck, Einstein, Heisenberg und Bohr unhaltbar geworden.
[***) Glauben an die Vorherbestimmtheit „schicksalhafter“ Abläufe]

2.3.4. Der subjektive und kollektive Faktor: „Jede Ideologie ist Absicht und strebt ein Ziel an. Jede echte Haltung ist Einsicht und Substanzsicherheit: Sie trägt das Ziel in sich selber. Wer einem Ziel nachlaufen muss, ist diesem Ziel verfallen; dass er ihm nachläuft, macht nur deutlich, dass das Ziel oder die erstrebten Dinge vor ihm davonlaufen. Wer das Ziel in sich trägt, dem wenden sich die Dinge und Geschehnisse zu; seine Haltung gib auch den Dingen und Geschehnissen Halt.“
Jean Gebser (In: Neue Formen des Denkens)
L i t e r a t u r :

Callenbach, Ernest: Ökotopia. 1978.
Capra, Fritjof: Das Tao der Physik. Die Konvergenz von westlicher Wissenschaft und östlicher Weisheit. 1984/87. Wendezeit. 1985. Das neue Denken. 1987.
Ferguson, Marilyn: Die sanfte Verschwörung. 1982.
Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart. Neue Formen des Denkens. In: Gesamtausg. 1975-81. 1986.
Heisenberg, Werner: Physik und Philosophie, o.J.
Das holographische Weltbild. Hrg.: Ken Wilber. 1986.
Laotse, Hrg.: Lin Yutang. 1955.
Merchant, Carolyn: Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft. 1987.
Morgan, Robin: Anatomie der Freiheit. Feminismus, Physik und Weltpolitik. 1983/87.
Psychologie in der Wende. Hrg.: Roger N. Walsh u. Frances Vaughan. 1985.
Spretnak, Charlene: DIE GRÜNEN. Studie einer amerikanischen Aktivistin über die GRÜNEN und ein Bericht über grüne Politik in den USA. 1985.
Teilhard de Chardin, Pierre: Werke. 1962 ff.
Weizsäcker, Carl Friedrich von: Zum Weltbild der Physik. 1963. Descartes und die neuzeitliche Naturwissenschaft. 1966 u. a.

Nachtrag 1999:

Die Veröffentlichung dieses Essays 1988 in einer Alternativzeitung war ein Experiment. Die meisten Reaktionen darauf entsprachen denen der Schulmedizin auf die alternative, natürliche, ganzheitliche Heilkunde: Abwehrreaktionen mit den üblichen Klischees. Es ist offensichtlich sehr viel schwieriger, als ich angenommen hatte, Zusammenhänge wahrzunehmen, die sich nicht in den eingefahrenen eindimensional-linearen Denkkategorien beschreiben, vermitteln lassen und schon beim Lesen ein intuitives, kreatives (Mit-)Denken erfordern. Darauf aber kommt es an. Nicht zufällig daher das Gebser-Zitat am Schluss, eine ZEN- Erkenntnis, wie mir erst später klar geworden ist.
Damals begann ich, mich mit dem Buddhismus vertraut zu machen und Lehrreden des Gautama, sowie Zen-Literatur zu lesen; dabei wurde mir klar, dass Ganzheitlichkeit und Ökologie seit 2500 Jahren zur buddhistischen Lebenspraxis gehören!

© Dietrich Stahlbaum 1988. Alle Rechte vorbehalten.
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Ein Gedanke zu “ASPEKTE EINER ÖKOLOGISCHEN POLITIK. Essay (1988)

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